Ferdinande Freiin von Brackel
Die Tochter des Kunstreiters
Ferdinande Freiin von Brackel

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6

Man soll kein Leben auf Gefühle bauen,
Die mit den Dingen nicht im Einklang sind!
Das Herz ist wandelbar, die Dinge bleiben.
Geibel.

Dahnow war nach dreimonatiger Abwesenheit zurückgekehrt. »Wo ist Degenthal?« hatte er gefragt, als er ihn im Kreise der Freunde, die ihn willkommen hießen, nicht sah.

»Ja, Degenthal,« lautete die Antwort, von Achselzucken und geheimnisvollem Lächeln begleitet, »der hat anderes zu tun; den sieht man kaum noch.«

»O Liebe, Liebe, du bist so wunder-wunderschön!« sang einer mit pathetischer Stimme, die Hand auf das Herz legend.

»Was ist's mit ihm?« fuhr Dahnow heraus, sie fast grollend ansehend. »Was habt ihr mit ihm?«

»Wir haben nichts mit ihm, aber er scheint etwas mit anderen zu haben, daß er sich so rar macht; vielleicht ist er auch nur Studiums halber so unsichtbar ... in der Villa studiert er vielleicht schöne Künste.«

»Ach was,« fiel der Westfale dem Redner ins Wort, »ihr seid schlimmer als eine Gesellschaft alter Jungfern! Degenthal war immer mit uns bis vor einiger Zeit, und einige von euch sind selbst oft genug in der Villa. Kann denn niemand ein hübsches Mädchen ansehen, ohne daß gleich alles schwatzt?«

»Es kommt darauf an, wie oft man sie ansieht!« lachte einer der anderen. »Degenthal macht sich das Vergnügen wenigstens gründlich.«

»Das ist übertrieben; er ist seit einigen Tagen verreist. Er hat eine Rheintour vor, sonst wäre er gewiß hier, Dahnow; er fragte öfter nach dir.«

Dahnow atmete auf; er hatte in all der Zeit nichts von Degenthal gehört, und wenn das auch gerade unter Männern, denen gemeinlich die Lust zu brieflicher Mitteilung abgeht, nichts Ungewöhnliches ist, so stieg bei den Andeutungen doch eine unheimliche Ahnung in ihm auf. Er mochte gar nicht weiter fragen. Als er sich nach dem kleinen Willkommensfest, welches die Freunde ihm bereitet hatten, von ihnen trennte, begleitete ihn der Westfale noch eine Strecke.

»Du, Klemens,« sagte er nach einigem Schweigen, »du könntest dem Degenthal doch ein Wort sagen: eure Alten waren ja befreundet. Ich hab's vorhin den anderen ausreden wollen; aber es gefällt auch mir nicht, daß er immer in der Villa liegt und sich von allem zurückzieht.«

»In welcher Villa?« fragte Dahnow.

»Na, da bei der Kunstreiter-Direktor-Familie! Das ist keine Gesellschaft für ihn, wenn die Leute auch noch so viel Luxus treiben. Das Mädchen ist schön; ich habe sie ein paarmal vorüberreiten sehen. Wenn Degenthal sich aber da verplemperte, wär's schade!«

»Ah bah!« sagte Dahnow, »wenn es das ist! Er kennt die Familie von früherer Zeit her. Ich glaube, das Mädchen kam durch einen Zufall auf längere Zeit in das Degenthalsche Haus, weil die Gräfin ihre Mutter kannte ... Kinderfreundschaft.«

»Geh' mir mit Kinderfreundschaft! Tu' Feuer und Stroh zusammen, dann brennt's!« meinte der vorsichtige Westfale. »Das ist schon Besseren passiert als dem Degenthal. Ich sage dir, warne ihn.«

»Warst du auch dort?« fragte Dahnow.

»Nein! Einige von uns gehen hin. Es sollen ganz anständige Leute sein, dagegen will ich nichts sagen; auch gegen das Mädchen nicht. Aber bei uns zulande bleibt man unter seinesgleichen, dann gibt es keine Dummheiten. Bei der Besucherei von Degenthal kann nichts herauskommen, als daß er sich oder das Mädchen unglücklich macht.« Der Westfale hielt selten so lange Reden und hatte sich ganz in den Eifer hineingesprochen.

»Ah bah!« machte Dahnow wieder. »Ihr Westfalen schließt euch dreifach hermetisch ab; das kann man anderen Menschenkindern nicht zumuten.«

»Wir sind bis jetzt nicht schlecht dabei gefahren. Tu', was du willst, ich hab's dir gesagt.«

»Wir wollen sehen,« sagte Dahnow beschwichtigend. »Degenthal wird wissen, was er tut.«

Der Westfale zuckte die Achseln und ging. Dahnow selbst war aber nicht so ruhig, als er vorgab zu sein. »Ich werde dem Jungen etwas aufpassen,« sagte er. »Im Grunde hat er gerade das Zeug zu den lebenslangen dummen Streichen in sich ... zu gut, um leichtsinnig zu sein, zu schwärmerisch, um vernünftig zu bleiben.«

Das Aufpassen wurde dem guten Dahnow für die ersten Tage aber schwer gemacht; denn er bekam Degenthal nicht zu sehen. Bei seinen jedesmaligen Besuchen in dessen Wohnung ward ihm ein »Nicht zu Hause« bedeutet.

»Vielleicht ist er vernünftig gewesen und ist abgereist,« tröstete sich der Dicke, entschloß sich aber, in der Villa den Stand der Dinge auszuforschen. Auf Grund seines ersten Besuches beim Direktor war eine Visite dort gerechtfertigt.

So setzte denn Dahnow eines Nachmittags seinen äußeren Menschen mit seines Besuches Absicht in Einklang und wanderte zu der Villa hin.

Er ward angenommen. Die Direktorin empfing ihn freundlich und erkundigte sich auf das liebenwürdigste nach seiner Heimat und seiner Reise. Einigen geographischen Ungenauigkeiten in bezug auf Mecklenburg hielt er ritterlich stand, und brachte die geschwinde Zunge der Dame stets wieder in das rechte Fahrwasser, doch blieb sie hartnäckig bei dem Ausfragen stehen, ohne sich viel auf Mitteilungen einzulassen.

Dahnows graue Augen hatten sich indes vergeblich in den Salons umgeschaut, bis durch die hohen Erkerfenster sein Blick in den Garten fiel. Da erkannte er zwei Gestalten, die eifrig redend auf und nieder gingen. Die Direktorin war seinem Blicke gefolgt. »Ihr Freund ist eben hier,« sagte sie, »und wird sich gewiß sehr freuen, Sie zu treffen. Ach, Graf Degenthal ist ein ernster Mann; ich rette mich stets vor seinen und meiner Tochter Gesprächen ... Sollen wir die Herren Gelehrten hereinrufen?« setzte sie mit einem kleinen koketten Blicke hinzu, »oder sie ihrem Ernst überlassen?« Ein verlängertes Tète-a-Tète mit dem liebenswürdigen Baron, der so gut zu plaudern wußte, schien ihr gar nicht unangenehm.

Dahnow aber kleidete seine Wünsche, auch Fräulein Nora zu begrüßen, in die höflichste Form, und die Direktorin hüpfte mit neckischer Grazie an das Fenster, sie herbeizuklopfen. »Nun werden sie freilich alle gleich möglichst sérieux werden,« meinte sie, und sah mit beleidigter Kindermiene zu ihm auf – sie schien das naive Genre entschieden für das des Barons zu halten – »und jetzt: sauve qui peut ... Ich hoffe, wir sehen Sie öfter in dieser Zeit,« setzte sie hinzu, – und ehe ihre Stieftochter eintrat, hatte sie das Zimmer verlassen.

Jedenfalls war es mehr Ueberraschung als Freude, was sich in Degenthals Zügen malte, als er sich plötzlich seinem Freunde gegenübersah. Dahnow bemerkte es nicht, so nahm ihn Noras Anblick gefangen. Sie begrüßte ihn mit lebhafter Freundlichkeit. Was war mit ihr vorgegangen, seitdem er sie gesehen? Das war nicht mehr das steife, abweisende Mädchen, das er damals so summarisch unter die Backfische verwiesen hatte. Ihre Gestalt schien anmutiger; war es das leichte Sommergewand, was sie so vorteilhaft erscheinen ließ? War es, daß die dunklen Haarmassen jetzt Stirn und Schläfen frei ließen, um in reichen Locken am schlanken Halse niederzufallen? Jede Linie, jede Falte zeigte den echt weiblichen Wunsch nach Verschönerung und Gefallen; die Augen strahlten dabei so hell, der Mund lachte so lieblich, daß es Dahnow war, als sei ihm niemals so viel Liebreiz entgegengetreten.

»Bist du schon zurück?« fragte Degenthal, dem Freunde die Hand auf die Schulter legend. »Ich ahnte nicht, weshalb wir hereinbeordert wurden.«

»Schon?« sagte Dahnow und sein Blick, den er von Nora auf seinen Freund wandte, zeigte das schelmische Blinzeln, das bei aller Ruhe sein Antlitz so sehr beleben konnte. »Schon? Die drei Monate scheinen dir kurz vorgekommen zu sein. Du mußt mich nicht sehr vermißt haben ... Hast du nicht eine ziemliche Anhäufung meiner Karten bei dir gefunden? Seit acht Tagen suche ich vergeblich bei dir Einlaß zu finden.«

»So?« sagte Degenthal zerstreut. Er schien nur Augen für Nora zu haben, die sich jetzt dem Erker zuwandte. »Ja, ich war einige Tage abwesend; ich hatte zu tun ... ich hatte gar nicht gehört, daß du zurück seiest.«

»Ich habe überhaupt die melancholische Beobachtung gemacht, daß du sehr gut leben kannst, ohne von mir zu hören, mein Bester ... Was haben Sie alles getrieben diesen Sommer, Fräulein Nora, daß mein Freund so stumm blieb? Oder war er so mit Studien beschäftigt, daß er auch Sie vernachlässigt hat?«

»O nein,« sagte Nora warm; »uns ist Graf Degenthal ein sehr treuer Freund gewesen. Fast täglich ist er gekommen; ich weiß gar nicht, wie die Tage uns sonst vergangen wären.« Jetzt streifte sie Dahnows scharfer Blick, und unwillkürlich stieg ihr eine leichte Röte auf die Stirn. »Der Sommer in dieser herrlichen Gegend ist mir dahingeflogen wie ein einziger reizender Traum,« setzte sie hinzu, den Kopf wie träumerisch zurücklegend.

»Warum wie ein Traum?« warf Degenthal mit sichtlicher Unruhe dazwischen.

»Weil wir ja so bald unsere Zelte hier abbrechen ... und dann kommt alles anders,« sagte sie. Es lag etwas Klagendes in ihrer Stimme.

Degenthal sah sie forschend an; eine Frage schien auf seinen Lippen zu liegen.

Dahnow indessen fing an, sich merklich unbehaglich und zuviel zwischen den beiden zu fühlen.

Plötzlich sprang Degenthal auf. »Du wirst doch noch viel von deinen Reisen zu erzählen haben.« sagte er mit erzwungener Leichtigkeit zu seinem Freunde; »ich darf leider mich nicht länger hier aufhalten ... Fräulein Nora, empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer Frau Mutter ... Ich treffe dich, wenn nicht heute abend, so doch morgen wohl, und dann sollst du auch mir berichten.«

Unwillkürlich war Dahnow bei dem plötzlichen Abschied ebenfalls aufgesprungen. Er wollte gerade den Mund öffnen, um zu erklären, daß er Degenthal begleiten wolle, als dieser schon den Hut ergriffen hatte.

Einen Augenblick ruhte Noras Hand in der seinen. »Ich darf ja dieser Tage wiederkommen?« sagte er. »So eilig brechen Sie Ihre Zelte doch nicht ab?« Und mit einem kurzen »Adieu!« war er verschwunden.

Der Dicke wurde etwas perplex bei diesem hastigen Rückzuge. Hatte er sich im stillen doch vorgenommen, gerade den Rückweg zu einem ernsten Wort zu benutzen, anknüpfend an das Gesehene: und nun entschlüpfte der Freund ihm.

Seine Reiseerzählungen, über die er den Mund noch nicht aufgetan, schienen auch nicht allzusehr das Interesse der jungen Dame in Anspruch nehmen zu sollen; denn für den Augenblick blieb der Kopf ihm ganz abgewandt, die Augen fest auf den Garten gerichtet, wo Kurts elastische Gestalt eben verschwand. War es nur tändelndes Spiel, daß sie den roten Nelkenstrauß, den sie aus dem Garten mit hereingebracht, dabei so fest an die Lippen preßte, als wollte sie den Duft desselben einsaugen?

Klemens Dahnow hatte Vernünftigeres zu denken gehabt in dem Augenblick; aber der einzige Gedanke, dessen er sich klar bewußt wurde, war der, daß er mindestens der Geber der Nelken hätte sein mögen, die in so unmittelbare Berührung mit diesem reizenden Munde kamen.


Zwei Stunden später ging Dahnow, noch immer erregt, in seinem Zimmer auf und nieder. Er war der echte Nordländer, der alle erregten Stimmungen unter Dach und Fach in seinen vier Wänden abzumachen liebt, indes der Südländer sie in die freie Natur hinausträgt. Dahnows »vier Wände« bedeuteten zwar vier mit aller Behaglichkeit eingerichtete Zimmer; denn auch darin war er eine echt nordische Natur, daß selbst im leichten Studentenleben seine Häuslichkeit ihm die Hauptsache blieb. Bisher hatte er alle seine Denkübungen bequem auf der Chaiselongue liegend bei dampfender Havanna vorgenommen; doch heute schien alle Ruhe und sein ganzer Gleichmut ihn verlassen zu haben, daß er sich trotz der drückenden Spätsommerschwüle solcher rastlosen Bewegung hingab. »Es muß etwas geschehen!« wiederholte er sich dabei in einem fort; »es muß etwas geschehen! Man kann den Jungen nicht so in den Unsinn hineinlaufen lassen ... er kann ja nie daran denken, sie zu heiraten. Und das Mädchen unglücklich zu machen! Es muß etwas geschehen ...« Trotz dieser oft aufgestellten Behauptung geschah aber fürs erste nichts; nur daß es ihn dem Schreibtische näher trieb, als liege dort der Schwerpunkt der Tat. »Man muß es seine Mutter wissen lassen ... es ist Freundespflicht ... vielleicht kann sie es noch hindern. Das hat man davon,« setzte er hinzu, »wenn man die Jungens nur durch Weiber erzieht! Dann kann das erste beste Frauenzimmer mit ihnen anfangen, was es will.« Und doch fühlte Dahnow gleich nach diesem Ausspruch etwas wie Reue aufsteigen, indem Noras Liebreiz ihm vor Augen trat. Sie konnte doch wohl am wenigsten unter »die ersten besten Frauenzimmer« gezählt werden. »Freilich, die könnte auch einen Philosophen toll machen,« brummte er weiter; »aber um so mehr! Er hat kein Recht dazu, das liebliche Wesen unglücklich zu machen, und seine Verhältnisse verbieten ihm geradezu, an solche Heirat zu denken.«

Dabei nahmen Baron Dahnows Gedanken eine kleine Abschweifung auf seine eigenen »Verhältnisse« vor, oder richtiger gesagt, auf die Abwesenheit alles dessen, was mit diesem Namen hätte bezeichnet werden können. Klemens Dahnow gehörte einer alten Familie an; seine Eltern waren früh gestorben, und der Besitz eines selbständigen Vermögens stellte ihn ganz frei. Da seine beiden älteren Brüder schon für die Fortpflanzung des guten Namens in ebenbürtiger Weise gesorgt hatten, brauchte der jüngste Sprosse der Familie niemand Rechenschaft abzulegen, wenn er eine Wahl treffen wollte, und war durch nichts gebunden, jeden Augenblick nach freiem Gutdünken zu handeln.

Eigentümlich aber, daß meist auf solchem Boden die einsam bleibenden Menschen gedeihen. Auch um in den Hafen der Ehe einzulaufen, gehört der Ballast der Wenns und Abers in das Lebensschifflein; denn die dessen entbehren, treiben meist ziellos draußen herum. Dahnow schien gleichwohl in diesem Augenblicke durch den Gedanken an seinen »Mangel an Verhältnissen« durchaus nicht unangenehm berührt zu werden; denn ein leichtes Schmunzeln zog über das runde Gesicht. Heldenmütig riß er sich von dem Gedankenstreifzug los, um auf den Freund zurückzukommen.

»Seine Mutter muß es wissen ... es ist Gewissenssache,« war sein wiederholter Schluß. »Am besten wird es sein, daß sie ihn Geschäfte halber abruft. Schwärmer, wie er, vergessen auch leicht wieder; aber mir, dem älteren Freunde, würde sie es nie vergeben, nicht gewarnt zu haben. Eine Kunstreiterstochter ... das wäre der alten Gräfin eben recht!«

Baron Dahnow ließ sich mit einem schweren Seufzer endlich am Schreibtische nieder. Die Feder ruhte eine Weile unentschlossen in der Hand, bis sie in Fluß kam, bis die kleinen, scharf gezeichneten Buchstaben, die bei weitem mehr das Innere als das Aeußere des Schreibers verrieten, den Briefbogen bedeckten. Als der letzte Schnörkel des Namenszuges vollführt, warf er die Feder fort, als brenne sie ihm in den Fingern. »Teufelswerk, solche Angeberei!« brummte er vor sich hin. »Und doch, wenn einmal nötig, soll man eine Sache nicht halb tun. Der andern Partei wär's auch gut, zu erfahren, wie die Sachen stehen! Die zarte Hoffnung, als könnten sie den jungen Grafen einfangen, die mir die Frau Stiefmutter zu hegen scheint, ist besser gleich im Keim erstickt. Der Mann hat mir überdies gefallen; er hat auch ein Recht, sein Kind vor einer harten Erfahrung zu schützen.«

So nahm Dahnow von neuem die Feder, um einen zweiten Brief zu stilisieren, der ihm nicht weniger schwer als der erste zu werden schien. Als er vollendet, siegelte und adressierte er mit einer bei ihm seltenen Hast beide Schreiben, sie sofort, ohne sie eines ferneren Blickes zu würdigen, seinem Diener zur Beförderung übergebend.

Er stand dann schwer atmend auf, warf sich in seinen bequemen Lehnstuhl, griff nach seiner feinsten Havanna und gab sich in fünf Minuten zehnmal das Zeugnis, nach bestem Ermessen gehandelt zu haben. Hätte man ihn aber in dem Augenblick als Spion hängen wollen, er würde es trotz allem als gerecht gefunden haben; in so kläglicher Gemütsverfassung befand er sich. »Hol mich der Henker, wenn ich den Jungen, sobald er morgen kommt, nicht zum Beichten bringe und ihm geradeheraus meine Meinung sage, damit er zur Räson kommt!« Das war der letzte Entschluß dieses ereignisvollen Tages für den ehrlichen Mecklenburger.

Vorsätze, die sich auf andere gründen, sind aber nie so genau innezuhalten. Der »Junge« kam eben am anderen Morgen nicht, und nachdem die Briefe doch nun einmal unwiderruflich geworden, beruhigte sich auch Dahnows Eifer, den Freund noch mündlich zur Räson zu bringen, wenigstens etwas.

Nach einigen Tagen wurde Dahnow die Unsichtbarkeit seines Freundes unheimlich. »Als der Berg nicht zu Mahommed kam, ging Mahommed zum Berge,« meinte er philosophisch und »stieg seinem Freund auf die Bude«, wie der technische Studentenausdruck dies bezeichnet. Der Eintritt ward ihm nicht schwer gemacht. Alle Türen waren geöffnet, so daß er ungehindert in Degenthals Zimmer gelangen konnte.

Degenthal lehnte im geöffneten Fenster, den Kopf, wie in Gedanken verloren, auf die Hand gestützt. Er wandte sich erst um, als er Dahnows Schritte dicht neben sich hörte. Einen Augenblick stutzte er und sah ihn wie fragend an; dann aber warf er sich, ihm plötzlich stürmisch um den Hals. »Du, gerade du der erste, mein bester Freund, der mir Glück wünschen kann, dem ich nichts verheimlichen will! Klemens, sie ist mein! Ich habe ihre Liebe, ihr Herz gehört mir seit ihrer frühesten Kindheit. Ich bin selig, daß all diese Ungewißheit zu Ende, daß alles klar ist zwischen uns.«

»Was klar? Zwischen wem alles eins? Bist du verrückt? Von wessen Liebe sprichst du?« rief der Dicke, unwillig sich losmachend.

»Ja, verrückt und toll vor Seligkeit!« rief Kurt, und seine Augen glänzten. »Von wessen Liebe ich spreche? Nun, hast du denn nichts geahnt, nichts bemerkt? Von Nora spreche ich natürlich! Sahst du je ein herrlicheres Geschöpf? Kennst du ein reizenderes, liebenswürdigeres Wesen? ... Und sie ist mein.«

»Bist du denn ganz blind und toll, daß du nicht einsiehst, in was für bodenlosen Unsinn du dich hineinrennst?« polterte der Dicke. »Muß man dir es denn vor den Kopf sagen, daß du kein Recht hast, eines Mädchens Liebe zu gewinnen, das du nicht denken kannst, zu heiraten? ... Du Graf Degenthal und sie des Kunstreiterdirektors Tochter. Hat dich wirklich aller gesunde Sinn verlassen?«

Degenthal ließ den Freund los. »Kannst du mich nicht eine Stunde glücklich sein lassen?« sagte er schmerzlich. »Ich weiß alles, was kommt; aber einen Tag wollte ich nur, an mein Glück denken. Erst heute morgen haben wir uns ausgesprochen, erst heute morgen haben wir uns ganz verstanden, sind alle meine Kämpfe beendet. Es war eine schwere Zeit!«

»Für solche Verrücktheiten brauchst du auch noch Zeit,« brummte Dahnow, indem er sich auf einen Stuhl niederließ.

Aber Degenthal schien ihn kaum zu hören. »Ich glaubte es anders,« sagte er, die Haare von der Stirn streichend und sich wieder an das Fenster lehnend. »Ich glaubte, sie hätte einen anderen Beruf im Sinne, dem ich sie nicht hätte streitig machen können.«

Ueber Dahnows Lippen fuhr ein zweifelndes Lächeln.

»Besonders in der letzten Zeit, da sie anfing, sich zurückzuziehen, da sie mir plötzlich fremder und kälter entgegentrat ... aber sie fürchtete nur, ihre Liebe zu verraten!«

setzte er mit strahlendem Antlitz hinzu. »Doch mich brachte diese Furcht, sie habe den Klosterberuf gewählt, zum Aussprechen; denn in meinem Herzen war es mir längst klar, daß nur Nora, nur sie allein mir je genügen würde. Ohne diese Furcht würde ich vorher alles geordnet haben, ihr die Bitterkeiten davon zu sparen.«

»Ich verstehe nicht,« sagte Dahnow wieder unwillig, »wie du so ohne weiteres mit all deinen Grundsätzen brechen kannst.«

»Grundsätze?« rief Degenthal. »Es gibt ein Ding, das zu allen Zeiten stärker gewesen ist als Grundsätze ... das ist die Liebe. Und wenn sie uns nicht in das Schlechte, Gemeine hinabzieht, braucht sie auch nicht im Kampf mit den Grundsätzen zu unterliegen. Hier aber wirkt eine eigentümliche Fügung mit. Nora ist mir als Kind schon zugeführt, gleichsam in die Arme gelegt, als sie schlimmer denn verwaist dastand. Ihre Mutter hat mich gesegnet; von dem Augenblick an habe ich mich wie verantwortlich gefühlt für ihr Lebensschicksal. Der Augenblick ist auch für ihre Erziehung entscheidend geworden; sie gehört nicht mehr den Kreisen an, in die der Zufall sie versetzte. So wie sie da ist, ist sie jeder Stellung ebenbürtig. Ich habe mir alles Wohl überlegt. Oder hältst du mich für Schurke genug, daß ich ohne bestimmte Absicht ihre Liebe annehmen könnte?« Sein Auge blitzte dem Freunde entgegen.

Dahnow schwieg einen Augenblick; er war aus dem Kontext gebracht. All die Tage hatte er sich vorbereitet, seinem Freunde das Geheimnis zu entlocken – und nun ward es ihm entgegengeschleudert. Seine Reden waren berechnet gewesen, vor einer nahenden Gefahr zu warnen, ein noch unbestimmtes Etwas zu bekämpfen – nun stand er vor einer vollendeten Tatsache; und statt einen Schwankenden, Zagenden, Reuigen zu finden, sah er Kurt vor sich stehen, als habe er das Vernünftigste, das Besonnenste von der Welt vollführt. Er wußte kaum etwas vorzubringen.

»Und deine Mutter?« fragte er lakonisch.

»Ja, meine Mutter,« rief Degenthal, »das ist das Härteste dabei. Es wird ihr furchtbar sein. Auch um ihretwillen habe ich lange mit mir gerungen. Ich hätte ihr mein eigenes Glück vielleicht zum Opfer gebracht, aber auch Noras Glück steht auf dem Spiel, ihre ganze Zukunft hängt davon ab. Wenn meine Mutter Nora sieht und kennen lernt, wird sie sehen, wie nur der Name sie von uns trennt. Persönlich wird sie gerade die Tochter sein, die ihr gefällt.«

»Sie hatte aber andere Pläne für dich, die eure Familienverhältnisse sehr wünschenswert machen.«

»Ich lasse nicht über meine Zukunft bestimmen,« sagte Degenthal trotzig. »Wenn meine Mutter die Schwierigkeiten für unüberwindlich hält, mag mein jüngerer Bruder die Güter übernehmen, und ich werde dann mit seiner Apanage mich begnügen. Nora ist mir alles wert.«

»Kurt, um des Himmels willen, bedenke, was du tust!« rief Dahnow. »Handle nicht in der Stunde der Schwärmerei ... höre doch einen vernünftigen Rat.«

»Ich bin nicht in schwärmerischer Stimmung: ich bin ruhig, wie du siehst. Aber sage alles, was du zu sagen hast; ich werde dir dankbar dafür sein.« Er setzte sich gelassen dem Freunde gegenüber.

Dahnow, der wenigstens seiner Pflicht genügen wollte, und der seine ganze Fassung wiedergefunden hatte, sagte alles, was über einen solchen Fall zu sagen ist und wohl schon hunderte Male dann gesagt wurde. Ja, er sagte es besser, als es in den meisten Fällen geschieht; denn er sagte es ohne Heftigkeit und Uebertreibung, kurz und mit einschneidender Wahrheit – aber er sprach auch mit dem gewöhnlichen Erfolge. Das beste Wort fällt wie ein Tropfen Wasser auf den heißen Stein: es zischt etwas, aber es löscht nicht.

»Ich habe mir alles überlegt und werde alles überwinden«, war die einzige, auch schon oft dagewesene Antwort.

»Wie aber denkst du es mit ihrem Vater zu halten?« fragte Dahnow noch.

»Ihrem Vater habe ich natürlich gleich geschrieben; er wird meinen Brief schon haben. Glaubst du, Nora sei ein Mädchen, das ein heimliches Verhältnis auch nur eine Stunde dulde?«

»Auch das noch!« sagte Dahnow. Doch dachte er mit einiger Befriedigung dabei, daß der Direktor vorbereitet sei.

»Meiner Mutter schreibe ich heute noch, ihr alles darzustellen. Ich werde sie nur um eines bitten: nicht zu urteilen, ehe sie Nora gesehen.«

»Sie wird sie gar nicht sehen wollen, oder ich müßte sie schlecht kennen ... Aber es ist nutzlos, jetzt weiter mit dir zu streiten,« sagte Dahnow aufstehend. »Es ist schwer begreiflich, wie der Mensch sein ganzes Lebensschicksal auf einen Moment des Gefühls bauen kann.«

»Einen Moment des Gefühls nennst du das, was sich all diese Wochen und Monate tief in mein Herz gegraben hat? – wovon ich die sichere Ueberzeugung habe, daß es sich in meine Seele gesenkt hat wie Goldgrund, der nie mehr wechselt: das einzige, was meinem ferneren Leben Glanz verleihen kann! Wäre es aber auch nur einen Moment gewesen, geh, solche Momente sind immer entscheidend. Gäbe es noch ein zweites Paar solcher Augen, Alter, ich würde dir sagen: versuche einmal hineinzuschauen, und sieh, was ein Moment vollbringen kann.« Lächelnd legte Kurt den Arm um des Freundes Nacken bei diesen Worten. »Sei gut,« setzte er hinzu; »sag mir ein gutes Wort zu meinem Glück.«

»Ich kann zu keinem Unsinn Glück wünschen,« sagte Dahnow, absichtlich sich verhärtend; »magst du es noch so poetisch einkleiden. Tu, was du nicht lassen kannst; aber ich werde immer dagegen sein.«

Trotz der herben Worte faßte die Rechte doch des Freundes Hand, und mit einem warmen Drucke schieden sie.

Dahnow war selbst noch jung. Hatte er auch seines Freundes Entschluß eine Torheit, eine Verrücktheit genannt, so blieb ihm die Verrücktheit doch im Sinn, wobei der Mensch so strahlend, so glücklich aussieht und das Leben so leicht nimmt. »Gäbe es noch ein zweites Paar solcher Augen!« hatte Degenthal gesagt, und die folgenden Tage ertappte sich Dahnow mehr als einmal darauf, darüber nachzudenken, ob er jemals solche Augen gesehen, solch kindlich liebliche Augen in so reinem, fast streng geschnittenen Zügen und so tiefblau bei so dunkler Umgebung. Er wußte sie sich so deutlich vorzuzaubern, daß sie ihn endlich Tag und Nacht verfolgten, und er sie sich vorstellen mußte, bald mit dem sehnsüchtigen Ausdruck, wie sie Kurt damals nachgeschaut, bald glückstrahlend, wie auch dessen Blicke jetzt gewesen. Dahnow wurde selbst ganz sehnsüchtig dabei zumute. »Glücklicher Kerl,« hätte er beinahe gesagt; aber zornig brach er ab. »Nichts wie bodenloser Unsinn! Mögen sie sehen, wie sie damit zurecht kommen; ich will mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun haben.«


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