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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Während sie noch einen Augenblick unschlüssig dastanden, drang ein langgezogener Pfiff an ihr Ohr, dem Ruf eines Vogels ähnlich. Devon, der diesen Pfiff nur zu gut kannte, fuhr zusammen und sagte:

»Hörst du, Jim? Das ist ihr Signal!«

»Dann werden sie wohl gleich angeschwirrt kommen«, erwiderte der Alte. »Ich glaube, wir ziehen uns lieber zurück.«

»Schön«, stimmte ihm Harry bei, »vorher aber will ich doch noch schnell mal zusehen, wohin der Weg dahinten führt. Komm mit, Walt!«

Während Jim die nähere Umgebung der Hütte in Augenschein nahm, eilten die beiden anderen den Pfad an dem Häuschen vorbei, der nach zwei Biegungen plötzlich aufhörte. An seinem Ende stand ein, wenn auch roh zusammengeschlagener, so doch ziemlich großer Stall, in dem sie zwölf Pferde vorfanden, deren Äußeres schon verriet, daß sie nicht aus harmlosen Gründen hier untergebracht waren.

»Sieh dir nur diese hohen Beine an«, sagte Harry. »Jeder einzelne Gaul ist ein Renner, der ein unglaubliches Tempo entwickeln kann. Der Rotfuchs da mit dem bösen Blick ist ein Tierchen für mich. Vorwärts, Walt, such dir eins aus, das dir gefällt, und für Jim müssen wir natürlich auch eins wählen.«

»Das ist doch wohl nicht dein Ernst?« entgegnete Devon. »Wir können doch unmöglich Pferde stehlen?«

Harry, der inzwischen hinter Wachsleinwand verborgen, ein ganzes Waffenarsenal in einem Winkel des Stalles entdeckt hatte, lachte.

»Ach, meinst du?« sagte er. »Na, dann will ich dir was sagen – wir leihen uns die Pferde, bis uns einer darüber aufklärt, wie die Tiere hierhergekommen sind.«

Er hatte währenddessen aus dem Waffenvorrat ein Winchestergewehr ergriffen, dessen Schaft er sich genauer betrachtete.

»Das Zeichen da hab ich eingeschnitten« schrie er, »ich erkenn es wieder, wenn's auch schon zwanzig Jahre her sein mag. Verlaß dich darauf, das haben die Kerle mitgenommen, die dein Haus niedergebrannt haben. Ruf Jim her, wir müssen jetzt eilen, wenn wir den Banditen die Pferde wegnehmen wollen.«

Sie banden die Tiere in Gruppen von vieren an den Halftern zusammen, sattelten aber nur je eines, obwohl Sättel und Zaumzeug für alle zwölf rings an den Stallwänden hingen. Während sie noch dabei waren, die Gurte bei den Pferden, die sie sich ausgewählt hatten, anzuziehen, hörten sie von weitem wieder den langgezogenen Signalpfiff.

Der alte Jim kam angelaufen. Er verstand und billigte sofort ihr Vorhaben und half ihnen, die Tiere ins Freie zu schaffen. Rasch saßen sie auf und fanden hinter dem Pferdestall einen Weg, der bald aus dem Dickicht heraus in den offenen Wald zurückführte.

Bisher hatte Harry die Spitze gehabt, jetzt aber drängte sich Jim nach vorne und rief den anderen zu:

»Wir müssen unbedingt schneller reiten!«

»Schneller, als eine Gewehrkugel fliegt, kannst du doch nicht reiten«, gab Harry zurück, ließ aber auch seine vier Gäule in Galopp fallen. Den Beschluß machte Devon.

So jagten sie dahin und bogen dann in eine Art natürliche Allee ein, eine lange, gerade Waldstrecke, die zu beiden Seiten von dicken Bäumen eingefaßt war. Obwohl der Boden durch die herabgefallenen Nadeln sehr glatt war, legte Jim ein wahrhaft höllisches Tempo vor.

Devons Pferd, eine starke, braune Stute, schien die Sache für ein Wettrennen zu halten, denn sie folgte so dicht auf, daß er Mühe hatte, ein Unheil zu verhüten. Der Weg war viel zu eng, als daß er die anderen hätte überholen können. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, und es verging ihm fast Hören und Sehen, aber lange konnte es ja nun nicht mehr dauern, bis sie den Wald hinter sich hatten!

Jetzt machte der Weg eine Biegung, und kaum war Jim um diese verschwunden, da tönten Gewehrschüsse an Devons Ohr. Als er dann um die Ecke bog, sah er ein unentwirrbares Durcheinander von ausschlagenden Pferdebeinen vor sich. Der alte Jim lag auf dem Boden, Harry hatte das Seil, an dem er die anderen Pferde hielt, losgelassen und eilte seinem Kameraden zu Hilfe, der sich gerade selbst wieder zu erheben vermochte. Dabei knallten ununterbrochen Schüsse, die zwischen den Bäumen aus so naher Entfernung abgeschossen wurden, daß die Mündungsfeuer fast die Flanken der Pferde versengten.

Devon ließ gleichfalls das Halteseil los, so daß die drei Tiere, die er geführt hatte, kehrt machen und zurückjagen konnten. Das seine drängte er vorwärts auf Jim zu. Glücklicherweise hatten sich die Gegner alle auf dieselbe Seite gestellt, so daß die gestürzten Tiere im Augenblick eine gewisse Deckung gegen ihre Schüsse bildeten.

Obwohl das Gesicht des Alten mit Blut beschmiert war, schien er ohne Verletzung davongekommen zu sein. Er stellte einen Fuß auf den von Devon und schwang sich hinter ihm auf die braune Stute, die stark genug war, die doppelte Last zu tragen. Harry, grimmig vor sich hin fluchend, folgte ihnen dichtauf, und trotz dem mörderischen Feuer erreichten sie glücklich die nächste Wegbiegung. Kaum eine Minute später waren sie aus dem Walde heraus und eilten der vor ihnen liegenden Stadt zu.

Harry, das Gesicht blaß vor Angst und Besorgnis, ritt an die beiden anderen heran und fragte:

»Jim, alter Schafskopf, hast du was abbekommen?«

»Nicht die kleinste Schramme«, erwiderte Jim seelenruhig. »Gesund wie ein Fisch im Wasser bin ich und werde den Schweinen ihre Gemeinheit schon gelegentlich heimzahlen. Aber jetzt reite zu, Harry, sonst kriegen wir die Kerle womöglich noch einmal auf den Hals.«

Sie erreichten jedoch unbehelligt die Stadt. Harry war dafür, der Menge sofort ihr Erlebnis zu erzählen und an der Spitze des erregten Volkes in den Wald zurückzureiten, um den Banditen den Garaus zu machen. Jim aber widersprach diesem Vorschlag und erklärte, es sei viel klüger, die Angelegenheit in die Hände des tüchtigen Sheriffs zu legen. Eine führerlose Masse würde wahrscheinlich blindlings den Gaunern vor die Gewehre laufen und sei überhaupt nicht imstande, einer so gut organisierten Bande das Handwerk zu legen.

Als sie in die Hauptstraße eingebogen waren, trat ihnen ein großer, schlanker Mann mit kurzgehaltenem Schnurr- und Backenbart entgegen, der höflich den Hut zog und sagte:

»Darf ich mir die Frage erlauben, meine Herren, wie Sie zu diesen Pferden kommen – besonders zu dem Wallach da?«

Dabei zeigte er auf das Tier, das Harry ritt.

»Machen Sie Platz«, erwiderte dieser, »darüber können Sie sich nachher mit dem Sheriff unterhalten.«

»Bedaure sehr«, verharrte der andere, »es ist an Ihnen, darüber Auskunft zu geben, wieso Sie auf einem Gaul sitzen, der mein Eigentum ist – oder soll ich Sie einen Pferdedieb nennen?«

Da gerade ein hochbeladener, von mehreren Maultiergespannen gezogener Heuwagen vorüberfuhr, war an ein Vorwärtskommen nicht zu denken. Von allen Seiten traten Leute heran, die das im Westen so viel bedeutende Wort ›Pferdedieb‹ aufmerksam gemacht hatte.

»Wenn das Tier wirklich Ihr Eigentum ist, dürften Sie sich wohl noch wegen etwas Schlimmerem als nur wegen Pferdediebstahl zu verantworten haben«, erwiderte Harry, »aber vorläufig machen Sie mal Platz, wir haben's eilig.«

Jetzt trat ein Cowboy an den Fremden heran und sagte:

»Das ist doch der alte Harry – den werden Sie doch wohl nicht einen Pferdedieb nennen wollen?«

Der andere trat sofort zur Seite.

»Wenn der Mann hier in West-London bekannt ist, will ich ihm natürlich keine Unannehmlichkeiten machen«, sagte er, »aber Tatsache bleibt, daß der Wallach mein Eigentum ist – das kann ich beweisen. Ist denn nicht irgendein Beamter in der Nähe?«

»Da kommt ja der Sheriff selbst«, rief jemand.

Naxon drängte sich durch die aufgeregte Menge und ließ sich von dem Fremden den Fall erklären. Die Sache stimmte: eine Rechnung, die er bei sich hatte und vorzeigte, bewies, daß er den Wallach rechtmäßig gekauft hatte.

»Dann erhebe ich die Anklage gegen ihn, daß er Mitglied einer organisierten Räuber- und Mörderbande ist, die ihr Hauptquartier da drüben im Walde hat!« rief Harry.

Der Fremde schüttelte den Kopf.

»Das Pferd ist mir vor fünf Tagen aus dem Stall gestohlen worden«, entgegnete er, »auch das kann ich einwandfrei durch Zeugen beweisen.«

»Hier, dann nehmen Sie Ihren Gaul«, erwiderte Harry, »Sie aber, Naxon, müssen sofort ein Dutzend tüchtiger Männer aufbieten. Wir haben nämlich die Leute entdeckt, die Devons Haus niedergebrannt und seine Rinder gestohlen haben.«


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