Ferdinande Freiin von Brackel
Die Tochter des Kunstreiters
Ferdinande Freiin von Brackel

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An den Rhein, an den Rhein,
Geh' nicht an den Rhein,
Mein Sohn, ich rate dir gut;
Da geht dir das Leben zu freudig ein,
Da wächst dir zu wonnig der Mut!

Es war April. Graue Wolken jagten daher. Flocken flogen, der Sturm wirbelte; aber wo die Wolken auseinander gestoben, lachte reines Himmelsblau, strahlte der hellste Sonnenblick; die Flocken schmolzen schon im Fliegen; Wassertropfen, die wie Geschmeide glänzten, blieben an den braunen und grünen Baumknospen hängen und die Erde sah warm und lenzduftig aus. O, der schäkernde, übermütige Monat April! Schmeichelnd schaut er überall hin und lockt die Menschen aus der Winterhaft und die Blüten und Pflanzen aus den schützenden Hüllen, um sie gleich darauf wild zu schütteln. Und doch, wer widersteht dem losen Gesellen, wie oft er auch trügt.

Wogte es nicht auch heute auf den Promenaden der rheinischen Universitätsstadt unter den noch laublosen Bäumen auf und nieder, als müsse jeder einen Atemzug der weichen, lenzigen Luft erhaschen, die sich eben aufgetan, einen Strahl der warmen Sonne genießen, die so freundlich niederschien, als sei ihr Reich schon ganz hereingebrochen! Und doch glitzerten ringsumher die kleinen Tümpel als verräterische Zeugen des eben vorübergerauschten Wetters, und hoch oben am Himmel tauchte schon wieder eine Handbreit Grau auf, ein mahnendes Vorzeichen von dem, was da kommen würde.

Im Gewoge der Spaziergänger machte sich vorwiegend das bunte, kecke Studentenmützchen geltend. Es trat mit einem Uebergewicht auf, daß man sah, wie sehr es sich hier in seinem Rechte fühlte; und darunter hervor sahen die jungen, unbekümmerten Gesichter mit dem launig-übermütigen Ausdruck deutschen Studententums. Ja, deutscher April und deutscher Student: kennt man euch noch irgendwo anders so in eurer Eigenart? Findet man noch irgendwo dies Gemisch zweier Jahreszeiten, diese vermittelnde Pause zwischen zwei Lebensabschnitten? Vom März den Sturm, vom Mai die Sonne – herbe wie der Winter, aufjauchzend wie der Lenz – äußerlich wenig voranschreitend in der Entwicklung, doch innerlich gärend und sich klärend – wechselnd und toll, milde und schwärmend – das ist deutscher April und deutsche Studentenzeit. Mehr nach Süden, mehr nach Norden, mehr nach Osten, mehr nach Westen, da ist der Charakter beider der einen oder der anderen Jahreszeit bestimmt aufgedrückt. Aber hier kennt der Mann wie diese Natur die Uebergangszeit, wo die Unentwickeltheit der einen Periode sich mischt in die brausende Lebenslust der anderen, wo das Spiel des Knaben eingreift in den Ernst des Manneslebens, daß ein wunderlich Treiben daraus wird, das man später kaum begreift.

Doch goldenen Wein, reiche Früchte und trutzige Bäume zeitigt das Land der Aprilschauer, und tiefe Denker, kräftige Streiter, Männer in des Wortes ganzer Bedeutung gehen hervor aus der tollen deutschen Studentenlust. Und in seltener Analogie hat das Studententum sein Reich auch gerade dorthin verlegt, lebt sich da am tollsten aus, wo der April seine meisten Knospen und meisten Schauer hat. Am Rhein, am Neckar, an der Leine und Saale, in Mitteldeutschlands Mittelklima blüht das Studententum und wird dort auch am richtigsten erfaßt.

Die jungen Leute auf der erwähnten Promenade zeigten alle das Gepräge naiven Selbstbewußtseins und enger Zusammengehörigkeit, welches den Musensohn kennzeichnet. Meist sah man sie in Gruppen vereint in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft – Angelegenheiten, die dem Nichteingeweihten so rätselhaft erscheinen wie die ihnen eigene mystische Sprache, die den Eingeweihten in ein ganzes Reich von Regeln und Sitten versetzen, die dem Betreffenden stets von unendlicher Wichtigkeit dünken.

Eine der Gruppen löste sich jetzt auf unter Händeschütteln und Zunicken. Die Worte »Hotel X. vier Uhr« und »Bowle« verrieten die Absichten für die nächste Hälfte des Tages.

Zwei der jungen Leute schlugen eine Nebenallee ein. Sie bildeten einen auffallenden Gegensatz. Der eine fiel auf durch Breite und Körperfülle, die wunderlich zu seinem jugendlichen Gesichte standen, das, rund, blond und rosig, der personifizierte Ausdruck deutscher Behaglichkeit war und in dessen Fülle ein Paar kleine graue Augen nicht zur Geltung gekommen wären, hätte nicht ein scharfer, feiner Strahl daraus hervorgeblitzt, der nie sein Ziel verfehlte, wenn der jetzt fest geschlossene Mund den Kommentar dazu lieferte.

Sein Begleiter sah neben ihm noch schlanker aus, als er eigentlich war; denn die Gestalt entbehrte nicht des Ebenmaßes, und Biegsamkeit in Haltung und Gang ersetzte den Ausdruck von Kraft, den man vermissen konnte. Sein Antlitz war ebenso beweglich, wie das des anderen sich durch Ruhe auszeichnete, und verschwanden die Augen dort fast, so waren sie hier das Hauptmotiv. Es waren ernste Augen, tief und strahlend, wie braune Augen es sein können, noch ohne bestimmten Ausdruck, aber eine Fülle von Gedanken und Empfindungen verratend. Die breite Stirn zeugte von Denkfähigkeit, und ihre Weiße und Glätte ließ auf einen seltenen Grad von Reinheit und Offenheit schließen. Der weniger bedeutende Teil des Gesichtes war wohl die untere Partie desselben. Das kleine Bärtchen saß auf Lippen, deren weich geschwungene Linien mehr auf Güte als auf Festigkeit deuteten, aber auch jedes Zuges von Sinnlichkeit entbehrten. In der reichen Umrahmung des dichten braunen Haares war das Ganze ein sehr anziehendes Jünglingsantlitz, über dem Realen stehend, wie man es bei der Jugend so gerne sieht, doch frisch in das Leben schauend, fast lachend vor Jugendlust.

Seine Worte eben standen in Einklang damit. »Ich glaube wahrhaftig, man lebt nur hier,« sagte er, sein Stöckchen in die Luft wirbelnd. »Das ist ein Wogen und Treiben, ein Genießen und Freuen wie nirgendwo anders! Die Natur lockt, die Menschen locken, das Leben lockt, daß man kaum zu Atem kommt und doch fühlt, wie man innerlich wächst in so goldener Freiheit.«

»Ihr Süddeutschen seid nur Schulbuben auf euren Universitäten,« sagte der Dicke, mit der souveränen Verachtung, die ein eingefleischter Norddeutscher für andere Zustände als die seinigen an den Tag zu legen liebt. »Uebrigens gehen hier auch einige zugrunde an der goldenen Freiheit ... vulgo Bier oder güldenem Rebensaft. Du wirst für heute abend deine Kräfte auch wieder sammeln müssen; beim letzten Kommers fiel ein gewisser Fuchs zeitig genug ab.«

»Aller Anfang ist schwer, doch Beharrlichkeit siegt,« lachte der andere. »Uebrigens sind diese ewigen Trinkereien am wenigsten nach meinem Geschmack. Einige werden ja kaum nüchtern.«

»Besser immer noch, als nie berauscht gewesen zu sein in diesem Jammertal,« gab der Dicke zurück. »Wenn einigen nicht der Rausch zu Kopfe stiege, hätten sie gar nichts darin. ... Was hast du vor während der Pfingstferien, um dich nach deinen anstrengenden Studien zu erholen?«

»Ich habe noch keinen Entschluß gefaßt.« sagte der Schlanke zögernd. »Aber höre, Dahnow: begleite mich in meine Heimat; sieh dir den Fleck an, wo dein Alter so oft war, wo die Freundschaft unserer Väter sich begründete.«

»Dank für die freundliche Einladung. Doch komme ich, aufrichtig gestanden, lieber im Herbst zur Jagd ... Will deine Frau Mutter dich schon wieder einheimsen?« fragte er, ihn scharf ansehend.

»Sie würde es jedenfalls gern sehen, wenn ich käme.«

»Vorschlag für Vorschlag, Degenthal? Laß uns eine Tour in das Neckartal unternehmen: ich beredete es schon mit einigen unserer Freunde.«

»Das wäre so übel nicht; ich werde nach Haus darum schreiben.«

»Teufel auch, so entschließe dich einmal selbst!« rief der Dicke ärgerlich. »Du bist doch nicht an das Schürzenband deiner Mutter gebunden!«

Ueber des anderen Gesicht flog ein Schatten von Verdruß, und er richtete seine Gestalt etwas höher auf. »Du magst darüber denken, wie du willst,« sagte er; »aber ich liebe den Ton der Rücksichtslosigkeit gegen die Heimat nicht, den viele hier anschlagen. Es liegt etwas knabenhaft Rohes darin, was mich abstößt.«

»Mich auch,« sagte der Dicke, »obschon ich nicht mehr so glücklich bin, eine Heimat zu besitzen. Aber Kind ist Kind, und Mann ist Mann. Jede Uebertreibung schlägt auf die Länge in das Gegenteil um, und wenn du jetzt um jede Lappalie fragst, wirst du im Wichtigsten einst deine Mutter gar nicht zu Rate ziehen ... denn kein Mensch fügt sich immer.«

Es lag eine Wahrheit in diesen Worten, die der andere nicht zu widerlegen wußte. Das Unterordnen unter einen anderen Willen war ihm teils zur Gewohnheit geworden, teils sah er es als kindliche Pflicht an. »Meine Mutter hat meine Erziehung fast ausschließlich geleitet,« sagte er nach einigen Augenblicken wie entschuldigend, »und ich möchte ihr nie in etwas entgegentreten.«

»Nie! Nimm's mir nicht übel: das ist Unsinn. Kein Mann soll Phrasen aussprechen, die er nicht halten wird. Deine Mutter ist eine vernünftige Frau, die deinen Willen ehren wird, wie sie den eigenen zu schätzen weiß. Gewöhne sie und dich an eine Selbständigkeit, die doch eintreten wird; dann tut's dir gut und ihr nicht weh.«

Degenthal schwieg; mit dem Stock schlug er im Vorübergehen die Blumenköpfchen am Wege nieder; es war ihm eigentümlich, plötzlich tadeln zu hören, was er sich bis jetzt als Tugend zuerkannt. Denn seine Mutter hatte, wie viele Mütter, die alleinstehend ihre Söhne zu erziehen haben, durch sein kindliches Gefühl eine ausschließliche Herrschaft über ihn ausgeübt. Er fing an zu verstehen, weshalb sein Erzieher so oft auf seine Versetzung in andere Verhältnisse gedrungen; aber eine Art von Verstimmung, wie immer, wenn wir entdecken, daß uns etwas mangelt, zog ihm durch das Gemüt. So schritten sie stumm weiter. Dahnow war nicht der Mann, der leicht eine Unterhaltung wieder eröffnete. Plötzlich aber blieben beide stehen und traten zur Seite. Der weiche Sandboden hatte den Hufschlag zweier Pferde, die schon dicht an die jungen Leute herangekommen waren, fast unhörbar gemacht, und ein Reiterpaar ritt langsam an ihnen vorüber, um dann in raschem Tempo bald zu verschwinden.

»Element, was für Pferde!« rief der Dicke elektrisiert; »so etwas habe ich lange nicht gesehen.«

»Und was für eine Reiterin!« sagte der andere. »Die war reizend! Wer mag das sein!«

»Ah, wenn sie angesehen sein will, muß sie sich nicht auf diesen Schimmel setzen! Das war das Prachtvollste, was mir jemals vorgekommen.«

»Nun, das ist Geschmacksache; ich habe den Schimmel über der Dame vergessen. Dahnow, du kennst ja hier die ganze Gegend: wer war es? Der Herr hatte mir ein sehr bekanntes Aeußere, die Dame war dunkelhaarig.«

»Junge, du hast genau zugesehen! Eingeborene waren es nicht; solche Pferde existieren hier nicht. Es müssen Fremde sein; es wimmelt stets von Fremden hier. Uebrigens, Freund, wenn du der Schönen noch länger nachstarren willst, danke ich für den Spaß ... habe die Güte, einmal nach oben zu sehen.«

»Das ist allerdings abkühlend und vielversprechend,« sagte der andere, einen Blick auf die graue Wolke werfend, die jetzt drohend über ihnen hing. »Ich möchte eine raschere Gangart vorschlagen; dann kommen wir noch vorher unter Dach.«

»Renne allein,« sagte der Dicke ruhig. »Rennen ist mir außer dem Spaß: man kommt außer Atem und wird doch naß ... ich habe stets an einem Uebel genug.«

»Dann erlaube, daß ich dich deinem Schicksal überlasse. Mein Atem hält den Wettlauf mit dem Sturm aus. Also bis heute vier Uhr, wenn du unterdes in dem Schauer nicht untergegangen bist. Vor dem Wegwehen bist du, Gott sei Dank, geschützt,« setzte er lachend hinzu.

Der Dicke knöpfte indes phlegmatisch den Rock fest über der Brust zu, da der Wind in rauhen, kalten Stößen sich aufmachte. Bald brauste Schnee und Hagel herab und trieb in wilden Wirbeln um ihn her, indes er mit Ruhe voranschritt, ungestört von des Wetters Treiben.

Als er die Stadt bald erreicht hatte, holte ihn das zurückkehrende Reiterpaar wieder ein. Unmittelbar in seiner Nähe wurde der Hut der Dame vom Sturm erfaßt und jagte weit über den nassen Weg. Dahnows Kennerblick sah, mit welch vollendeter Reitkunst die junge Dame ihr Pferd in vollem Lauf parierte und zum Stehen brachte.

Behender, als man seiner Gestalt zugetraut hatte, sprang der Student der entführten Kopfbedeckung nach und erreichte sie glücklich, ehe sie den Sprung in den Graben vollführte. Triumphierend kehrte er mit dem Flüchtling zurück, ihn der Eignerin zu überreichen. Eine kleine behandschuhte Hand faßte danach, ein errötendes Gesichtchen, um welches die durchnäßten Haare wirr herumhingen, neigte sich dankend, und ein Paar blaue Augen blickten unter schwarzen Wimpern so freundlich ihn an, daß es trotz des fest zugeknöpften Rockes tief in das Herz des Dicken drang. Die Dankesworte verwehte der Sturm; denn kaum war der Hut befestigt, so sprengte die junge Dame dem Herrn nach in die Stadt hinein und war längst nicht mehr auf den Straßen zu sehen, als der Dicke dieselbe erreichte.

»Alle Wetter, der Junge hat recht, das war wirklich ein schönes Mädchen! Wäre man nicht in so verwünschtem Zustande nach dem miserablen Guß, ich ginge in die Hotels fragen, wer sie ist!« brummte der Dicke vor sich hin. »Ich mag übrigens eine nette Figur abgegeben haben,« setzte er mit melancholischem Blick auf seinen triefenden Anzug hinzu.


»Nun, nicht ertrunken?« fragte einige Stunden später Graf Degenthals muntere Stimme, als er seinen Freund Dahnow eben beim Einritt in das bezeichnete Hotel erreichte.

»Nein, wie du siehst. Habe aber Glück gehabt und Abenteuer erlebt.«

»Dicke Leute haben immer Glück!«

»Ihr Windhunde rennt ihm aus dem Wege. Rate, wen ich sah! Richtige Einleitung zur Bekanntschaft ... Ritterdienste geleistet.«

»Die schöne Reiterin? Ist sie vom Pferde gestürzt ... hast du sie gerettet?«

»Leider stürzte nur ihr Hut.«

»Leider? Barbar! Aber wer ist sie denn?«

»Das stand nicht im Hut.«

»Dann ist deine Bekanntschaft auch nicht weit gediehen. Doch laß uns eintreten, die anderen warten schon.«

Die jungen Leute hatten sich zu einem späten Diner hier Rendezvous gegeben, einem Gaste zu Ehren, der als Wilder einige Tage das Studententum mitgenießen wollte. Es war eine muntere Ecke am Tische, wo bald Lachen und Rede in das Knallen der Champagnerpfropfen sich mischte. Dahnow trug sein Abenteuer vom Morgen mit der ihm eigenen Komik vor. Er besaß jene Eigenschaft, von der eine geistreiche Französin sagt, es sei der Humor, der nie lache und stets lachen mache. Lautes Gelächter, wie die eifrigsten Fragen und Mutmaßungen über die unbekannte schöne Reiterin waren die Folge seiner Erzählung.

Plötzlich stieß Degenthal den Freund an: »Schau' hin, dort ist er,« flüsterte er ihm zu, ihn auf einen Herrn aufmerksam machend, der am Ende des Tisches Platz genommen. »Ich meine, ich müßte ihn kennen,« setzte Degenthal nachdenklich hinzu; »die Züge muß ich schon einmal gesehen haben.«

»Dort oben sitzt unser Held, aber ohne sie,« wandte sich Dahnow leise an die übrigen. »Anscheinend also ein tyrannischer Vater oder ein eifersüchtiger Gatte, der die Schöne vor den Augen der Welt verbergen will.«

Die Blicke der jungen Leute wandten sich alle dem Bezeichneten zu. »Das glaube ich,« lachte der Fremde auf, »daß der seine Dame nicht umsonst zeigt!« Das ist Karsten, der berühmte Kunstreiterdirektor. Ich kenne ihn recht gut, sah ihn noch vor einigen Wochen zu W., wo er Vorstellungen gab.«

»Hurra, Karsten! Dicker, dann bekommen wir deine schöne Reiterin auch noch zu sehen,« zischelten die anderen.

»Er hat eine junge Frau,« fuhr der Fremde fort, »die recht hübsch sein soll; die wird es gewesen sein.«

»Nein, dann war es Nora, die kleine Nora,« rief Degenthal. »Wie ist es nur möglich, daß ich sie nicht gleich erkannte! Die muß ich wiedersehen!«

»Nora ... kleine Nora?« sagte Dahnow erstaunt. »Du scheinst mir sehr vorgeschritten, daß du schon solche Bekanntschaften hast.«

»Nora Karsten!« sagte Degenthal wieder, die Einrede gar nicht beachtend. »Deshalb frappierten mich die Züge so. Wie schön ist sie geworden!«

»Unser Fuchs scheint sich verlieben zu wollen,« lachten die anderen. »Höre, Fuchs, ein Salamander auf deine wiedergefundene schöne Reiterprinzessin! Sie wird wohl so spröde nicht sein, daß wir nicht auch ihre Bekanntschaft machen können.«

Der leichte Ton der jungen Leute verletzte Degenthal. »Meine Herren,« sagte er sehr ernst, »meine Mutter hat einst die Familie des Herrn Karsten durch einen eigentümlichen Zufall kennen gelernt. Fräulein Nora Karsten war damals noch Kind, und wir haben als Kinder Freundschaft geschlossen, da sie einige Zeit unter meiner Mutter Schutz lebte, das ist alles.«

Die Studenten sahen sich erstaunt an. Einer von ihnen, dem der Wein schon etwas zu Kopf gestiegen war, hob sein Glas: »Auf unseres Fuchses schöne Kinderfreundschaften!« rief er.

Degenthals Auge flammte. Er schien heftig antworten zu wollen, als Dahnow ihn anstieß und aufmerksam machte, daß Karsten sich eben erhoben und hinausgehen wolle.

Degenthal sprang auf und vertrat ihm den Weg. »Herr Direktor Karsten,« sagte er, und die Erregung bebte noch in seiner Stimme, »darf ich unsere Bekanntschaft erneuern? Wir sahen uns nicht mehr seit jenen Tagen in Genf ... Graf Degenthal,« setzte er hinzu, als der Direktor ihn befremdet ansah.

»Graf Degenthal,« wiederholte dieser, »das ist mir eine große Ueberraschung und Freude ...« – die Macht der Erinnerung nahm ihm die Worte. Er reichte dem jungen Manne beide Hände entgegen, die dieser schüttelte. »Ich sah Sie heute morgen ausreiten,« fuhr Degenthal fort, »und Ihre Züge kamen mir gleich bekannt vor.«

»Es hat seitdem hier hereingeschneit,« sagte der Direktor, lächelnd durch seine Haare fahrend. »Ich würde Sie nicht erkannt haben, Herr Graf. Doch das ist in Ihren Jahren ein Kompliment. Und die Frau Gräfin, Ihre Frau Mutter, sie befindet sich doch wohl? Ich kann ihrer nur mit unendlicher Dankbarkeit gedenken.« Wieder zitterte des Mannes Stimme vor Rührung.

»Meiner Mutter geht es Gott sei Dank recht gut. Wir lebten fast immer auf unseren mährischen Gütern; erst seit meinen Universitätsjahren bin ich von ihr getrennt.«

»Und da haben Sie rheinische Studentenlust kennen lernen wollen! Das war ein guter Gedanke. Ihr früherer Erzieher, der Kaplan, lebt doch noch bei Ihnen? Er war freundlich genug, mir einigemal zu schreiben; doch mein bewegtes Leben macht mich zum schlechten Korrespondenten.«

»Gewiß, der Kaplan lebt noch und ist stets bei uns. Wir könnten den treuen Freund gar nicht missen. Ihrer haben wir oft gedacht, oft noch von den Tagen in der Schweiz gesprochen ... Das war doch Fräulein Nora, die heute morgen Sie begleitete?« fragte der junge Mann mit leicht aufsteigender Röte, die bei ihm noch kam und ging wie bei einem jungen Mädchen.

»Es war meine Tochter,« sagte der Direktor. »Sie ist seit etwa einem halben Jahre aus dem Kloster zurückgekehrt, wo sie ihre Erziehung erhielt. Es wurde mir endlich möglich, mein Kind zu mir zu nehmen, da ich mich neuerdings wieder verheiratete.«

Degenthals Züge zeigten einige Betroffenheit, die dem Direktor nicht entging, und es entstand eine kleine, verlegene Pause.

»Etwas Häuslichkeit tut not in all unserer Unruhe. Man fängt an, alt zu werden,« nahm Karsten das Gespräch etwas gezwungener wieder auf. »Man darf Ihnen also Glück wünschen,« sagte Degenthal, um ihm über den peinlichen Augenblick fortzuhelfen. »Aber Fräulein Nora ... dürfte ich nicht auch mit ihr die Bekanntschaft erneuern?«

»Wenn Sie mir die Ehre erzeigen wollen! Für den Augenblick wohne ich noch hier im Hotel, doch habe ich vor der Stadt eine Villa gemietet, wo meine Frau und Tochter für einige Zeit leben werden. Meine Frau bedarf der Schonung und meine Tochter nimmt nicht an meinen Geschäften teil.«

»Darf ich sie schon hier einmal aufsuchen?« fragte Degenthal eifrig.

»Wenn Sie uns die Ehre erweisen wollen,« wiederholte der Direktor wieder förmlich. Man merkte ihm an, er wollte nicht einen Schritt dem jungen Mann entgegenkommen.

»Und wann kann ich am sichersten Sie und die Damen zu Hause treffen,« beharrte Degenthal.

»Des Morgens nimmt mein Geschäft mich ganz in Anspruch; doch die Abende, die wir frei haben, gehöre ich meiner Familie. Morgen ist ein solcher Tag.«

»Dann komme ich morgen. Wollen Sie mich schon Fräulein Nora empfehlen?« fragte Degenthal mit erneutem Handschütteln.

»Meine Tochter würde mir wohl schwer vergeben, wenn ich sie dieses Wiedersehens beraubte. Sie hat so wenig als ich Ihre Güte vergessen, Herr Graf.«

Während des eifrigen Gespräches hatten die übrigen jungen Leute ihre Blicke auf die beiden gerichtet, und auch des Direktors Auge überflog die Gruppe.

»Ich glaube, Herr Graf,« sagte er, »ich sehe dort einen Herrn unter Ihren Bekannten, dem ich eine Dankesschuld meiner Tochter abzutragen habe: der starke Herr dort an der Ecke. Dürfte ich Sie bitten, mich ihm vorzustellen?«

»Mein Freund Dahnow. Ja, er sagte uns von seinem Erlebnis. Lassen Sie uns nähertreten ... Lieber Freund, Herr Direktor Karsten wünscht dir ein Wort zu sagen. Direktor Karsten ... Baron Dahnow, etwas schwere Mecklenburger Rasse,« stellte Degenthal scherzend vor.

»Irre ich nicht, Herr Baron, so waren Sie es, der heute morgen meiner Tochter so freundlich aus der Verlegenheit half?« sagte der Direktor mit jener Einfachheit in Haltung und Wort, die den Mann von Erziehung und Welt kennzeichnet.

»Leider verhindert mich meine Statur an jedem Inkognito; ich kann also die edle Tat nicht bescheiden leugnen. Uebrigens war das Glück ganz auf meiner Seite einer so schönen Dame gegenüber,« erwiderte Dahnow galant. Der Direktor verbeugte sich. »Wenn Sie erlauben,« fuhr der Dicke mit größter Ruhe fort, »so hole ich mir den Dank der Dame selber, indem ich die Erlaubnis, die Sie eben meinem Freunde Degenthal gegeben, auf Grund meiner edlen Tat mit beanspruche.«

»Gewiß,« sagte der Direktor. »Wenn meine Frau und Tochter auch ziemlich abgeschlossen leben, wird es mir eine Freude sein, die Herren zu empfangen.«

Jetzt war die Reihe der Verbeugung an Dahnow.

»Kommen Sie, Herr Direktor, schließen Sie sich uns an, und lassen Sie uns ein Glas auf das Wiedersehen leeren,« bat Degenthal.

»So gern ich Ihrer freundlichen Einladung Folge leistete, meine Geschäfte sind heute allzu dringend. Mein graues Haupt darf sich auch nicht mehr unter so junge Köpfe mischen; nur einmal im Leben kommt so freie, glückliche Zeit ... Entschuldigen Sie mich, Herr Graf.«

Degenthal reichte ihm noch einmal die Hand, und mit einer leichten Wendung auch gegen die übrigen Studenten empfahl sich der Direktor.

»Was für ein schöner Mann, und wie famos vornehm der aussieht,« sagte einer der jungen Leute, ihm nachschauend. »Das, was er ist, sollte niemand hinter ihm suchen.«

»Seinerzeit ward viel darüber gesprochen. Einige hielten ihn für den ungeratenen Sohn einer guten Familie; andere für einen Offizier, der Schulden halber um die Ecke gegangen; noch andere für einen gewichsten Juden, der amerikanischen Humbug gelernt.«

»Wenn der ein Jude ist, bin ich auch einer!« rief die schwere Stimme eines breitschulterigen Westfalen dazwischen, dessen blondes Haar und Stumpfnase gewiß niemand semitischer Abstammung beschuldigen konnte. »Habt ihr ihn einmal zu Pferde gesehen? Der Mann ist wie von Eisen, und seine Kunst ist wahrhaft kein Humbug.«

»Dicker, du bist doch die unverschämteste Seele der Welt,« meinte ein dritter jetzt, »dich gleich da so anzuschlängeln. Wenn du noch das Anstandsgefühl gehabt hättest, uns alle mit in die Einladung einzuschließen, der unbekannten Schönen unsere Huldigungen darzubringen.«

»Massendeputation war unnütz,« sagte Dahnow lakonisch.

»Ah, wir werden die Schöne doch sehen,« sang der in der weinseligen Laune wieder. »Degenthal ... Glücksmensch ... dies Glas deiner Schönen! Sei nicht so grausam, sie unseren Blicken ganz zu entziehen ... Ein Hoch für Fräulein Nora Karsten!«

Degenthal sprang auf; sein Auge flammte, seine Stirn glühte, seine Stimme bebte vor Erregung. »Herr,« rief er, »Sie haben kein Recht, den Namen einer Dame ...«

Aber was er ferner sagen wollte, blieb unbeachtet, trotzdem aller Blicke sich erstaunt auf ihn gerichtet hatten; denn im selben Augenblick fielen klirrend zwei neu gebrachte Flaschen auf den Tisch, großes Unheil zwischen den Gläsern anrichtend, indes ihr Inhalt sich stromweise ergoß. Es entstand ein Augenblick voll Verwirrung; jeder fragte nach der Ursache des Ereignisses, jeder griff rettend nach seinem Glase. Kellner eilten herbei, abzuräumen, und die Sitzung war gestört.

Dahnow griff Degenthal rasch beim Arm. »Komm mit,« sagte er ernst, »es ist genug. Etwas frische Luft und ein Glas Bier nach all dem Zeug wird nicht schaden. Komm, ehe die anderen uns bemerken.«

Degenthal zögerte einen Augenblick, schloß sich dann aber doch seinem Freunde an.

»Die Flaschen und Gläser zahlst du,« sagte Dahnow in seiner trockenen Weise, als sie eben den Saal verlassen; »der Freundschaftsdienst, sie zu zerbrechen, ist mir genug.«

»Tatest du es absichtlich?« fragte Degenthal erstaunt.

»Wie hätte ich denn anders dein parlamentarisches Talent zum Schweigen bringen können! Ein Paar Scherben ist eine gute Sache immer wert.«

»Warum unterbrachst du mich aber?« fuhr Degenthal heftig auf. »Ist es nicht eine Rücksichtslosigkeit, den Namen einer jungen Dame in dieser Weise öffentlich zu mißbrauchen? Ich sehe wahrlich nicht ein, weshalb du mich hindern willst, solchen Menschen die Meinung zu sagen.«

»Erstens, weil es Betrunkenen gegenüber stets verschwendete Worte sind, und zweitens, weil ich Rücksicht genug für jede Dame, welchen Standes sie auch sei, empfinde, um sie nicht in einen Studentenstreit zu verwickeln. Glaubst du vielleicht, wenn du dich um ihretwillen mit dem Kurländer hautest, das würde ihr förderlich sein?«

Degenthal schwieg, da er einsehen mußte, daß sein Freund recht hatte. Aber innerlich gereizt, fragte er gleich darauf: »Warum betonst du das so: welchen Standes sie auch sei?«

»Weil der Stand ihres Vaters sie vielen Rücksichtslosigkeiten aussetzt.«

»Aber sie teilt den Stand nicht, sie wurde von Kindheit an davon ferngehalten. Sie ist in einer vornehmen Erziehungsanstalt erzogen; ihre Mutter war ein sehr feines gebildetes Wesen, die in ihren letzten Stunden von meiner Mutter gepflegt wurde ... daher datiert unsere Bekanntschaft. Der Vater ist auch reich genug, der Tochter eine unabhängige Stellung zu geben.«

»Trotz alledem ist es eine schwierige Lage für das arme junge Mädchen,« sagte Dahnow wieder. »Gehst du also wirklich morgen hin?«

»Gewiß,« bestätigte Degenthal. »Nichts natürlicher als das. Meine Mutter wird sich sehr freuen, wieder von der kleinen Nora zu hören, an der wir alle solches Interesse nahmen.«

Dahnow schien die Freude der Gräfin etwas zweifelhaft zu finden. »Es ist immerhin ein komplizierter Fall, und über diesen würde ich vielleicht meine Mutter fragen, wenn ich noch eine hätte,« sagte er in dem halb ironischen Tone, den er gern dem jüngeren Freunde gegenüber annahm.


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