Ferdinande Freiin von Brackel
Die Tochter des Kunstreiters
Ferdinande Freiin von Brackel

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23

Du armes Kind, im Zweifel bist
Du doch noch glücklicher gewesen.

Während dies alles sich zutrug, saß ein bleiches junges Mädchen am Krankenlager ihres Vaters, der, vom Schlage getroffen, bewußtlos darniederlag. Sie verließ diesen Platz, um im anstoßenden Gemach einen kleinen Buben zu trösten, der einsam und gelangweilt das Köpfchen an die Fensterscheiben legte und hinausschaute. »Ob denn Mama noch immer nicht wiederkommt?« fragte er. Nora nahm den Krauskopf, der des Vaters Züge trug und die geschwisterliche Aehnlichkeit mit ihr nicht verleugnen konnte, auf die Knie und tröstete ihn: wenn Papa genesen, werde sie wieder Zeit haben, mit ihm zu spielen; er solle jetzt nur artig und still sein; Mama sei auf einige Zeit verreist. Bei den letzten Worten stieg eine brennende Glut ihr auf die Wange.

Die Katastrophe war für Nora nicht ungeahnt gekommen. Sie hatte sie allmählich nahen sehen, indem sie mit tiefstem Widerwillen das immer kühner werdende freche Spiel der beiden beobachtete, das von der einen Seite Leichtsinn und Leidenschaft, von der anderen niedrige Berechnung und Rachsucht war.

Landolfos kühner Plan, Nora zu erringen und sich als Schwiegersohn des Direktors zum Teilhaber des Geschäftes und künftigen Nachfolger emporzuschwingen, war an Noras Zurückweisung jeder Annäherung von seiner Seite gescheitert. In ihrem Herzen wohnte nur ein Gedanke, und außerdem hatte sie gegen Landolfos Persönlichkeit eine unüberwindliche Abneigung; zugleich aber ahnte sie in ihm auch denjenigen, der durch seine Machinationen ihr Schicksal, wie es sich jetzt gestaltet, herbeigeführt hatte.

In Landolfos Brust aber kochte wegen der Vereitelung seiner Wünsche ein unsäglicher Haß, nicht allein gegen sie, sondern auch gegen den Direktor, den er trotz aller seiner Versprechungen im geheimen Einverständnis mit der Tochter glaubte. Durch die ernste Drohung, jegliche Teilnahme an dem Geschäfte aufzugeben, hatte nämlich Nora endlich vom Vater erlangt, daß er Landolfo alle ferneren Belästigungen seiner Tochter untersagte. Anfänglich nur, um Noras Eifersucht rege zu machen, hatte Landolfo begonnen, sich mit der Direktorin zu beschäftigen. Die eitele Frau fühlte sich sehr geschmeichelt von der Eroberung, die sie neben der gefeierten Schönheit ihrer Stieftochter gemacht. Ihr Leben war ohnedies ein sehr einförmiges geworden. Der Direktor, in der Gleichgültigkeit späterer Jahre und von seinem Geschäft in Anspruch genommen, kümmerte sich jetzt wenig um sie. Auch der Glanz des Bonner Lebens war vorüber, da man seit dem großen Vermögensverfall bedeutend sparsamer leben mußte. Sie entschädigte sich für das eingeschränktere Leben durch eine Rückkehr zu den früheren ungenierten Lebensgewohnheiten. Landolfo sah in dem leichtsinnigen Geschöpfe, das von seinen Huldigungen um so mehr berauscht war, als die Blütezeit bei ihr stark zur Neige ging, das Mittel zu einem neuen Plane. Bald wußte er die Direktorin so zu fesseln, daß sie nur noch ein gefügiges Werkzeug in seiner Hand war.

Der Direktor bemerkte, von anderen Dingen in Anspruch genommen, von alledem nichts. Landolfo hatte überdies seine Neigung zu starken Getränken so gefördert, daß er oft tagelang zu klarem Denken unfähig war.

Den geschäftlichen Teil des Unternehmens hatte Landolfo längst in Händen, und der Direktor setzte unbedingtes Zutrauen in ihn, obgleich bei Nora, die durch andere Mitglieder der Truppe aufmerksam gemacht worden, längst Mißtrauen aufgestiegen war.

Ihre Anspielungen bei dem Kaplan hatten auf diese Zustände, die sie mit immer größerem Ekel an ihrer Lebensstellung erfüllten, hingedeutet. Da aber ihre Andeutungen und ihre Warnungen bei dem Vater nichts fruchteten und nur zu Familienzwistigkeiten Anlaß gaben, indem er sie als Ausfluß ihrer Parteilichkeit gegen Landolfo ansah, blieb ihr nichts übrig, als die Augen zu schließen und die Sachen ihren traurigen Gang gehen zu lassen.

Landolfos Plan war durch Kurts Wiedererscheinen nur etwas schneller zur Reife gebracht worden. Nach den deutlichen Worten, die er von Degenthal gehört, ahnte er eine herannahende Familienkrisis, und alles, was er noch von der Zeit erhofft, gab er nun vollständig verloren. Er wollte jetzt bloß seinen Haß und seinen Vorteil verfolgen. Seine Veruntreuungen konnten sowieso nicht mehr lange verborgen bleiben, und er wußte, daß er die eigene Sicherheit am besten deckte, indem er den Direktor durch die Entführung seiner Frau so schwer in seiner Ehre kränkte. Den Stolz Karstens kannte er nur allzu gut und wußte, daß dieser lieber jede Einbuße tragen würde, als eine so schmachvolle Familienangelegenheit durch gerichtliche Verfolgung an die Oeffentlichkeit zu ziehen.

Landolfo hatte das schwache Weib bald gewonnen durch die Drohung der Entdeckung ihrer Mitwissenschaft an seinen Veruntreuungen einerseits und durch die lockenden Aussichten, die er ihr zeigte, anderseits. Die konkurrierende Gesellschaft werde die Ueberläufer aus dem feindlichen Lager mit großer Freude und nicht minder großen Gagen aufnehmen, versicherte er ihr. Ihre Leidenschaft, ihre Furcht, das Verlangen nach einem ungebundenen Leben besiegte selbst die Liebe zu ihrem Kinde. Nach einigen mächtigen Griffen in des Direktors Kasse suchte das Paar die Weite in der vom Oberkellner erzählten Weise.

Seiner Rache gegen Nora genügte Landolfo indessen noch dadurch, daß er entstellte Nachrichten, wobei die Persönlichkeiten verwechselt waren, in die Oeffentlichkeit warf und für deren rasche Verbreitung möglichst Sorge trug. Er war gewiß, daß er auf diese Weise am wirksamsten jede Einigung mit Kurt hintertreiben würde. Aus seiner Feder stammte auch der hämische Artikel, der mit seinem Gemisch von Wahrheit und Unwahrheit dunkle Schatten auf den Ruf Noras wie Kurts warf. Er hatte richtig erkannt, daß er seinem Rivalen damit den empfindlichsten und nachhaltigsten Streich versetzte. Glaubte nun das Publikum wenig oder viel davon, wurde der Irrtum früher oder später aufgeklärt, ganz verwischen ließ sich der Eindruck nicht.

Nora hatte an dem Tage eine heftige Szene mit ihrem Vater zu bestehen gehabt, da dieser durch Landolfo den Besuch Degenthals erfahren hatte. Sie hatte sich infolgedessen unfähig gefühlt, am Abend ihren Platz in der Vorstellung auszufüllen, und ihr Auftreten war abgesagt worden – ein Umstand, der später dazu beitrug, das Publikum in dem Irrtum über die Person der Entführten zu bestärken.

Sie hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen, ihre Gedanken nach all den Erregungen zu sammeln, als gegen Abend ein dumpfes Geräusch in dem anstoßenden Gemach sie aufschreckte. Als sie hineilte, fand sie ihren Vater bewußtlos daliegen, einen Zettel in der krampfhaft geballten Faust. Er war gekommen, seine Frau zur Vorstellung abzuholen, als der Portier ihm meldete, daß die eine der Damen schon mit Herrn Landolfo gefahren sei. Erstaunt eilte er zum Zimmer seiner Frau, wo er den Kleinen ruhig schlafend fand, aber alle Kisten und Kasten geöffnet und zum Teil geleert sah. Ein Brief, der absichtlich in die Augen fallend auf den Tisch gelegt worden war, sagte ihm mit wenigen kalten Worten einige Gemeinplätze wie »daß ihr Herz es nicht ertrage, vernachlässigt zu werden, und sich deshalb in die Arme wahrer Liebe rette; daß Fesseln, die er ihr anlege, ihren Künstlergeist drückten und sie dorthin gehe, wo ihr Talent besser gewürdigt werde.« Des Knaben möge er sich annehmen, hatte sie beigefügt, und an ihm gut machen, was er an der Mutter verschuldet, und solcher Phrasen mehr.

Ob der Direktor sie alle las, blieb ungewiß: ahnungslos wie er war, tagte ihm wohl erst langsam das Verständnis, faßte ihn dann aber mit um so größerer Wucht, da er nun den ganzen ungeheuren Betrug sah, der an ihm ausgeübt worden war. Die furchtbare Aufregung und den leidenschaftlichen Zorn, der bei der Entdeckung in ihm aufstieg, ertrug sein ohnedies überreiztes Nervensystem nicht, und ein Schlaganfall, aber schlimmer, wie er ihn schon einmal ereilt hatte, warf ihn im selben Augenblick nieder.

Nora brauchte wenig Zeit, sich klar zu machen, was vorgefallen sei. Ihr erster Gedanke war, das Zeugnis der Schmach, die dem Vater angetan, zu vernichten, noch ehe sie Hilfe herbeirief. Auch nachher ließ sie niemanden zu, als ihre eigene alte Dienerin und den Arzt, in dem fast krankhaften Gedanken, jedes größere Aufsehen zu vermeiden – als könne sie die Tatsache dadurch verbergen. Sie hatte gehofft, die Bewußtlosigkeit des Vaters sei nur vorübergehend; aber sie erkannte bald aus des Arztes Miene, daß viel Ernsteres zu fürchten sei.

Die ersten Tage vergingen in atemloser Spannung und unausgesetzter Pflege. Außer dieser Sorge traten aber auch bald andere Verwicklungen an sie heran. Durch die Erkrankung des Vaters und das Verschwinden Landolfos war die Truppe führerlos geworden, und bei der Massenhaftigkeit des Personals und der Größe des Unternehmens mußte ein ganz unhaltbarer Zustand eintreten.

Um in etwa den dadurch bedingten Unordnungen vorzubeugen oder sie wenigstens aufzuhalten, hatte Nora Geistesgegenwart genug, den Zustand des Vaters als wenigstens geistesklar darzustellen und wie von ihm ausgehend die Führung vorläufig in die Hände des ältesten Mitgliedes der Truppe zu legen, eines im Dienste ergrauten Mannes. Dies erwies sich für kurze Zeit als zweckentsprechend, da das Ganze im gleichmäßigen Schritt weiterging. Der alte Herr stand aber bald selbst vor Schwierigkeiten, die seine Kräfte überstiegen, indem nicht allein die Oberleitung täglich schwieriger wurde, sondern auch die großartigen Veruntreuungen Landolfos immer schreiender zutage traten. Da dieselben meist zurückgehaltene Gagen betrafen, verbreitete sich Unzufriedenheit und Mißtrauen unter den Mitgliedern der Truppe.

Einen wie kräftigen Geist Nora auch hatte, sie fühlte sich doch allein dem allen nicht gewachsen. Vergebens sann sie nach, Rat und Beistand zu finden, noch immer vor jedem Schritt zurückschreckend, der eine offizielle Einmischung zur Folge haben würde.

Dachte sie trotz allem, was auf sie eindrang, jenes Versprechens der »nächsten Tage«? Aber die nächsten Tage waren längst hin, und kein Zeichen von ihm war zu ihr gedrungen! Vielleicht war in der allgemeinen Verwirrung es nicht zu ihr gelangt? Sie schärfte ihrer Dienerin ein, etwaige Besuche ihr vor allem zu melden; sie erkundigte sich nach denen, die angefragt hatten: es waren nur wenige, ihr gleichgültige Namen.

Der Gedanke, in ihrer Ratlosigkeit an den Kaplan sich zu wenden, stieg wohl in ihr auf; aber ein Gefühl des Stolzes hielt sie zurück. Sie wollte auch die entfernteste Annäherung an die Degenthalsche Familie vermeiden. Eines Tages aber schlug ihr Herz hoch auf vor Freude, als ihr ein Besuch gemeldet ward: doch sah sie gleich darauf enttäuscht auf die Karte, die ihr gereicht wurde: sie zeigte einen anderen Namen, als den sie ersehnt.

»Baron Dahnow« – sie mußte sich erst auf den guten dicken Mecklenburger Baron besinnen, ehe sie ihn sich ins Gedächtnis zurückrufen konnte. Eben wollte sie seinen Besuch abweisen, als sie die mit Bleistift zugefügten Worte bemerkte: »Sollte Fräulein Nora Karsten des Rates und Beistandes bedürfen, so darf ein alter Bekannter sich dazu anbieten.«

Trotz der Enttäuschung fielen die Worte warm auf Noras Herz; denn sie hatte nach Rat und Beistand sich gesehnt. Es überkam sie schon ein Gefühl der Ruhe, als sie sich gleich darauf dieser ernsten, festen Gestalt gegenübersah, deren breite Stirn eine Kraft ausdrückte, als könne sie allen Verwicklungen entgegentreten, und deren scharfe kleine Augen durch alle Labyrinthe den Weg finden zu können schienen. Aber von ihren eigenen Gedanken erfüllt, sah sie nicht die mächtige Bewegung, die über die sonst so ruhigen Züge flog, als sie ihm entgegentrat.

Vielleicht um diese Bewegung zu verbergen, beugte er sich ehrfurchtsvoll über die Hand, die sich ihm bot, und führte sie an die Lippen.

Das Zeichen geselliger Achtung tat Nora wohl. »Wie soll ich Ihnen danken, Baron Dahnow?« sagte sie bewegt. »Wie konnten Sie ahnen, daß ich eines Rates und Beistandes bedürfe?«

Dahnows Aufschluß klang einfach. Bei seinem zufälligen Aufenthalt in Wien habe er von der schweren Erkrankung ihres Vaters gehört und deshalb sich beeilt, sich zu ihrer Verfügung zu stellen, wie es die Pflicht eines guten Freundes sei.

Die Wahrheit zu berichten, wäre umständlicher gewesen. Die Zeitungen hatten auch in seine nordische Heimat die Nachrichten über die Geschehnisse des Zirkus Karsten gebracht, als er sich eben damit beschäftigte, Erkundigungen über ihr Schicksal einzuziehen. Er hatte nämlich weder erfahren, was Kurts Verhältnis zu ihr gelöst habe, noch was aus ihr geworden sei.

Die Nachricht von den traurigen Ereignissen traf ihn daher ganz unvorbereitet, da sie ihn zuerst auch über Noras öffentliches Auftreten aufklärte. Das alles brachte den sonst so ruhigen Mann ganz aus der Fassung. Aber wie unerklärlich es ihm auch war, eines blieb ihm zweifellos: daß Nora schuldlos sei, daß nur das traurigste, schwerste Verhängnis sie dazu gezwungen haben könnte.

Die Angaben über Noras Flucht bezeichnete er kurzweg als »verdammte Lüge«; doch war die nächste Folge, daß er sich entschloß, sofort nach Wien zurückzukehren, um dort näheren Aufschluß zu suchen. Mit der ihm eigenen zähen Beharrlichkeit gelang es ihm nach vielen Mühen, nicht allein Nora aufzufinden, sondern auch über den Vorgang die Wahrheit zu erfahren; und sie erfüllte ihn mit stillem Triumph.

Jetzt saß er Nora gegenüber und ließ sich einen Einblick in die gegenwärtige Lage geben. Sein klares Verständnis fand sich bald darin zurecht. Er versprach ihr, sich mit einem tüchtigen Rechtsbeistand in Verbindung zu setzen, um ihr eine begründete Ansicht über die Sachlage mitteilen zu können.

Doch Nora bebte zaghaft davor zurück: »Nur nicht den Weg der Oeffentlichkeit betreten, nur nicht die Sache zum Tagesgespräch machen!«

Vielleicht war es das schlecht unterdrückte Erstaunen in Dahnows Antlitz, was sie zuerst darauf aufmerksam machte, daß ihre unglückliche Lage wohl schon längst der Oeffentlichkeit anheimgefallen sei. Es ist seltsam: der Mensch hat immer etwas vom Vogel Strauß – wenn er den Kopf unter die Flügel steckt, wähnt er, nicht gesehen zu werden.

Da ging es ihr auf wie ein neues Licht, und die Frage klang hastig und scharf: »Ist denn schon etwas davon in die Welt gedrungen?«

Dahnow schob beschwichtigend alles auf die Berühmtheit ihres Vaters und ihre eigene, gefeierte Persönlichkeit; er deutete an, wie falsch und wie täuschend die Gerüchte seien. »Auch hierin, auch diesmal?« fragte Nora wieder, und ihre Augen wurden ordentlich größer vor Unruhe. »Meinen Vater kann doch keine Schuld hierbei treffen?«

»Es fand nur eine Verwechslung der Persönlichkeiten statt,« sagte Dahnow verlegen. »Man nahm an ... es war natürlich, die Anwesenheit des Kleinen machte es so unglaublich, daß die Mutter ...«

»Eine Verwechslung!« wiederholte Nora. »O nein, es ist nicht möglich!« rief sie dann plötzlich, und Purpurröte bedeckte ihr Gesicht. »Glaubt man ... glaubt man, ich sei es gewesen?«

»Zeitungsnachrichten sind so ungenau,« entschuldigte Dahnow.

»O, das muß berichtigt werden! Das muß berichtigt werden!« sagte Nora, in stiller Verzweiflung die Hände ringend.

»Es wurde schon einmal widerrufen in diesen Tagen,« sagte Dahnow. »Ich las den Artikel in dem bedeutendsten hiesigen Blatte.«

»Ach, es wird kaum mehr helfen!« klagte sie. »Was man über uns liest, glaubt gleich jeder.« Und die ersten heißen Tränen seit der Katastrophe flossen ihr über die Wangen.

»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, der Wahrheit ihr Recht zu verschaffen,« sagte Dahnow. »Ich werde Sorge tragen, daß Ihr Name ganz frei dasteht.«

Er hielt Wort: schon in den nächsten Tagen brachten die Zeitungen seine kräftige, klare und unzweifelhafte Widerlegung, die besonders noch Noras Anwesenheit am Krankenbett des Vaters betonte.

Aber Nora hatte recht gehabt; das bedeutete jetzt nur wenig mehr. Man las es, wie solche Berichtigungen gelesen werden, mit d«m oberflächlichen, flüchtigen Blick, welcher uninteressanten Nachrichten gilt; denn ob die Frau oder die Tochter des Kunstreiters durchgegangen sei, war schon ganz gleichgültig geworden. Der Reiz des Augenblickes an der pikanten Geschichte war vorüber.

Und die wenigen Menschen, für welche einige Tage früher die falsche Nachricht ein Wendepunkt ihres Lebens geworden, gerade die lasen die Berichtigung nicht. Im Göhlitzer Kreis fand man jetzt keinen Genuß an der Durchsicht der Tagesblätter; wie in schweigendem Einverständnis ignorierte man sie möglichst, in der natürlichen Scheu, unangenehmen Andeutungen zu begegnen oder auch nur die widerwärtige Episode sich in Erinnerung zu bringen. Man war überdies in jener Erregung und vielseitigen Beschäftigung, die ein Familienereignis stets mit sich bringt, und in diesem Falle um so mehr, da es ein so ersehntes und doch ungeahntes war.

Lillys Gesicht strahlte vor Glück. Der Gräfin heißester Wunsch war in Erfüllung gegangen in dem Augenblicke, als sie ihn verloren gegeben: Kurts Verlobung mit seiner Cousine hatte noch an dem Tage stattgefunden, als er ebenso plötzlich wiederkehrte, wie er plötzlich abgereist war. Alle übelwollenden Stimmen waren dadurch wirksam zum Schweigen gebracht. In den Kreisen der Bekannten übertönte die neue Nachricht die Gerüchte, welche kaum Zeit gehabt hatten, festen Fuß zu fassen. Man lächelte zwar, man glaubte noch manches, zuckte die Achseln und gönnte sich kleine, beißende Bemerkungen – aber man gratulierte doch.

Der Kaplan war der einzige, der infolge seiner Schritte auch die Wahrheit über Nora bald erfahren und sie möglichst zur allgemeinen Kenntnis gebracht hatte. Aber unter den obwaltenden Umständen war es nicht tunlich, Kurt und die Seinen darüber aufzuklären, und er mußte dies auf einen geeigneteren Augenblick verschieben.


Dahnow nahm sich indessen auf das tätigste der Angelegenheit Noras an. Seiner Ansicht nach unterlag es keinem Zweifel, daß das günstigste für alle Teile sei, das Unternehmen sobald als möglich aufzugeben, das große Inventar zu versilbern und der Kinder Vermögen einer Vormundschaft unterzuordnen, da der Zustand Karstens im besten Falle ein längeres Siechtum in Aussicht stellte. Eine Uebersiedelung nach der Residenzstadt des norddeutschen Reiches, zu dessen Untertanen-Verband Karsten gehörte, würde die Geschäfte um ein Bedeutendes vereinfachen.

Noras Antlitz leuchtete auf, als sie einsehen durfte, daß nur Schaden aus der Fortführung des Geschäftes erwachsen könne; denn sie hatte gefürchtet, ihres Bruders Vorteil erheische es, während doch seine Jugend alle Gedanken an ihn als künftigen Nachfolger schwinden ließ. So lag plötzlich schon in ihrer Hand das Ende des Fadens, der ihr wenige Monate vorher so unabreißbar gedünkt. »Wie lange noch, wie lange noch?« hatte sie damals in bitterem Schmerz ausgerufen, nicht ahnend, was so bald kommen sollte – so bald, und doch, wie ihr Herz mit bitterem Schmerze sich eingestand, zu spät.

Dennoch stieg ein unüberwindlicher Widerwille in ihr auf gegen den Gedanken, jetzt Wien zu verlassen: Wien, wo sie ihn zuletzt gesehen, wo er versprochen, sie wieder aufzusuchen – die Gegend, die seine Heimat war, wo er in der Nähe weilte.

Eine unsägliche Sehnsucht und Unruhe ergriff sie. Er mußte ja kommen, er wollte ja kommen! Ungezwungen, ungerufen war er ja wieder zu ihr geeilt. Warum hatte er Aufklärung geheischt, wenn nicht eine Absicht dem zugrunde gelegen, wenn nicht die alte, unbezwingliche Liebe ihn dazu geführt? Hatte nicht aus jedem seiner Worte, selbst aus den zornigen, Liebe gesprochen? Und sie gedachte des Augenblickes, wo sie wieder in seinen Armen geruht, wo sie seine Lippen wieder auf ihrer Stirn gefühlt! Er mußte wiederkommen! ... Nein, sie würde nichts mehr von ihm heischen. Sie wollte ihn ja jetzt nimmer an sich zu fesseln suchen ... aber noch einmal sprechen, ihm alles, alles sagen ... Sie suchte den alten Brief hervor, sie legte ihn bereit, daß sie ihm denselben gleich geben könne, damit er sehe und verstehe, wie schrecklich damals ihre Lage gewesen.

Der Brief lag tagelang bereit – aber Kurt kam nicht. Bange Ahnungen schlichen sich in Noras Sehnsucht ein. Hatten ihre Worte ihn vielleicht verletzt? War sie nicht deutlich genug gewesen in der Erregung des Wiedersehens? Hatten die Gerüchte ihn schon erreicht? Die Gerüchte – nein, für ihn konnten die Gerüchte nie einen Schatten von Wahrheit haben. Oder war er wieder von einer Krankheit niedergeworfen wie damals nach jenem Wiedersehen bei der nächtlichen Fahrt?

Die Spannung stieg von Tag zu Tag – doch, obgleich Wochen darüber vergingen, obgleich Dahnow fast täglich kam, und sie wußte, wie er mit Degenthal befreundet war, konnte sie ihre Zunge nicht zu der Frage zwingen.

Endlich siegte des Heizens Unruhe. Es war an einem Abend in der Dämmerstunde, die den deutlichen Blick in das Gesicht des anderen verhinderte.

Dahnow war gekommen, ihr Bericht zu erstatten, und erörterte die Frage der Uebersiedelung wieder. Da sprang das Wort gebieterisch auf die Lippen. Ob Baron Dahnow nicht vielleicht kürzlich von Graf Degenthal etwas gehört, fragte sie. Es sollte so gleichgültig klingen, und doch zitterte die Erregung aus jedem Ton.

Dahnow erbleichte. Er hatte seit Wochen diese Frage gefürchtet. Denn aus all den Gerüchten, aus all ihrer Unruhe hatte er doch entnommen, daß ihr Verhältnis zu Kurt noch ein bitteres Nachspiel gehabt und die neue Nachricht sie herb berühren würde. Auch er war jetzt froh über die Dämmerung, die den Blick nicht frei ließ; auch seine Antwort sollte gleichgültig klingen: Degenthal ginge es gut; er habe ihn vor einiger Zeit gesehen und nach seiner letzten Krankheit recht erholt gefunden; man hoffe viel für ihn von einem erneuerten Aufenthalt im Süden, wohin er mit seiner jungen Frau sofort abzureisen gedenke; in den nächsten Tagen schon werde die Hochzeit mit seiner Cousine stattfinden.

Es war gesagt. Dem biederen Mecklenburger ward es kalt auf der Stirn; sein Auge haftete fest am Boden, um nicht ihrem Blicke zu begegnen. – – – Kein Wort kam über ihre Lippen, kein Schrei, keine Träne, kein Seufzer. Es war eine lange, dumpfe Pause, eine jener Pausen, wo es einem ist, als könne man den Pulsschlag des anderen belauschen.

»Das hätte ich nicht gedacht,« sagte sie plötzlich, wie zu sich selbst. Das Herz greift zu den einfachsten Worten, wenn es am schwersten getroffen ist; aber in den Worten lag eine Welt von Enttäuschung ... Wieder ward es still.

»Ich glaube, ich muß zum Vater,« sagte sie dann, sich erhebend. Ihr Auge schimmerte unheimlich aus dem todbleichen Gesichte, dessen Lippen selbst weiß schienen. Sie wandte sich zum Gehen; aber ihr Schritt schwankte so, daß sie sich am Tische stützen mußte.

Dahnow sprang auf, ihr zu helfen.

»Es ist nichts,« sagte sie. »Die Pflege hat mich angegriffen.« Und als sie jetzt mit fester Willenskraft den Kopf hob, trat die Aehnlichkeit mit ihrem Vater fast schroff zutage.

Dahnow sah sie angstvoll bittend an; die warme Teilnahme, die aus seinem Auge sprach, bewegte sie plötzlich. Weich zuckte es um ihren Mund wie bei dem Kinde, das weinen will. »Baron Dahnow,« sagte sie wie flehend, »sagen Sie: lauteten die falschen Gerüchte so glaubhaft?«

»Es war alles geschehen, um sie möglichst wahrscheinlich darzustellen,« sagte Dahnow leise.

»Aber Sie, woher wußten Sie denn, daß es unwahr sei?« sagte sie mit einem Anflug von Ungeduld.

»Weil ich Sie kannte, glaubte ich es einfach nicht,« sagte der ehrliche Mecklenburger in den schlichtesten Worten, aber mit zitternder Stimme; und dann griff er hastig zum Hut und verließ das Zimmer.

Nora bemerkte kaum, daß er gegangen. »Weil ich Sie kannte, glaubte ich es einfach nicht,« wiederholte sie. »O, und er ... er hat alles geglaubt!« rief sie, ihr Gesicht mit den Händen bedeckend, und heiße Tränen rieselten zwischen den Fingern hindurch.

Mit der rechten Undankbarkeit eines ausschließlich liebenden Herzens hatte sie dabei keinen Gedanken für den, der so edles Vertrauen in sie gesetzt, sondern sie gedachte nur dessen, der ihr die Wunde geschlagen. »Er hat alles geglaubt ... ich wollte, ich wäre tot.«

Baron Dahnow wanderte an dem Abend noch lange unruhig umher. Er mußte innerlich sehr heiß fühlen, da er nicht bemerkte, wie kalt der Herbstnebel sich auf ihn niederließ. »Sie liebte ihn noch,« sagte er sich immer wieder. »Sie liebt ihn heute noch, und wenn er sie zehnmal im Stiche ließ! Habe ich es nicht immer gesagt, daß er sie unglücklich machen würde? Aber gerade an diese Schwärmer, die heute so und morgen so sind, verschwenden sie ihre Liebe; als ob so einer nur wüßte, was lieben heißt.«

Dahnow schien sich das Zeugnis zu geben, daß er es wisse; jedenfalls wußte er das besser, als was gerade Zeit und Stunde sei – daran erinnerte ihn erst die Müdigkeit, die sich endlich geltend machte. Fröstelnd kehrte er in seinen Gasthof zurück; aber alle Behaglichkeit, die er sich angedeihen ließ, stellte sein inneres Gleichgewicht nicht her. Immer sah er das blasse, traurige Gesicht vor sich, immer hörte er die Worte wieder: Aber Sie, woher wußten Sie, daß es nicht wahr sei?

Unbehaglich war ihm selbst dann noch zumute, als er schon längst die Ruhe aufgesucht. Er huldigte der, wie viele es nennen, schlechten Gewohnheit, dann erst noch durch Lektüre seinen Geist zu beschwichtigen. Aber der Büchervorrat unter seinem Gepäck mußte ihm heute nicht das Rechte bieten. Die Kerzen an seinem Lager waren schon tief herabgebrannt, als er noch ungeduldig in seinem Lieblingsschriftsteller blätterte. Es war eine kleine Ausgabe des alten Goethe, die ihn stets begleitete; denn Baron Dahnow ließ auch auf Reisen nichts im Stiche, was ihm zur leiblichen oder geistigen Bequemlichkeit diente.

Endlich blieb er mitten im Götz von Berlichingen stecken. »Bei einem Mädchen, das vom Liebesunglück gebeizt, wird ein Eheantrag bald gar,« läßt der große Dichter den derben Sickingen von seiner sanften Maria sagen, mit mehr praktischer Weisheit als idealer Auffassung.

Hatte Dahnow gerade diese Stelle so lange gesucht? Und doch flog das Buch zur Seite; als sei es genug und übergenug, löschte er die Kerzen und schloß die Augen. Aber es mußten helle, freundliche Träume sein, die ihn heimsuchten; denn selbst im Schlafe blieb ein Lächeln auf den Lippen.


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