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Fünfundzwanzigstes Kapitel

In West-London herrschte allgemein ein sehr vernünftiger Brauch: wenn auf der Straße geschossen wurde, blieben die Einwohner in ihren Häusern. Diese stets befolgte Regel spricht sehr für den gesunden Menschenverstand der Bürgerschaft, denn ein paar Colts können selbst in den Händen von verhältnismäßig geübten Schützen ein erstaunlich großes Stück Erdboden abseits vom Ziel bestreichen, und Kugeln machen bekanntlich keinen Unterschied zwischen Schuldigen und Unschuldigen.

So lockten denn auch die Schüsse, die auf Mrs. Purleys Hof gefallen waren, keinen Mann herbei, wohl aber die wehrhafte Witwe selbst. Mit offenen Haaren, die umfangreichen Formen schamhaft verhüllt in ein wallendes Gewand, wie es auf den Provinzbühnen die Lady Macbeth zu tragen pflegt, kam sie aus der Hintertür herausgestürzt und eilte auf Devon zu, der neben seinem ohnmächtigen Gegner niedergekniet war.

»Verruchter Mordbube, hast du mir meinen Mieter umgebracht?« schrie sie, den Gummiknüppel schwingend. »Dir schlag ich den Schädel ein!«

Devon sah zu ihr auf – sie ließ die erhobene Hand sinken und starrte entgeistert ihn und sein Opfer an.

»Allmächtiger, das ist ja ›Hans im Glück‹, sagte sie. »Haben Sie ihn erschossen, Menschenskind?«

»Ich weiß nicht – er hat sich noch nicht wieder gerührt«, antwortete Devon. »Ich glaube, wir bringen ihn besser ins Haus hinein.«

»Jawohl, denn womöglich sind noch ein paar von seinen Freunden in der Nähe«, erwiderte die Witwe. »Los, nehmen Sie den Kopf, ich werd an den Füßen anfassen. Mein Gott, was der Junge für große Sporen hat!«

Sie hoben den Verwundeten auf und trugen ihn in die Küche, wo sie ihn vorerst einmal auf den Fußboden legten.

»Schlimm ist's nicht, was er abbekommen hat, auf keinen Fall genügend, um ihn zur Vernunft zu bringen«, stellte Mrs. Purley fest, nachdem sie ihn flüchtig gemustert hatte. »Er wird gleich wieder zu sich kommen. Ein verdammt hübscher Bengel ist er schon. Sieht man ihm nicht an, daß er der Bruder von Mabel Maynard ist? Na, dann passen Sie gut auf ihn auf, ich werde rasch den Sheriff holen.«

»Warten Sie doch lieber noch damit, das hat ja noch Zeit.«

›Hans im Glück‹ stöhnte jetzt und bewegte sich. Devon beeilte sich, ihm schleunigst seine Waffen fortzunehmen – zwei weitere Colts und ein sehr brauchbares Messer. Der Verletzte richtete sich mit einem Ruck auf, so daß Mrs. Purley drohend den Gummiknüppel hob und ihm befahl:

»Bleiben Sie sitzen, sonst schlag ich zu! Geben Sie ja auf ihn acht, Devon, der Bursche kann sicher auf die Hände springen, wie andere Leute auf die Füße.«

In der Tat hatte Devon noch nie einen Menschen gesehen, der eine so vollendete Verkörperung von Beweglichkeit und Behendigkeit gewesen wäre wie dieser junge Mann, der etwa zwei-, dreiundzwanzig Jahre alt sein mochte. Sein blondes Haar, das er nach der Sitte der alten Westleute bis auf die Schulter fallend trug, umrahmte ein Gesicht, das auch nicht einen Zug hatte, der auf einen verkommenen oder gar gewerbsmäßigen Verbrecher schließen ließ. In dem Blick, mit dem er Devon und den auf sich gerichteten Revolver musterte, lag allerdings etwas Herausforderndes, aber er hatte trotzdem etwas Offenes, Ehrliches und verriet, wie seine ganze übrige Erscheinung, eine nicht gewöhnliche Klugheit.

Obwohl er sich nicht rührte, sah man an der Art, wie seine Augen hin und her gingen, daß er die Möglichkeit, durch ein plötzliches Aufspringen zu entkommen, erwog. Devon, der ihn genau betrachtete, hatte den Eindruck, daß der Tod für »Hans im Glück« keinerlei Schrecken habe – offenbar war er ihm schon oft genug bis auf Tuchfühlung nahe gekommen.

»Ich glaube, Sie setzen sich besser auf den Stuhl da am Fenster«, sagte Devon zu ihm.

»Aber binden Sie ihn erst, bevor Sie ihm erlauben, sich zu rühren«, warnte Mrs. Purley.

»Er darf sich so auf den Stuhl setzen«, entgegnete Devon, und darauf erhob sich »Hans im Glück« und nahm auf dem angegebenen Stuhl neben dem Fenster Platz.

Von seiner Stirn tröpfelte das Blut herab, doch er beachtete die leichte Wunde gar nicht, sondern nickte Devon lächelnd zu und sagte:

»Ich wollte ihnen nichts Böses tun; mich hat nur der hohe Einsatz gereizt, um den das Spiel ging.«

»Das verstehe ich vollkommen«, entgegnete Devon, »und Sie haben ja auch um ein Haar gewonnen.«

»Ich? Nein, diesmal hat der bessere Mann gewonnen, und ich gebe mich vollkommen geschlagen. Mrs. Purley, Sie sind Zeugin, daß ich das ohne weiteres eingestanden habe.«

Die Witwe sah ihn erstaunt an.

»Wieso kennen Sie mich?« fragte sie.

»Sie sind doch stadtbekannt«, erwiderte er lachend, »und die Art, wie Sie mit mißliebigen Gästen abfahren, ist es nicht minder.«

»Ach, darum haben Sie sich wohl auch in meinem Lokal nie sehen lassen?«

»Es ist ein reiner Zufall, daß ich bisher Ihre Gastlichkeit noch nicht in Anspruch genommen habe, verehrte Mrs. Purley, aber ich will das Versäumte gleich nachholen. Würden Sie mir freundlichst eine Tasse Kaffee geben – denn, wenn ich nicht irre, ist es doch Kaffee, was in dem Topf auf dem Herde da dampft?«

Die liebenswürdige Verbindlichkeit, die er in seine Worte gelegt hatte, verfehlte ihre Wirkung nicht. Sichtlich geschmeichelt füllte Mrs. Purley einen großen Zinnbecher mit Kaffee und reichte ihn ihm.

»Sollten Sie diese heiße Flüssigkeit zu irgendeinem anderen Zweck gebrauchen wollen, mache ich Sie darauf aufmerksam, daß mein Revolver hier geladen ist«, warnte ihn Devon.

»Donnerwetter – sind Sie Gedankenleser?« fragte der Gefangene verblüfft. »Na – schließlich kann ich das Zeug ja auch trinken.«

Damit führte er den Becher zum Mund und leerte ihn schlürfend in kleinen Schlucken, gab ihn Mrs. Purley zurück und bat um die Erlaubnis, sich eine Zigarette drehen zu dürfen, was Devon, ihn scharf im Auge behaltend, gestattete.

»Wollen Sie mir verraten, wer Sie veranlaßt hat, mir die Stute zu stehlen?« fragte Devon, als die Zigarette brannte.

»Nehmen Sie etwa an, daß ich in irgend jemandes Diensten stehe?« erwiderte ›Hans im Glück‹ sichtlich empört.

»Jedenfalls wäre es doch mehr als merkwürdig, wenn Sie rein zufällig die Bestrebungen meiner Feinde unterstützen.«

»Aber es ist Zufall! Ich wollte das Tier haben, weiter nichts. Vielleicht hat auch ein bißchen Ärger darüber mitgesprochen, daß Sie plötzlich den Platz eingenommen haben, den ich bisher in West-London innehatte.«

»Na, darüber können Sie sich ja mit dem Sheriff unterhalten«, mischte sich Mrs. Purley ein, »denn ich denke, es wird nun Zeit, daß ich ihn hole.«

Ohne Devons Zustimmung abzuwarten, eilte sie hinaus – offenbar lag ihr daran, möglichst bald wieder in ihr Bett zu kommen.


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