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Byrne, der versprochen hatte, nach dem Essen noch einmal nach dem alten Cumberland zu sehen, ging nach der Beendigung seines Briefes ins Wohnzimmer hinunter. Er fand das Mädchen an der Lagerstatt des Alten sitzen, der bis zum Hals in die Falten seiner bunten Indianerdecke gehüllt war. Byrne stellte fest, daß seine Augen geschlossen waren. Dies war ungewöhnlich. Es war das erstemal, daß er Muße hatte, das vom Alter zerstörte Gesicht des Ranchers näher zu betrachten. Kate war aufgestanden und ihm entgegengegangen. Sie flüsterte: »Können Sie ihm keine Beruhigungsmittel geben?«
»Warum? Er scheint ruhiger als sonst.«
»Betrachten Sie ihn genauer«, flüsterte sie.
Er gehorchte und sah jetzt erst, daß Joe Cumberlands Körper von einem dauernden Beben geschüttelt wurde, wie eine Espe. Die stumme Qual, die sich darin aussprach, war beinah fürchterlicher anzusehen, als ein wirklicher Todeskampf. »Ein Beruhigungsmittel!« drängte Kate. »Irgend etwas, das ihm wenigstens für eine Minute Linderung schafft.«
»Ich kann es nicht wagen«, erklärte Byrne. »Wenn sein Herz nur ein bißchen kräftiger wäre, würde ich es selbstverständlich tun. Aber wie die Dinge liegen, ist seine Willenskraft das einzige, was ihn überhaupt noch am Leben erhält. Sie wollen doch nicht, daß ich durch mein Eingreifen den einzigen Faden zerschneide, der ihn noch auf dieser Welt zurückhält?«
Sie schauderte.
»Sie meinen also, daß er nicht mehr erwacht, wenn er einschläft?«
»Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß dieser Krankheitsfall Symptome zeigt, die ich nicht verstehe. Ich bin nicht fähig, irgend etwas mit Bestimmtheit vorauszusagen. Aber ich fürchte tatsächlich, daß, wenn Ihr Vater einschlummern sollte, er die Augen nicht mehr öffnen wird. Sobald einmal das Hirn seine Tätigkeit eingestellt hat, dürfte auch das Herz zu schlagen aufhören.«
Obwohl sie vom Lager weggegangen waren und sich nur flüsternd unterhielten, schien der Alte sie gehört zu haben. Sie vernahmen plötzlich seine tiefe und ruhige Stimme: »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, Doc. Ihr braucht mir auch nichts einzugeben. Es hat keinen Sinn. Alles was ich brauche, ist Ruhe.«
»Sollen wir dich allein lassen?« fragte Kate.
»Ihr könnt hierbleiben, solange ihr keinen Lärm macht,« antwortete der Alte, »mir ist, als hörte ich was, aber euer Flüstern stört mich.«
Sie tauschten einen Blick und fügten sich seinem Wunsche. Und kurze Zeit darauf vernahmen sie noch in weiter Ferne den raschen Hufschlag eines galoppierenden Pferdes.
Kate beugte sich vor und berührte leicht die Hand ihres Vaters: »Ist es das? Hast du das Pferd kommen hören?«
»Nein, nein«, antwortete er ungeduldig. »Das ist es nicht. 's ist kein Pferd, das ich höre.«
Die Hufschläge wurden lauter – verstummten unmittelbar vor dem Haus – ein schwerer Schritt dröhnte über den Bretterboden der Veranda – eine Tür öffnete sich kreischend und fiel krachend ins Schloß – und Buck Daniels stand vor ihnen. Sein Hut war so tief ins Gesicht getrieben, daß seine Augen beinah unter der Krempe verschwanden. Sein seidenes Halstuch lag verknäult und verschoben auf der Schulter, und die Lasche der schweren Reitpeitsche, die er in der Hand hielt, bebte wie ein Blatt im Sturm. Seine Jacke war mit halbgetrocknetem Schaum vom Gebiß seines Pferdes befleckt. Geronnenes Blut, mit Pferdehaaren vermischt, hing an den Rädern seiner Sporen. Sein Gesicht bedeckte eine dicke Staubschicht, in die der Schweiß lange Rinnen gefressen hatte, und ein durchdringender Geruch nach schwitzenden Pferden ging von ihm aus. Er blieb einen Augenblick lang an der Türe stehen, die Beine auseinandergespreizt, als sei er in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, und starrte wild um sich, dann schwankte er wie ein Betrunkener durch das Zimmer und fiel krachend in einen Sessel.
Niemand rührte sich. Joe Cumberland hatte den Kopf gewandt. Kate hatte die Hand angstvoll zur Brust erhoben, der Doktor hatte sich verwirrt an den Hinterkopf gefaßt und schien nicht fähig, die Hand wieder von dort wegzubringen.
»Waaas zu rauchen! – Schnell!« sagte Buck Daniels. »Vor tausend Jahren schon ist mir der Tabak ausgegangen.«
Kate lief ins Nebenzimmer und kehrte mit Zigarettenpapier und einem frischen Päckchen Tabak zurück. Buck griff gierig danach, aber seine mächtigen Finger bebten wie in einem Krampfanfall. Jedesmal, wenn er die Zigarette rollen wollte, zerriß das Papier, und der Tabak fiel zu Boden. »Großer Gott!« rief er in einem Ausbruch kindischer Verzweiflung und sank in seinem Stuhl zusammen.
Kate Cumberland bückte sich und hob Papier und Tabak auf, die er auf den Boden geschleudert hatte. Mit geschickten Fingern rollte sie eine Zigarette, schob sie ihm zwischen die Lippen und hielt ihm ein brennendes Streichholz hin. Einmal, zweimal, wieder und wieder sog er den Rauch in großen Zügen ein und füllte sich damit die Lungen. Dann war er endlich fähig, die Augen zu öffnen und sie anzusehen. Es war nicht erfreulich, in Buck Daniels Augen zu blicken.
»Du bist hungrig, Buck«, sagte sie. »Man sieht's auf den ersten Blick. Ich werde in einer Sekunde etwas für dich zum Essen hier haben.«
Er hielt sie mit einer Armbewegung zurück.
»Ich hab's getan!« sagte er. »Er kommt!«
Doktor Byrnes Augen flogen zu Kate Cumberland hinüber. Sie war bleich geworden. In ihren Augen, auf ihren stummen Lippen schien eine wortlose Frage zu hängen. Joe Cumberland aber tat einen tiefen Atemzug und lächelte. »Ich hab's gewußt«, sagte er still vor sich hin.
Irgendwo im Hause brachte der Wind ein pfeifendes Geräusch hervor. Es genügte, um Buck Daniels von seinem Sitz hochschnellen zu lassen. Mit einem Sprung stand er mitten im Raum.
»Er ist da!« heulte er. »Gott verdamm' mich! Wo soll ich jetzt hin? Er ist da!«
Er hatte den Revolver aus dem Halfter gerissen und starrte verzweifelt die vier Wände an, als suche er irgendwo einen Schlupfwinkel. Aber beinah im selben Augenblick gewann er seine Fassung halbwegs zurück und steckte die Waffe wieder ein.
»Nein, noch nicht,« sagte er – er sprach mehr mit sich selbst als mit den anderen –, »es ist nicht möglich! Selbst für Dan nicht!«
Kate Cumberland raffte sich auf. Ihr Gesicht war noch immer totenblaß. Sie ging zu Buck hin und faßte seine beiden Hände.
»Buck, du hast dich zu Tode gehetzt,« sagte sie tröstend, »Buck, du bist hysterisch, was brauchst du dich vor Dan zu fürchten? Ist er nicht dein Freund? Hat er es nicht tausendmal bewiesen?«
Ihre Worte führten einen neuen Anfall seiner Raserei herbei.
»Wenn er mich erwischt, Kate, mein Blut kommt auf dein Haupt! Für dich hab' ich's getan!«
»Nein, nein, Buck, um Dans willen allein hast du's getan. Ist das nicht genug?«
»Um Dans willen?« Buck warf den Kopf zurück und lachte – das Lachen eines Irrsinnigen. »Meinetwegen könnte er in der Hölle schmoren, mich würde es nicht kümmern. Meinetwegen könnte er seinen verdammten Wildgänsen nachrennen bis ans Ende der Welt. Kate, für dich hab' ich's getan!«
»Still!« bat sie. »Lieber Buck!«
»Soll ich mich noch drum scheren, wer's erfährt? Ich gewiß nicht, bei Gott! Ich hab' noch 'ne Stunde zu leben – vielleicht höchstens noch eine halbe. Und solang ich noch lebe, kann meinetwegen die ganze vermaledeite Welt wissen, daß ich dich liebe, Kate, von den kleinen Sporen an deinen Stiefeln bis zu deinen blauen Augen. Um deinetwillen habe ich ihn hergebracht. Und um deinetwillen werd' ich mit ihm kämpfen – Gott verdamm den Kerl – allem zum Trotz ...«
Von fern, ganz aus der Ferne, kam ein neues Wehklagen des Windes, und Buck Daniels suchte Deckung an der Wand. Er hatte Kate mit sich gezogen und zwang sie jetzt, zwischen ihm und der Tür zu bleiben.
Er begann zu flüstern. Es war grausig, wie seine Stimme vor Furcht zitterte: »Stell' dich vor mich, Kate. Stell' dich zwischen mich und ihn. Sprich für mich, Kate. Wirst du für mich sprechen?« Er richtete sich auf und tat einen langen zitternden Atemzug. »Was hab' ich getan?! Was für einen Narrenstreich hatt' ich mir in den Kopf gesetzt.«
Er sah um sich, als erblicke er alle zum erstenmal.
»Setz dich her, Buck«, sagte Kate. Sie war jetzt völlig gefaßt. »Gib mir deinen Hut. Du hast nichts zu fürchten. Und jetzt erzähle!«
»Einen ganzen Tag lang und 'ne Nacht bin ich geritten, immer die Furcht vor ihm im Nacken. Kate, ich weiß kaum noch, wer ich bin, und wenn ich wildes Zeug geredet habe ...«
»Hab' keine Angst. Aber erzähle, wie du ihn dazu gebracht hast, dir zu folgen.«
Buck Daniels rieb sich die Stirn mit den Knöcheln der geballten Faust, als müsse er eine widerwärtige Erinnerung aus seinem Gedächtnis tilgen. »Kate«, sagte er, seine Stimme war kaum noch vernehmlich. »Warum ist er damals hinter Jim Silent hergewesen?«
Der Doktor ließ sich in einen Stuhl gleiten, der Buck Daniels gegenüberstand und betrachtete den Cowboy, als traue er seinen Augen nicht. Als er ihn zuletzt gesehen hatte, schien der Mann voller Selbstvertrauen, als wisse er bei jedem Schritt eine ganze Armee hinter sich. Und jetzt sah er ihn als einen schlotternden unmännlichen Feigling vor sich sitzen. Byrne blickte Kate Cumberland an, als könne er von ihr die Ursache dieser seltsamen Wandlung erfahren. Aber auch Kate schien plötzlich von Grauen und Furcht verwandelt zu sein. Sie starrte Buck Daniels an, als sähe sie ihn bereits tot vor sich.
»Buck!« flüsterte sie, »du hast ihn doch nicht etwa – geschlagen?«
Buck Daniels nickte mit dem Kopf, auf seiner Stirne brach plötzlich neuer Schweiß in hellen Tropfen aus.
»Aber du lebst ja noch?!« rief Kate. »Hast du ihm vorher seinen Revolver unbrauchbar gemacht?«
»Nein, wie ihm meine Hand im Gesicht saß, machte ich kehrt und tat ein paar Schritte von ihm weg.«
»O Buck, Buck!« rief sie. Ihr Gesicht erhellte sich. »Du wußtest, daß er dich nicht in den Rücken schießen würde.«
»Nichts hab' ich gewußt, nicht mal denken konnt' ich. Und mein Körper war auf einmal fühllos und erstarrt vom Gürtel abwärts, wie wenn ich eine Leiche wäre. Ich hab' dagestanden, als wär' ich an den Boden geschraubt – du weißt, wie man manchmal träumt, daß sie einem nachjagen und man kann sich nicht von der Stelle rühren? Genau so ist es mir da gegangen.«
»Buck, und wie du dastandest, hat er die ganze Zeit hinter dir gesessen?«
»Wohl und 's war just, als balanciere der Tod auf seinem Zeigefinger, als müßte er jeden Augenblick abdrücken. Aber ich wußte, wenn ich nur 'ne Spur von Feigheit merken lasse – wenn ich bloß zittere –, dann ist er in der nächsten Sekunde von seinem Stuhl auf und über mir. Ohne Revolver – er braucht nichts als seine Hände. – Ich wußte, was mir dann bevorstand, dasselbe Ende, das es mit Jim Silent genommen hat.«
Seine Augen rollten. Er stöhnte laut auf. Dann ermannte er sich wieder.
»Aber ich war unfähig, einen Fuß zu heben. Ich wäre einfach in die Knie niedergebrochen. Was tu ich? Ich nehm Tabak und Papier heraus und rolle mir eine Zigarette. Und unter dem Rollen flüster' ich ein Gebet, daß die Sorte Ohnmacht, die mich gepackt hielt, vorbeigehen möchte, ehe er zur Besinnung kommt und losgeht.«
»Ja, Buck,« sagte Kate, »es war die Überraschung, die ihn auf seinem Stuhl festgenagelt hatte. Er konnte es einfach nicht glauben, daß du ihn geschlagen hast, du, der sein Leben gerettet und für ihn gekämpft hat wie ein Blutsbruder. Oh, Buck, von allen Männern bist du der bravste und edelste.«
»Die Sorte Reden, die sind jetzt nichts wert«, grollte Buck errötend. »Wie's auch sein mag, schließlich war's so weit, daß ich versuchen konnte, die Tür zu erreichen. Sie war nicht weiter von mir weg, als von hier bis zur Wand. Draußen war mein Pferd und 'ne Art von Chance, daß ich mit dem Leben davonkomme. Aber die verdammte Tür, die war tausend Jahre weit von mir weg, und wie ich drauf zuging, da spürt ich tausendmal – jetzt muß der Hahn schnappen, jetzt knallt's, jetzt bohrt sich mir Dans Kugel in den Rücken. Und doch traute ich mich nicht zu laufen. Ich hatte Angst, ich wecke Dan erst richtig aus seiner Betäubung. Schließlich komm ich richtig 'raus und kaum ist die Tür hinter mir zurückgefallen, da hör' ich's hinter mir – 'ne Art von Stöhnen war's.«
»Dan,« flüsterte Kate, »das war Dan! So stöhnt er immer, wenn er zornig ist. Oh, Buck.«
»Mit dem ersten Schritt bin ich zehn Meter von der Tür und mit dem nächsten im Sattel. Und ich bohre meinem Gaul die Sporen in die Flanken. Er schießt los wie eine gespannte Feder, und wie er die Straße hinunterjagt, lehn' ich mich über seinen Hals und seh' mich um, und Dan steht in der Tür, den Revolver in der Hand, und der Wind faßt ihn ins Haar. Aber er hat nicht geschossen, denn im nächsten Augenblick war ich im Dunkeln verschwunden, und ich konnte ihn nicht mehr sehen.«
»Aber es hat dir doch sicher nichts genützt«, rief Kate. »Er hat Black Bart, um deine Spur zu finden, und Satan, um dir nachzusetzen. Er hat dich eingeholt? Und was war dann? ...«
»Er hat mich nicht eingeholt! Ich hatte es so angestellt, daß er an Satan nicht gleich herankonnte. Und ehe er den Gaul heraushatte, da hatte ich schon eine tüchtige Strecke hinter mich gebracht. Den Gaul habe ich geritten! – 's ist ein Wunder, daß er nicht auf dem Fleck krepiert ist. Ich halte immer gradaus auf McCauleys Anwesen zu. Wir hatten noch 'ne Meile bis hin, da kommt mir's so vor, als käme – großer Gott – ein leises Pfeifen mit dem Wind hinter mir her.«
Er konnte eine Weile nicht weitersprechen. Kate Cumberland saß mit geöffneten Lippen da. Ihre Finger krampften sich ineinander.
»Diese Meile war das schlimmste, was ich je erlebt habe. Ich hatte jemand vorausgeschickt, der sollte mir frische Pferde bereithalten lassen, und wie ich reite, fällt mir ein, es könnte vielleicht nicht geklappt haben. Und wenn kein frischer Gaul für mich bereit stand, dann wußte ich, daß ich irgendwo dahinten in den Bergen sterben würde. Sie waren so schwarz und finster, die Berge, wie lauter Gespenster, und es kam mir vor, als grinsten sie mich an, aber wie ich zu McCauleys Haus komme, richtig, steht da ein gesattelter Gaul. Ich braucht' nicht zwei Sekunden, dann war ich wieder unterwegs.«
Byrne und Kate stießen einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Das Pferd, das sie mir gegeben hatten, das war ein wahres Wundertier. Es ging jetzt in die Berge hinein, und der Gaul kletterte wie eine Geiß. Wie wir oben auf dem Kamm sind, bläst der Wind die Wolken auseinander, der Talgrund hinter mir liegt ganz weiß im Mondlicht da, und was seh' ich? Da unten gleiten zwei kleine Schatten übers Land. Es war Dan auf Satan, und es war Bart.«
»Buck!«
»Mir war, als müßte mir das Herz auf der Stelle stillstehen! Ich geb' meinem Gaul die Sporen und wir rasseln den nächsten Abhang hinunter und ich kann euch sagen, ich weiß von nichts mehr – bloß als wir bei Circle Ranch ankommen – 's war mir, wie wenn's eine Million Jahre gedauert hätte, bis wir so weit waren – da fällt der Gaul unter mir hin wie ein halbvoller Sack, 'n anderes Pferd stand bereit, und es war auch kein schlechter Gaul, eher besser als der vorige, aber die ganze Zeit, die ich geritten bin, war mir, als hörte ich Dans Pfeifen ganz in der Nähe.«
Sein Gesicht überzog sich erneut mit tödlicher Blässe.
»Nein, Buck,« sagte Kate, »wenn er dich die ganze Zeit verfolgt hätte, dann hätte er dich eingeholt, wenn du auch zehnmal frische Pferde nehmen konntest.«
»Wenn Sie vierundzwanzig Stunden geritten sind und dreimal Ihr Pferd gewechselt haben,« sagte der Doktor, seine Gründe säuberlich an den Fingern herzählend, »dann ist es einfach unmöglich, daß dieser Mann Ihnen auf den Fersen gefolgt sein kann. Ganz sicher wird es noch einen ganzen Tag dauern, bis er hier eintrifft.«
Aber in diesem Augenblick fiel des Doktors Auge auf den alten Rancher. Er sah, wie Joe Cumberland leise in sich hineinlächelte.
Buck Daniels überlegte. Er schien die Bemerkung des Doktors ernst zu nehmen.
»Nein,« sagte er, »es ist ganz einfach nicht möglich.«
Er knüpfte sein Halstuch los und wischte sich damit notdürftig das Gesicht ab.
»'s war das Reiten«, erklärte er mit beschämter Miene. »Das hat mich so verrückt gemacht. Wenn man erst mal eine Zeitlang im Sattel gesessen hat, dann geht's einem so, daß man bald nicht mehr denken kann. Richtig benommen wird's einem zumute. Just so stand's mit mir, wie ich vorhin hereingekommen bin.«
»Öffnet das Fenster nach der Veranda,« sagte Joe Cumberland, »ich möchte den Wind spüren.«
Der Doktor kam der Aufforderung nach. Wieder sah er das ruhige zufriedene Lächeln um Cumberlands Mundwinkel huschen. Es löste in ihm ein Gefühl des Unbehagens aus. Er wußte selbst nicht warum.
»Er wird hier nicht ankommen, ehe acht, ja zehn Stunden vergangen sind«, fuhr Buck Daniels fort, setzte sich bequemer in seinem Stuhl zurecht und hob wieder ein wenig den Kopf. »Gute zehn Stunden, wenn er überhaupt kommt. So hab' ich wenigstens 'ne Chance, mich eine Weile auszuruhn, denn ich muß sagen, ich fühl' mich jetzt verdammt zittrig.«
»Und genau so verdammt zittrig wird sich Mister Barry fühlen, wenn er hier eintrifft«, bemerkte der Doktor.
»Der und zittrig?« grinste Buck Daniels, »Freundchen, da kennen Sie den Kerl verdammt schlecht.« Er setzte sich aufrecht und ballte die Faust. »Und wenn er kommt, soll er sich in acht nehmen, daß er's nicht zu toll treibt! Ich laß mir manches gefallen, aber dann ...« Er schlug heftig mit der Faust auf die Armlehne.
»Buck!« rief Kate Cumberland, »bist du wahnsinnig? Hast du den Verstand verloren? Mit ihm willst du anbinden?«
Buck Daniels zuckte zusammen, aber dann schüttelte er mit einem Ausdruck der Hartnäckigkeit den Kopf.
»Drunten in Brownsville hat er seine Chance gehabt,« sagte er, »und er hat's nicht versucht. Warum? Bloß, weil ich mit dem Rücken zu ihm stand? Well, wenn ihm so am Streit gelegen war, dann hätt' er ja um mich 'rumgehen können und sich mir gegenüber hinpflanzen. Ich habe gesehen, wie's ist, wenn Dan losgeht, aber er hat auch gesehen, wie's ist, wenn ich losgeh'. Kann sein, er hat 'n bißchen zu viel gesehen, als daß ihm nach einem Strauß mit mir der Mund wässert. Es hat schon merkwürdigere Dinge als das auf der Welt gegeben.« Er rückte seinen Gürtel zurecht, so daß der Kolben des Revolvers handgerechter nach vorne kam. »Buck,« riet ihm Kate, »du bist zu Tod erschöpft, du weißt nicht, was du redest. Ich glaub', du solltest dich jetzt ins Bett legen.«
Sein bronzefarbenes Gesicht bedeckte sich plötzlich mit Rot.
»Kate,« sagte er, »denkst du, daß ich bloß Worte mache, um mich reden zu hören?«
»Hört!« unterbrach ihn Joe Cumberland und hob, zum Schweigen mahnend, seinen knochigen Zeigefinger.
Und der Doktor sah, daß mit einem Male eine gewaltige Veränderung mit Joe Cumberland vorgegangen war. Das krampfhafte Zittern seines Körpers war verflogen. An seine Stelle war ruhige, lächelnde Erwartung getreten – die Ruhe der Gewißheit. Zum erstenmal seit dem Tage, wo Byrne das Haus betreten hatte, hatte sein Gesicht einen schwachen Anflug von Farbe.
»Hört ihr's?«
Sie hörten nichts. Nur der Wind strich raschelnd durch das offene Fenster herein. Die Flamme der Petroleumlampe tanzte unruhig auf und ab und warf phantastische Lichter und Schatten auf die Gesichter der Gruppe. Alle hatten sich dem Fenster zugewandt. Noch immer war nicht der geringste Laut vernehmbar, aber Doktor Byrne hatte ein unbestimmtes Gefühl, als könne er das Geräusch spüren, das heranzog. Und er wußte mit unheimlicher Deutlichkeit, daß alle anderen im Zimmer dasselbe Gefühl hatten. Er blickte vom Fenster weg und sah Kate Cumberland an. Sie hatte den Kopf zurückgelegt, ihr Gesicht zeigte eine merkwürdige durchscheinende Blässe. Die Augen schienen ungewöhnlich groß und waren von dunklen Ringen umgeben. Ihre Lippen teilten sich in einem wehmütigen und unendlich gefaßten Lächeln. Die schlanken Finger eng ineinander geschlungen, preßte sie die gefalteten Hände gegen ihre Brust.
Und zum erstenmal konnte Doktor Byrne sehen, daß dasselbe Feuer, das ihren Vater verzehrte, auch in ihr gewütet hatte. Es hatte sie nicht mit dem Zeichen des Todes gezeichnet, aber es hatte sie ausgebrannt, und ihre Seele klar wie Kristall zurückgelassen. Brennendes Mitleid schnürte Byrnes Kehle zusammen, als er an die Qual und das Leid der langen Stunden des Wartens dachte, die ihr auferlegt worden waren. Und in dieses Mitleid mischte sich ein Gefühl der Angst. Er spürte, daß etwas im Anzuge war, das dieses Mädchen erfassen würde, wie der Wind ein totes Blatt erhascht, das sie fortwirbeln würde in Sturm und Finsternis – und er – er war unfähig, ihr nur einen Schritt auf ihrem Weg zu folgen.
Der alte Mann hatte seine Augen wieder geschlossen. Aber sein Zeigefinger blieb hager und mahnend ausgestreckt, und das schwache Lächeln hing immer noch matt um seine Mundwinkel. Buck Daniels hatte sich in seinem Stuhl vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und schielte finster in einer Art widerwilliger Angst nach dem offenen Fenster hinüber.
Und jetzt hörte auch Byrne – der Laut war so schwach, daß er ihn zunächst empfand wie einen Teil der Stille, doch der Laut wuchs an und schwoll und strömte dann plötzlich scharf und gewaltig auf sie herunter – der Schrei der Wildgänse, die nach Norden flogen.
Es war Byrne, als könnte er sie über sich im finsteren Nachthimmel fliegen sehen, ein mattes graues Dreieck, das im gleichmäßigen Schlag der blitzschnell auf und niedertauchenden Flügel wie ein Pfeil seinem geheimnisvollen Ziel entgegenschoß, nordwärts, nordwärts. Noch einmal klang der seltsame mißtönende und doch so packende Ruf zu ihnen herunter, schwand dahin, als ob die Tiere plötzlich größere Höhen aufgesucht hätten, und war mit einemmal nicht mehr zu hören.