Ferdinande Freiin von Brackel
Die Tochter des Kunstreiters
Ferdinande Freiin von Brackel

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3

Ich blick' in mein Herz und blick' in die Welt.
Bis vom schimmernden Auge die Träne mir fällt,
Ach die Schranken so eng, und die Welt so weit!
Geibel.

Drum fraget Eur Wünsche, schönes Kind –
Bedenkt die Jugend, prüfet Euer Blut:
Ob Ihr die Nonnentracht ertragen könnt.
Shakespeare.

Zehn Jahre waren verflossen. In dem Vorhofe einer der vielen Erziehungsanstalten der belgischen Hauptstadt tummelten sich an dem altertümlichen Brunnen eine Schar halbwüchsiger junger Mädchen. Es war alte Sitte des Pensionates, daß die Zöglinge während ihrer mittägigen Erholung das Wasser selbst am Brunnen schöpften, und immer war es ein Augenblick willkommener Freiheit. Murmelndes, plauderndes Wasser hat ja stets die Zungen, besonders die weiblichen, gelöst, wie alle Geschichten am Brunnen seit Urzeiten vermelden. So war auch hier ein Summen und Schwirren, ein Kichern und Flüstern, als sei der Turmbau Babels wieder im Gange.

»Seht her,« rief jetzt eine Stimme lauter dazwischen, »seht her, was ich kann!« Und die Sprecherin hob mit einem kräftigen Ruck das gefüllte Gefäß auf den Kopf, mit starkem Nacken es ruhig und sicher tragend.

»Rebekka am Brunnen! Rebekka am Brunnen!« rief es von allen Seiten. »Nora, du siehst aus, wie aus der Bilderbibel geschnitten.«

Der Vergleich war nicht unrichtig; die hohe, schlanke Gestalt in dem schlichten dunklen Gewande, das weiße Tuch turbanartig unter den Krug geschoben, die noch etwas scharfen, aber schön gezeichneten Züge hervorhebend, die dunklen Zöpfe, welche malerisch zu beiden Seiten des Halses herabfielen, das alles gab ein Bild, welches wohl die Auserwählte des Erzvaters in Erinnerung bringen konnte, besonders jetzt, wo das junge Mädchen mit vieler Anmut und Sicherheit die Stufen des alten Brunnens hinabstieg, der trefflich als Staffage paßte.

»Keinen Tropfen darüber!« rief sie triumphierend. »Wer macht das nach?«

Natürlich war der Versuch längst von verschiedenen schon gemacht; tröpfelnd schüttelten einige die begossenen Köpfe, sich ängstlich vor der beaufsichtigenden Ordensschwester hütend, die an einem entfernten Fleck sich aufhielt. Ihre Abwesenheit ermutigte einige der Kühneren, einen anderen Versuch zu wagen, nachdem sie eifrig einige Augenblicke die Köpfe zusammengesteckt. »Lilly,« riefen sie einer der Jüngsten zu, die sich ängstlich mit ihrem Kruge dem Brunnen nahte, und der man an dem zaghaften Auftreten ansah, daß sie ein Neuling in der Anstalt war. »Lilly, heute wird das Wasser nur auf dem Kopfe hereingetragen. Du mußt es versuchen; sieh, so mußt du es machen.«

«Ich kann das nicht ... ich kann es gewiß nicht!« wehrte die Kleine. Die übrigen hatten aber schon einen Kreis um sie geschlossen, und eine hob ohne weiteres den gefüllten Krug der Kleinen auf das Haupt. Eine ängstliche, ungeschickte Bewegung, und das Gefäß rollte an der Erde, während die Arme triefend und weinend dastand und die tolle Schar in ein lautes Gelächter ausbrach.

»Matrosentaufe, Matrosentaufe!« schrie ein keckes Ding.

Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall, und unter lautem Jauchzen folgte sogleich ein kräftiger Guß.

Im selben Augenblick aber wandte die erste, die das Spiel mit dem Krug begonnen, sich gegen die Angreifer und stellte sich schützend vor die Kleine hin.

»Schämt ihr euch nicht, ihr Großen all', das arme Ding so zu ängstigen?« rief sie laut. »Kein Tropfen mehr, oder ich werde sie rächen.«

»He, Nora will immer regieren,« riefen einige trotzig; »en avant nur! Lilly ist doch einmal naß und kann weiter getauft werden.«

Nora aber war flinker als die übrigen; ehe die Übermütigen zum weiteren Angriff schreiten konnten, schleuderte sie ihnen schon eine kräftig gezielte Wassergarbe entgegen, so daß sie sich schreiend und pustend zurückzogen, um freilich gleich wieder zum Angriff überzugehen. Es drohte, wenn auch kein blutiger, so doch jedenfalls ein sehr nasser Krieg zu werden.

»Aber, meine Damen, ist das ein Benehmen für junge Mädchen?« klang plötzlich strafend die Stimme der beaufsichtigenden Schwester, deren Rückkunft man in der Hitze des Gefechtes nicht bemerkt hatte.

»Wer hat solch ein unpassendes, wildes Spiel begonnen?« fuhr sie streng fort. »Lilly, wie sehen Sie aus! Ich werde Sie alle bei der Oberin anzeigen.« Mit diesen Worten sah sie sich forschend in dem Kreis um, wo jetzt tiefe Stille herrschte. Die meisten versuchten sich mit möglichst unschuldiger Miene in den Hintergrund zurückzuziehen. Nur Nora blieb mutig stehen, den Krug in der Hand, ohne ihre Stellung zu ändern. »Ah, Sie, Fräulein Nora, sind es,« sagte die Schwester wieder scharf. »Ich sollte meinen, Ihr langer Aufenthalt im Pensionat hätte bessere Früchte tragen können als so unpassende Streiche: aber Sie scheinen unverbesserlich. Ich sah vorhin, wie Sie zuerst den Krug erhoben, also Veranlasserin des Ganzen waren, und werde nicht verfehlen, es der Oberin sofort zu melden, da ihre Nachsicht Sie so übermütig macht. Sie werden heute die Freistunde auf Ihrem Zimmer zubringen, damit Sie Zeit zum Nachdenken gewinnen; und Sie, Lilly, gehen Sie sofort, sich umzukleiden. Die anderen Damen werden es sich hoffentlich merken, damit nichts Aehnliches mehr vorfällt.«

Die Sprecherin sprach kurz und scharf, ihren ganzen Groll über Nora ergießend; sie gehörte zu den kleinlichen Naturen, die stets auf ein Haupt die Schuld werfen, einen Menschen verantwortlich machen wollen. Noras etwas unabhängiges Wesen und die Vorliebe der Oberin für sie war ihr stets ein Dorn im Auge; etwas Parteilichkeit herrscht ja in jeder Anstalt.

Nora nahm diese Worte mit Gleichmut hin; keine Entschuldigung kam über ihre Lippen. Sie ließ nur einen verächtlichen Blick über die stummen Gruppen gleiten, da keine zu ihrer Verteidigung auftrat; dann warf sie das Haupt stolz in die Höhe, füllte ihren Krug von neuem und schritt dem Hause zu.

Die anderen folgten. »Wir hätten es nicht auf Nora sitzen lassen dürfen,« flüsterten einige Gewissenhaftere.

»Sie trug die wenigste Schuld und ist stets so gut für alle,« meinte eine andere; »warum sprach Lilly nicht?«

»Die und sprechen!« sagte eine dritte verächtlich.

»Ah bah! was tut es!« rief die Kecke von vorhin. »Madame wird sie schon nicht strafen; sie nimmt sie stets in Schutz. Das tut ihre geheime Abkunft; wir alle wissen ja nicht einmal, wo sie her ist, und nur ihr Schauspielertalent läßt auf manches schließen.«

»Ich finde es sehr eigentümlich, daß man uns hier zumutet, mit jemand zusammen zu sein, von dessen Eltern man nicht einmal etwas weiß,« sagte ein langes, hageres Mädchen mit essigsaurer Miene.

»Ich finde es oft schlimmer, wenn man es weiß,« gab wiederum eine andere zurück. Sie hatte mit den wenigen Worten die Lacher auf ihrer Seite; denn jeder wußte, daß die so ängstlich um die Abstammung besorgte junge Dame einen Namen trug, der einen nichts weniger als guten Klang hatte.

»Für meinen Teil,« fuhr die Sprecherin dann ruhig fort, »finde ich es einerlei, ob wir etwas Näheres über Nora wissen oder nicht. Daß sie zu den Klügsten und Besten des Pensionats gehört, das wissen wir alle; noch eben hat ihr Schweigen uns vor einer Strafe bewahrt. Mir ist sie die liebste Freundin hier, mag sie nun von höherer oder tieferer Abkunft sein als ich, was beides möglich ist.« Und die so sprach, war eine deutsche Fürstentochter; echtes Standesbewußtsein ist auch stets liberal.

Nora hatte indes an dem Tage Zeit zum Nachdenken. Während die anderen sich im Freien tummelten, saß sie einsam auf ihrem Zimmer und schaute die fernen Spitzen der Berge an, die weit am Horizont auftauchten.

Tiefer Ernst lag auf den jungen Zügen, die am Morgen so lachend ausgeschaut, und um den Mund zuckte es weich, wie bei einem traurigen Kinde. Die Einsamkeit, zu der sie verurteilt worden, war wohl nicht schuld daran; sie liebte sie, wie jedes junge Gemüt sie liebt, das noch mit sich zu tun hat. Aber vielleicht wirkten die fernen Berge zu sehr! Vielleicht floß das Blut, das so jäh in Stirn und Wangen stieg, zu unruhig für die engen Mauern einer Anstalt, und die Gedanken schwärmten zu sehnsüchtig hinaus über die festen Schranken. Eine Hand legte sich jetzt schüchtern auf ihre Schulter; ein blonder Kopf schob sich neben den ihren.

«Bist du traurig, Nora?« fragte eine zaghafte Stimme; »es war häßlich von mir, dich strafen zu lassen, wo du mich in Schutz genommen.«

»Ah! bist du es, Lilly?« sagte die Angeredete, aus ihren Träumen aufschreckend. »Sei ruhig. Kleine, diese Strafe ist so schlimm nicht; aber warum sagtest du kein Wort, Hasenherz?«

»Ich kann nie gut etwas sagen,« erwiderte die Kleine mit kindisch verlegenem Ausdruck; «ich fürchte mich stets so. Aber wegen dir tut es mir sehr leid; denn du bist gut, immer gut für mich gewesen,« und sie schlang ihre Arme um Noras Hals.

Nora küßte sie. »Ein andermal wirst du schon zu reden wissen,« sagte sie tröstend; sie aber plötzlich scharf ins Auge fassend, setzte sie hinzu: »Lilly, du hast schon wieder geweint! Geh' doch, wer wird noch so jammerig sein nach drei Monaten, die du schon hier bist!«

»Ich kann nicht dafür; ich bin hier nicht gern; ich habe Heimweh!« entschuldigte sich die Kleine. »Aber du sahst eben auch ganz traurig aus, Nora; du hast gewiß auch Heimweh und willst es mir nicht gestehen.«

»Heimweh? ... Nein, wahrlich, ich glaube, ich habe gerade das Gegenteil, ich habe »Fernweh«. Zehn Jahre bin ich schon hier, und es ist mir liebe Heimat gewesen; aber ich möchte hinaus: der Boden brennt mir unter den Füßen. O, einmal wieder andere Menschen, andere Gegenden sehen, einmal wieder ein Pferd zu besteigen, frisch in die Weite zu sprengen!« Und sie streckte die Arme wie sehnsüchtig aus.

»Warum gehst du nicht nach Hause? Du bist doch fast erwachsen,« meinte Lilly mit aller Ehrfurcht ihrer fünfzehn Jahre für Noras siebzehn Sommer.

Nora errötete leicht. »Ich habe eigentlich kein Daheim,« sagte sie zögernd. »Meine Mutter ist tot und mein Vater ist stets auf Reisen.«

«Wer ist dein Vater?« fragte Lilly ein wenig neugierig.

Nora errötete noch stärker; sie sprach nie darüber. Seit jenen Tagen in der Schweiz hielt ein eigenes Gefühl sie davon zurück, und das stete Schweigen der Erzieherinnen über diesen Punkt bestärkte sie darin. So überhörte sie auch jetzt die Frage, und den Eintritt einer Dritten als willkommene Unterbrechung nehmend, wandte sie sich an diese.

»Komm, Elisabeth,« sagte sie, »komm, wir sind beide melancholisch, Lilly hat Heimweh.«

»Und Nora hat Fernweh!« ergänzte die Kleine.

»Fernweh?« wiederholte die Angeredete – es war gerade diejenige, welche vorher ihr Wort für Nora erhoben – »Fernweh, das kenne ich nicht. Die Stille dieser Mauern, wo man nur ein Ziel kennt, nur einen Zweck hat, liebe ich zu sehr, um je daraus scheiden zu mögen.«

»Ich weiß, was du meinst,« sagte Nora, zur Sprecherin aufschauend; »aber ich bin nicht wie du. Meine Gedanken möchten sich über die ganze Welt ausbreiten, und die deinigen wollen nur aufwärts steigen.«

»Schön geredet, wie immer, Nora,« gab die andere scherzend zurück. »Aber wer weiß, was die Zukunft bringt: mag man wünschen, was man will.«

»Die Zukunft ... ja, ich möchte wissen, was sie mir bringt,« rief Nora; »sie liegt so rätselhaft vor mir, daß ich nicht einmal eine Ahnung habe, wie mein Leben sich gestalten könnte.«

»Ich weiß es schon recht gut,« sagte Lilly ruhig dazwischen.

»Du, Kleine?« fragte die andere.

»Ja, warum nicht? Tante hat alles ganz genau bestimmt. Ein Jahr bleibe ich noch hier, dann gehe ich zu Tante zurück, und dann heirate ich meinen Vetter,« sagte sie naiv.

Die beiden Mädchen lachten hell auf.

»Du heiratest deinen Vetter? Du weißt das schon gewiß? Kennst du ihn denn?«

«Darüber ist gar nicht zu lachen,« sagte die Kleine empfindlich; »Papa hat es sterbend gewünscht, und Tante will es auch, und alle Leute wissen es.«

»Wer ist denn der glückliche Vetter?« wollte Nora eben fragen, als ein lauter Glockenton an ihr Ohr schlug.

»Das ist dein Zeichen, das dich zur Oberin ruft,« sagte die als Elisabeth Angeredete. Zu so ungewohnter Stunde! Schwester Barbara scheint unerbittlich; wir müssen dich wirklich verteidigen.«

»Soll ich mitgehen?« fragte Lilly, sich an Nora schmiegend, »und sagen, wie es war?«

»Nein, kleines Herz; soviel will ich dir nicht zumuten; ich fechte meine Sache selbst aus,« rief Nora, und ein Ausdruck von Mut und Energie blitzte in ihr auf. »Ich mag gern mit dem Leben ringen und es zu bezwingen suchen. Besser Stürme als ewige Ruhe, und nur Schwester Barbara schafft einem einmal ein kleines Stürmchen hier.«

»Hüte dich doch! Es könnte schlimmer werden als du denkst,« warnte Elisabeth mit all der Wichtigkeit, mit der Angelegenheiten solcher Art im Pensionsleben behandelt werden, wo das Auszeichnungsband so gut das Ziel des Ehrgeizes ist wie alle Ordensbänder der Welt.

Aber Nora sprang schon lachend davon und die Treppe hinab in mächtigen Sätzen. Doch an der Pforte, die zur Oberin führte, hielt sie einen Augenblick inne, ihr Aeußeres musternd, wie ein ängstlicher Rekrut, ob nichts Ordnungswidriges den Sturm verschärfen könne, dem sie so kühn entgegenging. Aber sie hätte den scharfen Blick der Ordensoberin nicht zu fürchten brauchen, so in Gedanken verloren erschien diese heute. Nora fand sie nicht zum Verhöre bereit stehend, wie meist in so richterlich peinlichen Fällen, sondern am Schreibtische sitzend, einen Brief vor sich, von dem sie jetzt mit fast wehmütigem Ausdruck auf die Eintretende sah.

Madame Sibylle war eine kleine, zarte Gestalt, aus deren Augen allein die Tatkraft leuchtete, die sie zu dem mühevollen Posten der Vorsteherin einer so großen Anstalt befähigte. Sobald Nora näher kam, erhob sie sich, und ihre beiden Hände ergreifend, zog sie das junge Mädchen dicht an sich heran.

»Mein Kind,« sagte sie leise, »es gibt immer Wendepunkte im Leben, die überstanden sein wollen.«

Nora, die so ganz anderes erwartet hatte, trafen die Worte, so innig sie auch gesprochen, wie ein Schlag. »Vater ... o, der Vater!« stammelte sie, von furchtbarer Angst ergriffen.

»Nein, beruhige dich,« sagte die Nonne hastig, »er ist wohl und gesund. Er ist sehr glücklich sogar, liebes Kind, wie er mir oben schreibt; doch gibt er mir den Auftrag, dich auf ein Ereignis vorzubereiten, das in kürzester Frist eintreten wird.«

Noch verwirrter sah Nora auf. »Gibt er sein Geschäft auf?« fragte sie, und es fuhr wie ein heller Strahl der Freude über ihr Gesicht.

Die Nonne schüttelte den Kopf. »Mein Kind,« fuhr sie fort, und es schien ihr schwer von den Lippen zu gehen, »der Herr nahm ihm schon lange die Gattin, dir deine Mutter. Mit Gottes Hilfe hast du hier eine neue Heimat gefunden, und wollte Gott, wir hätten dir den Schatz der Mutterliebe ersetzen können.« Nora preßte bewegt die Lippen auf die Hand der Oberin: Madame Sibylle war ja die erste gewesen, die das mutterlose Kind aufgenommen hatte. Auf ihrem Schoße hatte Nora das bittere Weh ausgeweint, welches das Scheiden vom Vater ihr verursacht, und ein inniges Band fesselte sie seitdem an die Frau, die so gut ihr die Mutter ersetzte, wie das Leben in einer klösterlichen Anstalt es erlaubt.

»Aber auch dein Vater ist in der langen Zeit sehr einsam gewesen, sehr einsam, da er um deiner Erziehung willen sich auch von dir trennte. Er wünscht jetzt sich einen neuen häuslichen Kreis zu gründen, auch dir dadurch eine Heimat wiederzugeben... er will sich wieder verheiraten, mein Kind.«

Größer und immer größer waren Noras Augen bei diesen Worten geworden. Wie verständnislos starrte sie die Sprecherin an. »Er will sich wieder verheiraten,« wiederholte die Oberin, und als müsse alles auf einmal gesagt werden, setzte sie hinzu: »Er zeigt mir seine Verlobung mit einem Fräulein Emilie Lauer eben an.«

Ob Nora das gehört, war kaum zu entnehmen, so groß sah sie auf. Plötzlich aber schlug sie beide Hände vor das Gesicht und ein schneidender Laut des Schmerzes rang sich über ihre Lippen.

»Setze dich, mein Kind,« sagte sorglich die Oberin, ihr einen Sessel zuschiebend und sie innig umfangend. Noras Haupt sank schwer auf ihre Schulter. Das Ungeahnteste hatte sie getroffen.

Noras Verhältnis zum Vater war ein inniges gewesen, trotzdem sie sich so wenig sahen. Alljährlich mehreremal hatte er sie besucht. Der ritterlich aussehende Mann, der sein Töchterchen mit Geschenken und Zärtlichkeiten überhäufte, hatte jedesmal das Pensionat in große Erregung und Neugier versetzt; das hatte Nora sehr stolz auf ihn gemacht. Auch brieflich war er in stetem Verkehr mit ihr geblieben, und in den Briefen hatte, wie einst im Verkehr mit seiner Frau, stets der tiefere Zug seines Gemütes Ausdruck gefunden. Das Bild der Mutter, in seiner Erinnerung noch verklärt, hatte er dem Kind immer als ein heiliges, hochzuverehrendes hingestellt: seine Liebe hatte darin fortgelebt wie sein Schmerz über die Verlorene. Auch seine gute Erziehung, seine Bildung sprach aus diesen Briefen, und als Nora, älter werdend, seine Lebenslage überdachte, hatte sie bald den Schluß gezogen, daß schweres Mißgeschick ihn auf diese Bahn gedrängt habe und er im Grunde sich tief unglücklich dabei fühlen müsse. Ihn zu trösten, ihm durch ihre Liebe alles zu ersetzen und ihn mit dem Leben auszusöhnen, war der kindliche Traum ihres Herzens seit Jahren gewesen. Sie war stolz und eifersüchtig darauf, die einzige zu sein, die ihm nahestehe, ihm angehöre, die ein Recht auf seine Liebe habe. Und nun sollte, dieser Platz durch eine Fremde ausgefüllt werden, sollte eine andere die Erinnerung an ihre Mutter verdrängen! In der Wandelbarkeit der Liebe liegt für die Jugend etwas so Unnatürliches, Entsetzliches, daß sie am meisten davor zurückbebt. Der Vater, der bisher ihr Ideal gewesen, sank tief in ihren Augen; denn die Jugend ist auch schroff in allem, was ihr Gefühl verletzt: sie weiß noch nicht, mit wie vielem das Gefühl in späteren Jahren zu rechnen hat.

Die Oberin sah den bitteren Zug, der sich um Noras Lippen legte, den Abscheu, mit dem sie den Brief zurückstieß, als sie ihr denselben hinreichte.

»Kind,« sagte sie, den dunklen Scheitel zärtlich streichelnd, »verurteile nicht, was du nicht zu beurteilen vermagst; du weißt noch nichts von der Einsamkeit späterer Jahre.«

»Aber er hat ja mich jetzt; ich wäre so gern zu ihm geeilt,« rief Nora heftig; »es ist entsetzlich von ihm!«

»Und wärest du auch immer bei ihm geblieben?« fragte die Nonne, fein lächelnd und sie fest ansehend. »Der Kinder Wege gehen oft anders.«

Dunkles Rot stieg auf Noras Stirn und ein eigenes Gefühl zog ihr durch das Herz, jenes unbestimmte Etwas, das in jedem Mädchen erwacht bei der Frage. Ja, wie hatte sie sich denn die Zukunft gedacht? Beschämt senkte sich ihr Blick.

»Kein Mensch hat ein Recht, eines anderen Menschen Glück nach seinen Ansichten modeln zu wollen. Das ist der furchtbarste Egoismus,« fuhr die Nonne ernst fort. »Nimm das Ereignis als eine Fügung Gottes hin. Dein Vater hofft dadurch auch dir wieder eine Häuslichkeit zu bereiten und nach den ersten Monaten seiner Ehe dich zu sich zurückzurufen. Du wirst uns also bald verlassen müssen, mein Kind, und das ist mir hart.«

Aber Nora überhörte den schmerzlichen Ton in den Worten; ihre Gedanken waren noch ganz bei dem Ereignis. »Und ist die ... die Dame,« fragte sie endlich gepreßt, »eine ... eine von der Gesellschaft?«

»Es ist nicht gut denkbar,« sagte Madame Sibylle beschwichtigend, »daß er jetzt in anderen Kreisen eine Gefährtin suchen wird. Er erwähnt es nicht gerade, aber sein Schweigen läßt es mich erraten. Doch sagt er ausdrücklich, daß ihre große Güte und Liebenswürdigkeit auch dich beglücken werde.«

»O!« rief Nora wieder in schneidendem Schmerz, »auch das noch!« Plötzlich aufspringend und sich der Oberin an den Hals werfend, rief sie: »O, laß mich nicht zu ihr gehen, o, behalte mich hier, behalte mich hier!« Ein Strom von Tränen brach gewaltsam aus.

Madame Sibylle umschlang fest das weinende, zitternde Mädchen, als wollte sie fürwahr es festhalten. Waren die Worte ihr aus der Seele gesprochen, war es ihr heimlicher Herzenswunsch, der da plötzlich laut wurde?

Sie war eine ernste Nonne, lange gereift in ihrem Amte. Hunderte von Kindern hatte sie schon willkommen geheißen. Hunderte hatten mit tränenden Augen von ihr Abschied genommen, und welch warmes, pflichtvolles Interesse sie auch an ihnen nahm, das individuelle Gefühl stumpft in der Gewohnheit ab. Aber es gibt Naturen, denen ein wunderbarer Zauber und Reichtum eigen ist, wie es Länder gibt, die uns zum Paradiese werden.

Und Nora war eine jener gottgesegneten Naturen, die warm und reich so viel bieten, daß das Herz arm sich dünkt, das sie wieder lassen muß.

Madame Sibylle, die erfahrene Vorsteherin des Pensionates, hatte das Kind, das aus so eigentümlichen Verhältnissen heraus ihrer Obhut anvertraut wurde, unter ihren besonderen Schutz genommen. Mit feinem Verständnisse hatte sie versucht, den großen Unterschied zu vermitteln, der zwischen so verschiedener Lebensart lag, und das Kind hatte ihr mit hingebender Liebe gelohnt. Früh entwickelt, stand Nora ihr fast freundschaftlich nahe. Ihre Zukunft hatte die Oberin schon manche Stunde schweren Nachdenkens gekostet, Nora war kein Wesen, das unbeachtet durch die Welt gehen konnte, das still und unscheinbar überall sein Plätzchen gefunden hätte. Und in welche Welt, in welche Atmosphäre, in welches Leben sollte sie hinaustreten! – Nora befand sich in den verschrobensten Verhältnissen, wurzellos in jedem Stand, ohne Schutz und Halt nach jeder Richtung – war es der Nonne zu verdenken, wenn sie den Liebling ihres Herzens hätte bergen mögen in den stillen Frieden des Gotteshauses; wenn sie ihre liebliche Blume hätte retten mögen in diese Mauern, wo sie vor Stürmen doch sicher war?

Nie war ein Wort, das auch nur darauf hindeutete, über ihre Lippen gegangen, nur in ihren Gebeten war der Wunsch oft aufgestiegen – aber jetzt, bei Noras stürmischer Bitte, ja, da schloß sie den Liebling fester an sich.

»Mein Kind, so bleibe,« sagte sie ernst. »Kannst du dich entschließen, hier mit uns den stillen Weg zu gehen in Gott und für Gott? Er gibt so reichen Frieden, und dir, mein Kind, wäre er der sicherste Hafen gegen viele Kämpfe. Ich würde die Stunde deines Entschlusses segnen.«

Sie sprach innig und eindringlich. Noras Kopf lag fest gepreßt auf ihrer Schulter, so daß sie das Antlitz nicht sehen konnte. Lange blieb das Mädchen stumm; dann aber hob sie plötzlich das Haupt empor.

»Nein!« sagte sie leise, aber fest. »Nein, ich kann es nicht; ich glaube, es war nur Stolz, der mir eben den Gedanken eingab. Friede und Ruhe ersehne ich noch nicht. Ich kann in dem Hafen noch nicht bleiben; lieber laß mich hinaus in Stürme und Gefahr. Ich bin so gern hier gewesen, aber heiße mich nicht bleiben ... laß mich fort, laß mich fort ... ich kann nicht Maria sein zu Füßen des Herrn!«

Ein tiefer Zug von Enttäuschung malte sich auf dem Gesichte der Nonne, und doch mußte sie lächeln über die eigentümliche Sprache des Mädchens. »Nun, dann geh', mein Kind,« sagte sie, »dann geh'. Jedes Menschen Herz hat seinen Weg und alle können zum selben Ziele führen. Mögen es der Kämpfe nicht zu viele für dich werden! Aber auch Kämpfe und Gefahren schaden ja nicht. Ich werde dich entbehren, deine alte Freundin wird dich vermissen: ein Opfer mehr, welches der Herr will. Aber wir werden uns nahe bleiben im Herzen, wo du auch bist.«

»O, wie wird alles werden?... Alles ist schrecklich,« sagte Nora schaudernd.

»Nicht alles vorhersehen wollen, schreibt Thomas von Kempen, darein füge dich. Nur eines vergiß nicht, wie auch dein Leben sich gestaltet: das Kind ist nie mehr als der Vater. Das ist Gottes Wille und menschliche Ordnung, das nimm in Demut von Anfang auf deine Schultern; damit ist noch keine Seele zugrunde gegangen... Uebrigens ist unser Abschied so nahe noch nicht. In drei Monaten erst wird dein Vater dich abholen... Aber nun geh'; die Abendglocke ruft, und du wirst während des Gebetes dich am besten sammeln können. Vom gemeinschaftlichen Abendessen dispensiere ich dich; der Mensch muß allein sein nach großen Erregungen. Geh' und beantworte den Brief deines Vaters liebevoll, wie er liebevoll stets für dich war.«

Und Nora ging. Wohl las sie den Brief des Vaters, wohl rührte sie die Liebe, die er zärtlicher als jemals für sie darin ausdrückte, wohl nahm sie sich vor, ohne Selbstsucht an sein neues Glück zu denken, und versuchte den Wechsel, den sie in der letzten Zeit oft so heiß ersehnt, sich in rosigem Lichte zu malen. Aber nachdem sie ihr Lager aufgesucht, lag sie noch lange wach, und als ihr Blick all die Gegenstände traf, die ihre Umgebung so viele Jahre gebildet hatten, da war es, als ginge ihr der Wert derselben noch einmal auf.

Von dem schwarzen Kreuz an der Wand bis zu den weißen, bauschigen Gardinen, welche die friedlichen Lagerstätten umgaben, war alles ernst, rein und abgeschlossen, wie des Mädchens Jugend sein soll, ehe es hinaustritt in den grellen Sonnenschein des Lebens, in den unruhigen Wechsel der Welt. Ruhe, Stille und Einfachheit erhalten ihm Duft und Frische, wie der Waldesschatten der Waldblume. Und noch einmal legte es sich mild und süß auf Noras Herz im schneidenden Gegensatze zu dem, was sie erwartete, wo alles unklar, unruhig, unsicher erscheint. Noch einmal winkte ihr der Hafen, aus dem sie hinausverlangt, daß sich ihr das Herz im ahnenden Abschiedsschmerz zusammenkrampfte und sie laut aufschluchzte.

Ein leichter Schritt nahte ihrem Bett, ein Arm legte sich weich um ihren Hals. Es war Elisabeth, die das Gemach mit ihr und einigen anderen teilte.

»War es gar so schlimm?« fragte sie leise.

»Was?« fragte Nora, die alles Vorhergehende vergessen hatte. »O nein,« fuhr sie in plötzlichem Erinnern fort, »das war es nicht. Elisabeth, ich gehe, ich gehe bald von hier fort zum Vater.«

»Also dein Fernweh gestillt,« sagte diese lächelnd. »Warum weinst du denn so?«

»O Elisabeth, bitte Gott, daß es kein Heimweh werde ... Vielleicht habe ich zu ungeduldig gewünscht.«

»Warum kein Heimweh, wenn es nach der rechten Heimat ist?« sagte die Freundin ernst.


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