Ferdinande Freiin von Brackel
Die Tochter des Kunstreiters
Ferdinande Freiin von Brackel

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20

Komm herein, o Nacht, und kühle
Diese Gluten, diesen Schmerz!
Aus dem Wirrsal der Gefühle
Wie errett' ich nur mein Herz?

Wo wir einst so glücklich waren,
Hab' ich wieder sie gesehn, –
Und auf's neue, wie vor Jahren,
Ist's um meine Ruh' geschehn.
Geibel

Die Freude Lillys über das Wiedersehen ihres Vetters war arg gestört worden. Seine Krankheit entwickelte sich wenige Stunden nach seiner Ankunft so heftig, daß ein Arzt herbeigerufen werden mußte und sie sich veranlaßt fand, ihre Tante telegraphisch zu benachrichtigen. Die Gräfin traf am folgenden Tage ein. Für sie war nach den Jahren der Trennung das Wiedersehen ein noch trüberes. Das bleiche Antlitz, die veränderte Gestalt, der matte Blick, alles zeigte an, welchen Schlag den ganzen Organismus des jungen Mannes getroffen hatte – daß es einer jener heftigen Stöße war, die den Menschen äußerlich wie innerlich gänzlich umwandeln.

Schlich nicht etwas wie Reue bei ihr ein, als sie jetzt stundenlang an seinem Lager saß, indes er mit geschlossenen Augen da lag – zu müde, den Ton ihrer Stimme zu ertragen, zu gleichgültig, eine Frage nach der Heimat zu tun, zu kühl und verschlossen, auch nur eine Zärtlichkeit der Mutter zu erwidern oder ein Wort des Zutrauens an sie zu richten? Es war, als sei ein Eiseshauch über dies warme, bewegliche Herz gefahren und habe es erstarren lassen.

Aber die Gräfin liebte nicht, über Geschehenes zu grübeln. Sie hatte ihrer Ansicht nach nichts getan, was nicht ihre Pflicht gewesen; sie bedachte vielleicht am wenigsten dabei, daß wir keine Pflichten so streng durchführen, als die wir selbst uns auferlegen.

In ihren Augen war an seinem Zustande das Klima schuld, die Intrigen jener Menschen und seine eigene Schwäche. Für sich fand sie Befriedigung in dem Gedanken, wie notwendig es stets gewesen sei, ihn zu leiten, wie schädlich, ihn sich selbst zu überlassen, und wie aufmerksam sie noch ferner sein müsse, alle Erinnerungen an das Vergangene ihm fernzuhalten.

Die Ursache des jetzigen Rückfalles kannte niemand außer dem Kaplan, der aber, da Kurt schwieg, auch schweigsam blieb. Er hatte, im Gegensatz zu der Gräfin, die Ansicht, daß es Sachen gibt, bei denen es besser ist, sie einer stillen Entwicklung zu überlassen, als fortwährend störend einzugreifen.

Es war September geworden, ehe man Kurt als einen Genesenden betrachten konnte. Die Herbstsonne, die noch allen Glanz, aber nicht mehr die Glut des Sommers hatte, fiel auf den weichen, grünen Rasen und auf das Blumenparterre, das sich vor dem Göhlitzer Schlosse hinzog bis hart an die Terrasse, auf die der Sommersalon mündete. Es war ein reizender Platz, ganz wie für einen Rekonvaleszenten geschaffen; die Sandsteinplatten, die schützenden Schloßmauern, die Topfgewächse und ausländischen Pflanzen, welche die Terrasse zierten und fast zu einer blühenden Laube umwandelten; im Vordergrunde die Rasenfläche mit ihren zierlichen Beeten und deren Überreichtum an Blüten und Farbenpracht; der Fernblick begrenzt durch Berg und Wald, indes nebenan das behagliche Gemach als Zuflucht blieb, sobald die Sonnenglut zu stark wurde oder die Herbstluft kühler sich geltend machte. Seitdem Kurt sich vom Krankenlager erhoben, brachte er viele Stunden in anscheinend träumerischer Ruhe auf diesem Plätzchen zu. Die äußere Stille verdeckte aber nur den Kampf im Innern, den das plötzliche Wiedersehen mit Nora hinterlassen hatte. Es war ein ewiges Auf- und Niederwogen der Gefühle: die Liebe, die stürmisch erwacht war, die Willenskraft, die sie begraben wollte, die Reue, die sich geltend machte, die Zweifel, ob es recht gehandelt, sie ungehört zu verdammen. Die körperliche Abspannung machte ihm klares Denken unmöglich. Ruhe, Ruhe war es, wonach er lechzte; er hätte sich einspinnen mögen, um Ruhe und Vergessen zu finden. Aber Vergessen ist unabhängig von unserem Willen; je mehr wir es wollen, um so weniger können wir es. Die wenigen Menschen seiner Umgebung erschwerten es ihm, da sie mehr oder weniger an seinen Erlebnissen teilgenommen hatten. Lilly war die einzige Person, welche ihm ganz unbefangen gegenüberstand und deren Anwesenheit ihn deshalb am wenigsten störte, ihm am behaglichsten war.

Sie sah in ihm nur den lange Vermißten, den sie sehnsüchtig erwartet, den Kranken, für dessen Leben sie gezittert hatte, den Genesenden, dessen Wiederaufleben sie mit so tiefer Freude erfüllt, daß der Strahl davon aus ihrem Auge leuchtete. Ihn unter ihrem Dache zu wissen und ihrer Fürsorge anheimgegeben zu sehen, gewährte ihr ein Glück, das sie aus ihrem eigenen, etwas schwerfälligen Selbst ganz heraustreten ließ. Ihr zäher Sinn hielt seine Liebe unerschütterlich fest.

Kurt liebte den Platz auf der Terrasse nicht weniger darum, daß er so oft Lilly als Staffage hatte. Ihre ganze Erscheinung paßte gut zum hellen Tage. Der frische Teint, das blonde Haar, der freundliche Blick traten am Tage besonders hervor, wohingegen sie abends im Salon oft ermüdet und nichtssagend aussah. Auch der einfache Stil, der häusliche Anzug kleidete sie besser als größerer Putz. Und so kam es wohl, daß Kurt die Bemerkung machte, seine kleine Cousine habe sich in den Jahren, seit er sie nicht gesehen, sehr vorteilhaft verändert. Die Gestalt selbst war höher und schlanker geworden, das damals kugelrunde Gesicht hatte ein hübsches Oval angenommen, und wenn sie lachte, zeigten sich zwei Grübchen in den Wangen. Lilly aber lachte oft in ihrer stillen Weise, seitdem Vetter Kurt ihr Gast war.

Sein Auge ruhte nicht ungern auf der hübschen Erscheinung, deren gleichmäßiger Ausdruck etwas Beruhigendes hatte, und es unterhielt ihn, sie in ihrer emsigen Geschäftigkeit zu beobachten. Lilly aber war immer beschäftigt, sei es, daß sie in eifriger Beratung mit den Stützen ihres Hauses war, oder daß sie zwischen ihren Beeten, die ihr ganzer Stolz waren, sorglich umherwandelte, oder daß sie mit einem Anflug von Würde ihren Gutseingesessenen oder Armen Audienz gab – alles Pflichten, denen sie pünktlich oblag und die in letzter Zeit auffallend viel in der Nähe der Terrasse sich abwickelten, vielleicht weil die kleine Dame es für gastliche Pflicht hielt, soviel als möglich in der Nähe des kranken Gastes zu weilen. Und wenn Kurt sie aus ihrem emsigen Treiben zu sich rief und sie hoch erglühend vor Freude neben ihm Platz nahm, dann störte es ihn nicht, daß über die rosigen Lippen nur wenige Alltäglichkeiten kamen. In der Uebermüdung des Geistes und Körpers, worin er sich befand, forderte er keine Anregung; glaubte er doch mit dem Leben abgeschlossen zu haben, wie man es in der Jugend so leicht wähnt. Aber der Gedanke tauchte zuweilen in ihm auf, daß es behaglich sein müsse, jemand so still neben sich zu haben, auf dessen Schultern man alle kleine Sorgen und Pflichten des täglichen Lebens niederlegen könnte.

Als Kurt in der Genesung voranschritt, ward das Leben in Göhlitz geselliger. Die Gegenwart der Gräfin gab der jugendlichen Wirtin den nötigen Schutz, und die Rückkehr Degenthals bot vielen, besonders Herren, die Veranlassung, sich auf angemessene Weise dort einzuführen. So hatte eines Nachmittags, wie jetzt schon öfter, ein kleiner Kreis auf der Terrasse sich versammelt, Nachbarn der Umgegend wie auch einige frühere Bekannte Degenthals, die der Bahnzug aus der Hauptstadt hergeführt hatte. Der Rittmeister, welchen der Kaplan letzthin im Zirkus gesprochen, befand sich unter ihnen.

Es gibt Tage, die einen besonderen Reiz entfalten an Schönheit, Frische und Anregung. Ein solcher schien heute für die Gesellschaft im Göhlitzer Garten zu sein. Vielleicht war weniger die Natur daran schuld, als die Stimmung der jungen Herrin selbst, welche – ihrem sonst so zurückhaltenden Wesen gar nicht gemäß – ungemein heiter und belebt war und den anmutigen Mittelpunkt des Ganzen ausmachte. In ihrem lichtblauen Kleide, blaue Schleifen im Haare, war sie der einfachen, reizenden Flachsblüte ähnlich. Glück und Liebe, diese magischen Verschönerungsmittel, gaben ihr einen Ausdruck von Leben und Wärme, den sie noch nie gezeigt hatte. Wäre es der Besitzerin von Schloß und Herrschaft Göhlitz auch nie schwer geworden, Verehrer zu finden, so fesselte sie doch heute auch durch ihr eigenes Selbst. Die anwesenden Herren umringten eifrig den Platz, wo sie gleich einer kleinen Königin unter den blühenden Oleandern saß, deren rosige Blütenbüschel sie wie eine Krone umgaben und an Frische kaum mit ihr wetteifern konnten. Sie nahm alle Huldigungen mit der ruhigen Sicherheit hin, die sie stets auf ihrem eigenen Grund und Boden hatte, indes für sie doch nur einer zu existieren schien. Es war verzeihlich, daß Kurt den freundlichen Augen nicht gerade auswich, die ihn allein stets suchten. Wessen Mannes Eitelkeit, in welcher Gemütsverfassung er sich auch befinden mag, schmeichelt es nicht, unter vielen der Bevorzugte zu sein? Kurt saß in verwandtschaftlicher Zutraulichkeit neben ihr; sein Arm lag auf der Lehne ihres Gartensessels, seine Finger spielten mit dem Bande, das aus ihrem Haare flatterte, als habe er ein gutes Recht dazu, und seine Sprache wurde unwillkürlich wärmer und beredter bei den schönen Redensarten der anderen, denn nur er vermochte doch die helle Röte auf Lillys Gesicht zu rufen, die ihr so allerliebst stand.

»Alles huldigend!« sagte scherzend der Kaplan, an den Kreis herantretend.

Lilly sah froh und stolz zu ihm auf.

»Ah, Hochwürden«, sagte des Rittmeisters laute Stimme dagegen. »Sie dürfen uns nicht mehr verwarnen, seitdem Sie selbst neulich sich so beeilten, der Schönheit Ihre Huldigung darzubringen?«

»Wieso?« fragte der Kaplan etwas erstaunt.

»Nun, nun,« lachte der Rittmeister, »entsinnen Sie sich! Keine Zeit mehr für uns, Abreise vorgeschützt... und dann eine Karte geschickt der Schönsten der Schönen! ... Warten Sie nur! Sie ahnten an dem Morgen nicht, daß ich ungesehen gerade neben Ihnen stand, als Sie Ihre Erkundigungen im Hotel einzogen. Ich hoffe aber, Sie haben in Ihrem geistlichen Eifer der schönen Name keine zu strenge Predigt gehalten. Der Zirkus Karsten wäre nichts ohne die reizende Nora.«

»Ah! Sie sprechen von meinem Besuche bei Fräulein Nora Karsten,« sagte der Kaplan, entschieden unangenehm berührt von dem gerade nicht zarten Scherz. »Ja, ich suchte sie auf. Ich kenne sie seit ihrer frühesten Kindheit,« fügte er ruhig hinzu.

Kurt zuckte, zusammen, das Band in Lillys Haaren flatterte wieder frei. Sonst verharrte er anscheinend gleichgültig in seiner zurückgelehnten Stellung.

Die Gräfin aber, die nicht weit von der Gruppe Platz genommen, hob lauschend den Kopf; sie schien nicht glauben zu können, recht gehört zu haben.

»Ja,« fuhr der Rittmeister ahnungslos fort, »man muß es bekennen: etwas Schöneres als das Mädchen zu Pferde kann man nicht sehen. Wirklich, Degenthal, so etwas von Reiten existiert nicht zweimal. Ist sie Ihnen auf Ihren Neffen nie begegnet? Der Zirkus Karsten existiert doch so ziemlich überall schon.«

»Nein,« sagte Degenthal kurz und hart.

»So gehen Sie doch in die Hauptstadt. Es ist der Mühe wert. Jetzt als Libussa macht sie wahnsinniges Aufsehen. Selbst der hochwürdige Herr hier war ganz begeistert.«

»Nicht so wohl begeistert, als von tiefem Mitleid erfüllt,« gab der Kaplan zurück. »Ein hartes Geschick hat sie gezwungen, diese Bahn zu betreten. Sie war zu ganz anderem erzogen.«

»Kurt,« unterbrach die Gräfin jetzt schneidend die Unterhaltung, »es fängt schon an, kühl zu werden; du darfst dich gewiß nicht länger im Freien aufhalten. Willst du nicht lieber hineingehen?«

Der junge Mann antwortete nicht, er leistete der Aufforderung aber auch keine Folge. Vielleicht war es ein Zugeständnis, das er der Ermahnung zur Vorsicht gab, daß er seinen Strohhut aufsetzte, und so tief über die Stirn zog, daß sein Antlitz dadurch verdeckt wurde.

Der Rittmeister ließ sich in seinem Gedankengange nicht stören. »Warum ein hartes Geschick?« fuhr er zum Kaplan gewandt fort. »Sie ist ja die Tochter ihres Vaters ... also nichts natürlicher! Sie soll aber sehr anständig und überaus zurückhaltend sein, das habe ich auch gehört.«

»Man sagt, sie sei mit dem schönen Landolfo verlobt, dem ersten Geschäftsführer ihres Vaters,« sagte einer der anderen Herren.

»Und dem zuliebe hat sie die öffentliche Laufbahn betreten,« meinte ein Dritter. »Früher trat sie nicht auf, so wird erzählt.«

»Ich glaube, daß das alles nur Gerede ist,« bemerkte der Kaplan.

»Aber von einer Liebesgeschichte wurde ganz bestimmt gesprochen,« bestätigte der Rittmeister. »Ich entsinne mich nur nicht klar, wie es zusammenhing.«

»Es wird viel geredet, besonders in solchen Sachen, doch liegt dem oft keine Wahrheit zugrunde. In diesem Falle kann ich das sogar bestimmt behaupten. Wie gesagt, ich habe sehr bedauert, daß Fräulein Nora den Schritt getan; doch gibt es oft schwer zu bewältigende Verhältnisse, und ich kann ihr meine Achtung nicht versagen.«

»Aber, Kurt,« sagte die Gräfin jetzt herb und ungeduldig, »es ist unverantwortlich von dir, noch zu bleiben! Der Herbstnebel fällt... wie willst du genesen, wenn du so unvorsichtig bist?«

»Je n'en vois peut-etre pas la nécessité,« gab der junge Mann aufstehend zur Antwort. Doch entfernte er sich nicht weiter als bis zur Tür des Salons, wo er angelehnt stehen blieb. Es war, als könne er sich der Unterhaltung nicht entziehen.

»Ich habe Nora Karsten sehr gut gekannt,« sagte Lilly, »und mehr als das: ich hatte sie sehr lieb. Wir waren zusammen in demselben Pensionat in Brüssel. Ich habe es nicht glauben wollen, als ich hörte, daß sie auftrete. Aber der Herr Kaplan hat gewiß recht in dem, was er sagte: nur ein sehr ernster Grund kann sie dazu vermocht haben. Ist ihr Vater vielleicht arm geworden?«

»Danach hat es durchaus nicht den Anschein, Komtesse. Der Zirkus Karsten macht enorme Geschäfte und hat sich mit jedem Jahr vergrößert.«

»Was mag es denn sein?« fragte Lilly sinnend. »Die arme Nora!« »Wenn sie so erzogen wurde, wie Sie sagen, Komtesse, ist es freilich ein trauriges Geschick,« erklärte ein älterer Herr. »Schon das gänzliche Ausscheiden aus jeder anderen Gesellschaft muß furchtbar sein.«

»Arme Nora,« wiederholte Lilly. Im selben Augenblick aber traf ihr Blick die Gräfin, die in immer peinlicher werdender Unruhe auf ihren Sohn sah. Lilly glaubte sie zu verstehen. »Ich denke, wir tun am besten und heben hier die Sitzung auf,« sagte sie, »um den unartigen Vetter da zur Vernunft zu zwingen. Komm, Kurti; im Salon ist es jetzt gemütlicher.«

Dem Winke der jungen Hausherrin folgend, begab sich alles ins Haus; aber gemütlicher wurde es nicht. Die frühere Munterkeit war geschwunden und ein Druck schien sich auf die ganze Gesellschaft gelegt zu haben. Der Gräfin Blicke mochten dazu beitragen. Mit erregter Ängstlichkeit hafteten sie auf dem Sohne, der freilich auch auffallend blaß und plötzlich ganz stumm geworden, wie übermüdet in einem Sessel lehnte. Man rüstete sich zum Aufbruch, um dem Rekonvaleszenten Ruhe zu bringen.

Ehe der Rittmeister sich verabschiedete, trat Lilly noch einmal an ihn heran. »Bleibt der Zirkus Karsten noch einige Zeit in Wien?« fragte sie leise.

»Soviel ich mich entsinne, war seine letzte Vorstellung schon angekündigt. Aber ich kann Sie benachrichtigen, Komtesse, wenn Sie es wünschen.«

»Nein, danke,« sagte Lilly hastig, da sie sah, daß ihre Tante sich näherte. »Ich weiß jetzt schon: er wird also jedenfalls nur noch kurze Zeit bleiben. Ich werde sehen..«

Der Rittmeister sah ein, daß sie den Gegenstand jetzt nicht weiter erörtert zu haben wünschte.

»Aber ich bitte Sie, Herr Kaplan,« sagte die Gräfin sehr gereizt, als sie sich nach Entfernung der Gäste mit dem Geistlichen allein sah, »wie konnten Sie so unvorsichtig sein, das Gespräch in dieser Weise aufzunehmen, diese Erinnerungen bei meinem Sohne zu wecken?«

»Ich glaube, die Erinnerungen haben noch nie bei ihm geschlafen und sind nach wie vor die Ursache seines Leidens,« sagte der Kaplan ernst.

»Ah! bah!« rief die Gräfin, »an seiner Krankheit war nur das Klima schuld. Jetzt gilt es nur, ihn von jeder Annäherung an das Frühere fernzuhalten, und deshalb war mir seine Abwesenheit bis jetzt lieb. Mit der größten Vorsicht habe ich stets jedes Wort vermieden, was ihn daran hätte erinnern können.«

»Frau Gräfin, wir Menschen können mit all unserer Fürsorge unendlich wenig. Graf Kurt und Fräulein Nora sahen sich schon wieder.«

»Um Gottes willen!« rief die Gräfin, »wie war das möglich?«

»Sie trafen durch einen Zufall auf seiner Reise hierher im Zuge zusammen, und die Erschütterung dieses Wiedersehens war die Ursache der neuen Erkrankung des Grafen. Sie sehen, wie wenig die Erinnerung geschlafen hat, wenn sie noch so mächtig wirken konnte.«

»Mein Gott, mein Gott!« rief die Gräfin wieder, »und das gerade jetzt, wo ich soviel Hoffnung hatte, wo alle meine Pläne so gut paßten, ihn mit seiner Cousine zusammenzubringen?«

»Machen Sie lieber keine Pläne, Frau Gräfin, die ihn nur zurückschrecken würden. Überlassen Sie dem Himmel, daß er es füge, wie es allen zum Besten gereicht. Von Fräulein Nora werden Sie nichts zu befürchten haben; sie hat alle Ansprüche an ihn längst aufgegeben.«

»Hätten Sie nur wenigstens den Herren nicht widersprochen! Es war ganz gut, daß Kurt hörte, wie man über sie spricht.«

»Es war aber eine Unwahrheit, und eine Unwahrheit tut nie gut,« sagte der Kaplan bestimmt, aber milde; denn die Gereiztheit der Gräfin tat ihm mehr leid, als sie ihn verdroß, da er ihren Kummer verstand. »Das Zeugnis der Wahrheit erforderte, daß ich sprach, denn ich kenne die traurige Wendung der Dinge.«

»Hatten Sie aber nötig, die Verbindung mit dieser Familie durch Ihren Besuch wieder anzuknüpfen? Ich war so glücklich in dem Gedanken, daß sie für immer abgebrochen sei,« fuhr die Gräfin noch heftiger fort. Ihre Aufregung suchte einen Ausweg und einen Ableiter.

»Es handelte sich nicht um einen Besuch, Frau Gräfin, sondern um eine Seele, und die geht meinen Beruf immer an. Ich sah, daß das arme Mädchen, durch Unglück und Erbitterung getrieben, einer großen Gefahr nahe war, und ich wollte versuchen, ihr durch mein Wort beizustehen, wie ich das der sterbenden Mutter einst versprochen hatte. Mit Gottes Hülfe denke ich, ist es mir gelungen.«

»Nun, jedenfalls reitet sie noch immer,« sagte die Gräfin schneidend. Von Anfang an habe ich prophezeit, daß nur Verkehrtes daraus entstehen könne. Denken Sie darüber, wie Sie wollen ... Aber was tun wir für meinen armen Sohn? Wäre er lieber noch fortgeblieben.«

»Tun Sie gar nichts, Frau Gräfin,« sagte der Kaplan mit Entschiedenheit. »Ich fürchte, in der Sache ist nur zu viel geschehen; es hat schon die Gesundheit Ihres Herrn Sohnes und das junge Lebensglück einer anderen gekostet. Wenn wir einem Unglück allzu ängstlich ausweichen wollen, stürzen wir meist in ein anderes.«

Die Gräfin war aber nicht leicht zu überzeugen.


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