Ferdinande Freiin von Brackel
Die Tochter des Kunstreiters
Ferdinande Freiin von Brackel

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22

Denn wie wir uns auch preisen mögen,
Sind uns're Neigungen doch wankelmütiger,
Unsicherer, schwanken leichter her und hin,
Als die der Frau'n.
Shakespeare.

In den nächsten Tagen! Der Mensch liebt diese Zeitbestimmung; sie hat etwas so Beruhigendes für ihn, als läge die Zeit schon in seiner Hand – und doch liegt der nächste Tag ebenso dunkel vor uns wie die entfernteste Zukunft.

»In den nächsten Tagen,« dachte Nora, und trotzdem sie gesagt: »Es ist zu spät,« zitterte ihr Herz in ahnungsvoller Freude. Er war gekommen, er wollte wiederkommen! Hatte auch der Zorn in seiner Stimme gebebt, hatte er mit fast richterlicher Strenge klar zu sehen verlangt – die Liebe hatte ja übermächtig gesiegt. Nora wollte nichts hoffen; sie sagte sich jeden Augenblick, daß sie stark sein werde, kein Opfer von ihm anzunehmen, alles zurückzuweisen, woran zu denken jetzt nur noch ein Unrecht sein würde – – aber der Glaube an Glück ist so stark in jungen Herzen, daß er immer wieder das Haupt erhebt. Eines erfüllte Nora mit der reinsten Freude: daß sie ihm ihr Herz werde ganz öffnen können, daß sie seinen Einblick nicht zu scheuen brauche – und sie dachte schaudernd dabei an die Stunden zurück, wo sie wie an einem Abgrunde gestanden hatte.

»In den nächsten Tagen,« dachte auch Kurt; und er schloß die Augen gegen alle Bedenken, welche Furcht, Stolz, Mißtrauen ihm zuraunten, nachdem die erste Aufwallung sich gelegt. Er hatte sich seine Absicht klar gemacht; er wollte sich seine Liebe nicht entreißen lassen.

»In den nächsten Tagen,« sagte auch Lilly, als sie den blonden Kopf in die Kissen legte, und mochte kaum sich aussprechen, was sie alles von den nächsten Tagen erhoffte.

»Wenn er erst mein ist, dann pflege ich ihn bald ganz gesund; hier ist er schon soviel besser geworden,« setzte sie mit einigem Stolz hinzu. Es ist eigen, ein Teil der Frauen denkt im Glück der Liebe: »Wenn er mein ist,« und andere drücken es in den Gedanken aus: »Wenn ich sein bin,« – ein kleiner, aber charakteristischer Unterschied. Lilly verstand das Glück nur, »wenn er mein ist«.


In den nächsten Tagen, dem zweitfolgenden nach Kurts und Lillys Anwesenheit in der Hauptstadt, durchlief das Publikum eine Mär, die gleich allen Skandalgeschichten ein gut Teil Neugier und Interesse hervorrief. Sie setzte die müßigen Zungen um so mehr in Bewegung, da sie allgemein bekannte, vielbesprochene Persönlichkeiten betraf. Die auf den Abend angesetzte besondere Festvorstellung des Zirkus Karsten wurde im Augenblick des Beginnes, als die Zuschauer schon versammelt waren, aufgehoben, wie es hieß, »wegen plötzlicher schwerer Erkrankung des Direktors«. Die vollständige Verstörung unter den Mitgliedern der Truppe, ihr erregtes Gebaren, das Nichterscheinen Landolfos, der stets die Vertretung des Direktors übernahm – alles gab gleich zu dunkeln Gerüchten Anlaß. Sehr bald war denn auch kund, daß der Direktor von einem Schlaganfall getroffen sei infolge der Erregung über die heimliche Entweichung seiner Tochter mit seinem ersten Geschäftsführer. Das Gerücht nahm natürlich sofort die verschiedensten Gestalten an, sich bald zum Tragischen steigernd, bald zum Gemeinsten hinabsinkend, wie es gerade sein Publikum fand. Einige wollten behaupten, nicht die Tochter, sondern die Frau des Direktors sei entflohen; doch kam diese Lesart gar nicht zur Geltung, da das Verhältnis der schönen Nora zu dem nicht minder schönen Landolfo längst als Tatsache galt, die Frau des Direktors auch schon zu den verblühten Schönen zählte.

Die Tagespresse brachte die Geschichte bald mit allerlei Einzelheiten. Der eigentliche Grund zum Entweichen des Paares blieb jedoch unklar, da ihrer Verbindung ja, soviel man wußte, nichts entgegengestanden hatte. Bald aber munkelte man von großartigen Veruntreuungen, die der Geschäftsführer sich habe zuschulden kommen lassen.

Einige besondere Gönner des Direktors und einige jener patentierten Neuigkeitsfischer, deren jede große wie jede kleine Stadt zählt, begaben sich selbst in den Gasthof, wo der Direktor mit seiner Familie wohnte, um genauere Erkundigungen einzuziehen. Auch dort war nicht viel zu erfahren, da die Familie nach dem Ereignis sich ganz von der Außenwelt abgeschlossen hatte. Der Arzt habe den Zustand des Direktors für lebensgefährlich und jedenfalls sehr langwierig erklärt, wurde berichtet.

Ueber die Ursache der plötzlichen Erkrankung zuckte der vorsichtige Oberkellner die Achseln. Es hätten, erzählte er nur, in den letzten Tagen Mißhelligkeiten in der Familie stattgefunden. Das Stubenmädchen habe von einer heftigen Szene erzählt, die der Herr Direktor seiner Tochter gemacht, und dann – der Oberkellner lächelte, wie es bei so delikaten Angelegenheiten meist geschieht – der Herr Direktor habe in der letzten Zeit oft etwas stark gefrühstückt, was seiner kräftigen Konstitution bei seinem Alter vielleicht nicht zuträglich gewesen sei. Wenn der Herr Direktor dann ermüdet gewesen, sei Herr Landolfo stets viel bei den Damen aus- und eingegangen. An dem bewußten Nachmittag sei, wie der Portier sich erinnert habe, die eine der Damen verschleiert und im Reiseanzug mit Herrn Landolfo die Treppe hinabgekommen und mit ihm in einem bereitstehenden Fiaker fortgefahren. Herr Landolfo habe jedoch öfter die Damen zu den Proben abgeholt, also habe das nicht ungewöhnlich geschienen. Erst am Abende sei eine große Aufregung oben entstanden, und man habe den Arzt gerufen. Aber seitdem habe, wie gesagt, weiter nichts verlautet, da die Frau sich nur der Pflege des Mannes und des Kleinen widme und niemand, nicht einmal die Hoteldienerschaft, zulasse. Von der Verfolgung der Entwichenen scheine man völlig Abstand genommen zu haben.

Mit diesen wenig erläuternden Nachrichten, die nur eine Bestätigung des überall Gehörten waren, kehrten die Forschenden zurück. Der letzte Schatten des Gerüchtes, welches vom Arzte ausgegangen sein sollte, daß nicht die Tochter, sondern die Frau die Entführte sei, sank damit zu Boden, da die Zurücklassung des kleinen Sohnes zu sehr dagegen sprach.

Die ganze Sache würde übrigens, wie alle solche Tagesneuigkeiten, sehr bald in Vergessenheit geraten sein, hätte nicht eine neue pikante Wendung sie dem Publikum, und diesmal besonders den hohen Gesellschaftskreisen, doppelt interessant gemacht. Eines der gelesensten Tagesblätter brachte einen Artikel, der die geheimnisvolle Ursache der Entführung beleuchtete. Der Lokalberichterstatter wußte sehr genau über eine Liebesgeschichte zu berichten, die zwischen der schönen Nora und einem jungen österreichischen Grafen, dessen Name durch Angabe dreier Buchstaben sehr deutlich bezeichnet war, vor etwa drei Jahren gespielt habe. Er wußte, daß der Vater der Schönen dieses Verhältnis sehr begünstigt habe, der D....t...l'schen Familie zum Trotz, welche sich unendlich bemühte, den Sohn aus diesen Banden zu retten, bis sie ihn endlich zur Annahme einer diplomatischen Stellung im Auslande bewog. Auch wurde nicht verschwiegen, wie der Direktor Karsten selbst da noch die größten Anstrengungen gemacht habe, den vornehmen Liebhaber zu fesseln und zu verschiedenen geheimen Rendezvous der Liebenden gern seine Mitwirkung geboten habe. Erst als alles an dem festen Willen der Familie gescheitert, habe er sich entschlossen, seine Tochter die öffentliche Laufbahn betreten zu lassen, und sei von da an der Neigung seines ersten Geschäftsführers zu seiner Tochter nicht mehr entgegengetreten, habe sie sogar diesem zur Ehe versprochen. Ob aus Verdruß über den ungetreuen Liebhaber, ob aus wechselnder Neigung, habe die schöne Nora auch ihre Zustimmung erteilt, und das Verhältnis zu ihm sei allbekannt gewesen. Plötzlich sei nun nach Jahren jener Graf D. von neuem aufgetaucht und habe sich seiner früheren Liebe in der auffallendsten Weise wieder genähert. Des Vaters Hoffnung, die Tochter doch noch in hohe Kreise zu bringen, sei dadurch in solchem Grade erwacht, daß er sich sofort mit seinem Geschäftsführer überworfen und ihn fortgeschickt habe. Dieser aber habe von seinem guten Rechte nun Gebrauch gemacht und seine Braut durch die Flucht allen ferneren Intrigen entzogen – ob mit dem vollen freien Willen der Schönen, blieb dahingestellt. Zwei Tage vor der Flucht sei nämlich Graf D. in dem Hotel gesehen und dem Vernehmen nach von Herrn Landolfo bei seiner Braut überrascht worden.

Die Geschichte in ihrer Unklarheit war gerade dazu angetan, einen gefundenen Bissen für die Leserwelt abzugeben. Die Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten, ja die Widersprüche derselben waren alle nebensächlich gegen die eine Hauptsache, daß der Name einer der angesehensten Familien des Landes darein gemischt war. Dieses eröffnete ein ganzes Feld von Vermutungen, eine Quelle von Schadenfreude und Klatschsucht oder Teilnahme.

Man entsann sich bald dieses, bald jenes Ereignisses; man brachte das Verschwinden und Wiedererscheinen des Grafen Kurt mit einigen Gerüchten in Verbindung, die damals vom Rhein herübergedrungen waren. Mütter, die sicher auf eine gute Partie gezählt, erinnerten sich seiner Kälte der Damenwelt gegenüber, die selten auf etwas Gutes schließen lasse; die junge Herrenwelt, der er als Muster vorgestellt worden, lachte über die Enttäuschung und witzelte über die schöne Nora, die so spröde getan; die älteren Herren steckten die Köpfe zusammen und fragten sich, was da zu tun sei, wenn jemand aus ihren Kreisen sich so öffentlich kompromittiert habe.

Die Welt nimmt manches leicht und erträgt vieles, solange sie es ignorieren kann; sie rächt sich aber um so mehr, ist um so schonungs- und nachsichtsloser, sobald die Sache offenkundig und dadurch ihr Urteil herausgefordert wird. So wurden die tonangebenden Gesichter ernst und streng: man bedauerte mit bedeutsamer Miene die Mutter, und die Wohlwollendsten, die Verleumdung witterten, nahmen an, daß doch etwas Wahrheit daran sein müsse.

In den Göhlitzer Kreis war die erste Nachricht wie ein Blitzstrahl gedrungen. Die Gräfin hatte die Mitteilung von dem Entweichen Landolfos mit Nora in dem Tagesblatt gefunden und behauptete, nicht überrascht davon zu sein. Sie gab Lilly das Blatt, damit die Nachricht ihr als Lektion diene für das Gespräch, das sie neulich über Nora gepflogen.

So erregt Lilly sein konnte, so erregt war sie über diese Nachricht. »Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein!« behauptete sie mit der ihr eigenen Zähigkeit. »Nora ist viel zu fromm und zu gut, um so etwas zu tun.«

»Kind, Jahre in solcher Umgebung ändern die Menschen,« versicherte die Gräfin mit überlegener Miene.

»Aber Nora ist nicht verändert,« beharrte die Kleine; »es ist ihr ein entsetzlicher Kummer, daß sie diese Laufbahn hat ergreifen müssen. Sie hat es bloß ihrem Vater zuliebe getan.«

»Wie weißt du denn das alles?« fragte die Gräfin scharf, mit unklarem Argwohn sie ins Auge fassend.

Lilly wurde dunkelrot, aber mit dem Vollgefühl ihrer Unabhängigkeit sah sie tapfer zur Tante auf. »Weil ich sie gerade in diesen Tagen sah und sprach. Nur um sie zu besuchen, unternahm ich die Fahrt mit Kurt und traf sie auch.«

»Mit Kurt? Du führtest Kurt zu ihr?« stieß die Gräfin fast tonlos hervor. Die tödliche Angst, die in ihren Zügen sich kundgab, machte die Kleine bedenklich.

»Nicht mit Kurt; ich wünschte nur seine Begleitung, da ich Fräulein Richthoven die Sache nicht anvertrauen wollte. Kurt erfuhr erst, nachdem ich dort gewesen, wen ich besucht hatte. Er hat mich durchaus nicht getadelt, sondern gesagt, ich hätte recht gehandelt.«

»Er sah sie also nicht?« fragte die Gräfin, etwas erleichtert.

»Nein, er führte mich nur zu ihrer Wohnung, ohne zu wissen, wie gesagt, wen ich aufsuchen wollte. Ich glaube übrigens auch nicht, daß irgend etwas Unpassendes darin lag, daß ich mit dem Vetter, mit dem ich erzogen, eine Fahrt und einen Gang durch die Straßen unternahm,« setzte in verletztem Tone die kleine Herrin von Göhlitz hinzu, indem sie die Tante verließ.

Die Gräfin schwieg. Es war ihr lieb, daß Lilly ihre Empfindlichkeit auf das lenkte, was sie nicht beabsichtigt hatte zu rügen, und daß sie keine weiteren Erklärungen forderte. Aber hatte der Kaplan recht gehabt: wäre alle Fürsorge umsonst, wäre es unmöglich, die Fäden in der Hand zu behalten? Doch ihrem Sohne konnte sie auch den letzten bitteren Tropfen nicht ersparen. Sie würde ihm die Sache verheimlicht haben, um die alten Erinnerungen zu schonen; aber jetzt war es am sichersten, daß er gleich klar sehe, besonders nach all den idealen Auffassungen, die er neulich über die Kunstreiterstochter zu hören bekommen. Nur immer die Sache vom einfachen realen Standpunkte nehmen – das war ihre Ansicht.

Demgemäß sandte sie die Zeitung auf ihres Sohnes Zimmer hinauf, wo sie wußte, daß sein Auge sie gleich treffen werde. »Eine ausgebrannte Wunde heilt am leichtesten,« dachte sie. Und wie sengender Brand drang die Nachricht in Kurts Herz, das eben eine Spur von Frieden sich errungen hatte. Er starrte auf das Blatt hin, und knirschend preßten sich die Zähne zusammen. Er sagte nicht wie Lilly: »Es ist nicht wahr«; dafür hatte er zu lange Jahre Mißtrauen gegen die Geliebte gehegt; dafür war seine Liebe zu sehr in ihren Grundfesten erschüttert worden. Er brach auch nicht schwindelnd zusammen, wie damals; dafür war er jetzt des Schmerzes und der Enttäuschung zu gewohnt. Riesengroß stieg die Gewißheit vor ihm auf, und an ihr zerschellte, was er an Vertrauen und Glauben eben wieder gesammelt.

Betrogen ... aufs neue hintergangen? War das die Lösung des Geheimnisses? War das die Antwort auf seine Fragen? »Zu spät ... es ist für immer zu spät,« das hatte er von ihren eigenen Lippen gehört. Also deshalb war es zu spät! Und er hatte diesen Menschen bei ihr eintreten sehen, als habe er ein Recht dazu; er hatte seinen höhnischen Blick, das kalte Lächeln beim Abschied bemerkt, und ihre bleiche, zitternde Angst. Ja, er entsann sich, wie er ihn damals nach jener Fahrt am Zuge gesehen – immer sein Recht auf sie nur zu deutlich beweisend. Alles schien ihm klar. Fürwahr, sie hatte nicht zu viel gesagt, daß sie in den Staub gesunken, wenn sie unter die Botmäßigkeit eines solchen Elenden sich gestellt! Und er, der eben wieder in wahnsinniger Leidenschaft sich geschworen, sie trotz allem wieder emporzuheben, wie ein Kleinod das Kleinod bleibt, wenn das Schicksal es auch für kurze Zeit unter das Gemeine mischt – er, der zum zweitenmal der Welt und seinen eigenen Grundsätzen hatte entgegentreten wollen, weil der Preis es ihm wert dünkte – zum zweitenmal so unsäglich betrogen.

Aber mit dem Gedanken erwachte der Drang, seinen Schmerz, seine Schmach zu verbergen. Es war ihm, als müsse jeder ihm die Gedanken und Entschlüsse dieser letzten Tage von der Stirn lesen, als habe jeder das Recht, zu hohnlachen über seine Leichtgläubigkeit, seine Schwäche. Seiner Mutter Blick konnte er am wenigsten ertragen.

Als die Gräfin sich nach ihm erkundigte, war er nicht mehr in Göhlitz. Der Bediente bestellte, der Herr Graf hätte eine wichtige Nachricht erhalten, die ihn abgerufen, sei zu Fuß zur Bahn gegangen, und würde erst in einigen Tagen zurückkehren oder Nachricht schicken.

Die Gräfin erschrak furchtbar. Hatte sie wieder zu eifrig gehandelt? Auch Lilly ließ das Köpfchen hängen, als sie die rasche Abreise des Vetters vernahm. Sie hatte ihn ja zum Vertrauten ihres Kummers wegen Nora machen wollen.

Ihrer Tante aber stand noch eine harte Prüfung bevor. Die alte Exzellenz erschien eines Nachmittags mit bedenklichem Gesicht in Göhlitz und bat um eine geheime Besprechung.

Der bejahrte Herr war noch immer der Mann der Geschäftigkeit, der schwierige Fragen gern in die Hand nahm. Jener Artikel, der in so beleidigender Weise Kurts Namen in die Oeffentlichkeit zog, nebst allen unangenehmen Gereden, die sich daran knüpften, hatte ihn veranlaßt, als guter Freund, der einst der Gräfin Vertrauen gehabt, mit ihr Rücksprache zu nehmen. Die Gräfin war fassungslos. Furchtbar rächte sich das Schicksal. Sie hatte alles getan, um eine Verbindung jener Namen zu vermeiden – und nun wurden sie in der gemeinsten Weise in der Oeffentlichkeit zusammengestellt. Es schwindelte ihr fast, als sie den Bericht der alten Exzellenz hörte, entrüstet las sie den Artikel, stolz wollte sie alles zurückweisen – aber sie konnte nach dem, was sie von Lilly erfahren, nicht leugnen, daß Kurt in jenen Tagen in der Hauptstadt gewesen; sie mußte eingestehen, daß er auch jetzt nicht hier, daß er auf die erste Nachricht abgereist sei, ohne daß sie wußte wohin. Vielleicht war er noch tiefer verwickelt in die unselige Geschichte, als sie ahnen konnte. Sie hielt jetzt alles für möglich. Der Exzellenz Gesicht wurde immer bedenklicher. Gewiß wollte der alte Herr aus alter Freundschaft seinen ganzen Einfluß aufbieten, die unangenehme Sache möglichst niederzuschlagen – aber, aber – Graf Kurt war mindestens sehr unvorsichtig gewesen.

»Das kommt von den Fahrten selbständiger junger Damen,« sagte am Abend desselben Tages die Gräfin zu ihrer Nichte, ihrem Zorn und Gram dort Luft machend, da sie fühlte, daß bei der Nähe der Hauptstadt und der Oeffentlichkeit in den Blättern sie vor dem jungen Mädchen doch kein Geheimnis daraus machen könnte. Sie erzählte ihr kurz den Hergang der Sache und zeigte ihr den Artikel, den die Zeitung gebracht. In der Bitterkeit ihres Schmerzes schonte sie die Gefühle ihrer Nichte nicht, da sie nun doch alles für verloren hielt.

Lilly hörte ruhig, was die Tante sagte, und las still die gehässigen Worte. »Aber das ist ebensowenig wahr, als das über Nora,« sagte sie mit der bei ihr stets gleich bleibenden Zähigkeit, die weder einen Gedanken losließ, noch das Vertrauen, das sie einmal gefaßt. »Weder Kurt noch Nora würden so gehandelt haben. Das hat jemand geschrieben, der ihnen schaden will. Kurt müßte das nur gleich wissen, um es zu widerlegen.«

»Gott segne deinen kleinen Kopf,« dachte die Gräfin, erbittert über die einfache Art, in der Lilly die komplizierte Sache abtun wollte. Die Tante kannte die Welt und die Menschen besser, und wußte sowohl, was alles möglich sein konnte, wie auch, was es für Folgen hatte. Aber zum erstenmal ließ ihr gewohntes Wort: »Was tun?« sie im Stich.

Und zum erstenmal dachte dieses Lilly. Ihre Liebe, ihr Stolz spornten sie dazu an. Lange sann sie nach. Also Kurt hatte Nora geliebt! Deshalb war er so unglücklich gewesen, so lange von der Heimat entfernt, so krank und so traurig? ... Aber eine tiefe, unglückliche Liebe stößt ein reines Mädchenherz nie zurück. Nora war so gut, so schön in Lillys Augen, daß sie den Kummer Kurts begriff; sie begriff ihn vielleicht um so leichter, weil sie mit ihrem vernünftigen kleinen Kopf hinzusetzen konnte: »Aber heiraten kann er die arme Nora natürlich nicht, das ist ja ganz unmöglich. Der arme Kurtie! Nun hat er noch diesen Aerger dabei, und deswegen ist er gewiß fortgegangen.« Sie besann sich ernstlich, wie sie den Aerger ihm ersparen könne, oder wie die Sache sich wenigstens wieder gut machen ließe, damit er nicht lange fortbliebe und nicht gar am Ende, wie heimliche Angst ihr zuflüsterte, wieder in die Ferne ginge.

Ein erleuchtender Gedanke kam ihr: daß der Kaplan die beste Persönlichkeit sei, da zu helfen. Der kannte ja Kurt wie Nora, wußte die ganze Geschichte, wußte, daß Kurt seit seiner Heimkehr Göhlitz nicht verlassen habe, daß also an der häßlichen Erfindung der Zeitung kein Wort wahr sei. Dem wollte sie schreiben, daß er alles gebührend widerlege. Wahrscheinlich war auch Kurt dorthin gegangen. Mit dem Instinkt eines liebenden Herzens erriet sie, daß er die Einsamkeit aufgesucht habe, um nach der unglücklichen Katastrophe nicht unter Menschen zu sein. »Das hätte ich auch getan,« dachte Lilly und freute sich an dem Gedanken, daß nicht sie die ihn störende Persönlichkeit gewesen. »Mir hat er alles sagen wollen; das war es, was er meinte, und ich verstehe ihn recht gut.«

Daß sie ihn gut verstand, das sprach deutlich aus den Zeilen, die sie jetzt schrieb, die in naiv einfacher Weise ihr festes Zutrauen, ihre Sorge um sein Wohl, ihr Mitleid betätigten und unbewußt in jedem Worte ihre Liebe verrieten. Sie fügte den gehässigen Artikel bei, den Kaplan anflehend, alles zu tun, dem armen Kurt fernere Unannehmlichkeiten zu ersparen, und es ihm leicht zu machen, damit er nicht krank werde. Genau, wie sie war, legt sie alle indes für Kurt angekommenen Korrespondenzen bei. »Es könnte etwas dabei sein, was er jetzt nötig hätte zu wissen,« meint« sie.

Nachdem der Brief fort war, hatte Lilly wieder Frieden mit ihren Gedanken, bis auf die eine geheime Angst, daß Kurt »nicht wieder so weit fortgehen möge«.

Ihre Liebe hatte sie richtig ahnen lassen. Wie das verwundete Tier ins Dickicht flieht, sich zu verbergen, hatte Kurt mit seinem Schmerz die Einsamkeit gesucht. Die alte Heimat, die jetzt leer stand, hatte ihm gewinkt. Sein Weg führte ihn durch die Hauptstadt; einen Augenblick schwankte er, ob er dort noch Erkundigungen einziehen solle. Aber die Nachricht war zu bestimmt gegeben, über eine Persönlichkeit, so bekannt wie Nora, konnte kein Irrtum stattfinden. Sein Herz sträubte sich, es aus anderer Mund zu hören, seine Augen hatten es ja gesehen – er hatte ihr »zu spät« ja vernommen. Ihre eigenen Lippen hatten es eingestanden, nur seine Leidenschaft hatte es nicht verstehen wollen. Was er für hingebende Liebe und Treue genommen, war nur bittere Reue, war Herzensangst gewesen – das letzte Aufflammen ihres früheren Selbst! »Sie hat mir die Aufklärung bald genug gegeben,« dachte er, bitter lächelnd, und fuhr ohne Aufenthalt durch Wien weiter.

Die Dienerschaft in dem heimatlichen Schlosse war ungemein überrascht, als so unerwartet der junge Graf allein ankam. Man hatte einen feierlichen Empfang in Aussicht genommen, wenn er nach jahrelanger Abwesenheit, nach überstandener Krankheit, mit seiner Mutter heimkehren würde, »ein vollständig Genesener«, wie die Gräfin, wahrscheinlich zur Beruhigung, öfter geschrieben hatte.

Die Leute zuckten die Achseln: »Das ein Genesener?« – so bleich, ernst, still und so ermüdet, daß er kaum einen flüchtigen Gruß für die Ueberraschten hatte? Seine frühere Leutseligkeit und Zugänglichkeit schien verschwunden; für die Beamten, die sich bei ihm meldeten, hatte er kaum die kürzesten, gleichgültigsten Worte. Selbst dem Kaplan gegenüber blieb er stumm und verschlossen; als Grund für sein plötzliches Kommen gab er an, daß er alle Feierlichkeiten habe vermeiden wollen, die ihm zuwider seien.

Der Kaplan, der keine Ahnung von dem Vorgefallenen hatte, hielt ihn in einem inneren Kampfe begriffen, den er zu verstehen glaubte; und er blieb seiner Ansicht getreu, daß es am besten sei, alles im stillen sich klären zu lassen.

Still blieb Kurt, abgeschlossen wie ein Einsiedler in seinem Zimmer, oder stundenlang einsam zu Pferde oder zu Fuß durch seine Wälder streifend. Die nächste Umgebung sah es kopfschüttelnd, und die alten Dienstboten deuteten nichts Gutes daraus.

Dem Kaplan selbst fing dies Benehmen an unerklärlich zu werden, als Lillys Brief das Rätsel löste. Tief erschütterte auch ihn die Wendung der Dinge. Dem gehässigen Artikel schenkte er so wenig Glauben wie Lilly. Doch kannte er die Welt genug, um zu wissen, was für Unannehmlichkeiten dem jungen Manne daraus erwachsen könnten, und wie schwer der Eindruck sich würde verwischen lassen.

Der Kaplan beschloß, das Schweigen zu brechen. Er suchte Kurt auf seinem Zimmer auf und fand ihn, wie immer jetzt, träumend am Fenster stehen, die Hand an die Stirn gepreßt, hinausschauend und doch nichts sehend.

Der Kaplan reichte zum Eingang ihm die mitgekommenen Briefe hin. Kurt warf sie nach flüchtigem Blick gleichgültig zur Seite, nur einen, der Dahnows Handschrift trug, behaltend. Fragend blickte er den Kaplan an, auf dessen Gesicht er las, daß er noch etwas zurückhalte. Schweigend schob ihm derselbe den fraglichen Zeitungsartikel hin, zugleich mit dem Briefe Lillys, den er als bestes Beruhigungsmittel betrachtete.

Staunend blickte Kurt in das Zeitungsblatt; doch dann, nachdem er gelesen, löste sich plötzlich die Aufregung all dieser Tage in einem Zornesausbruch, wie sein weiches Temperament ihn bisher nie gekannt hatte. Das Blatt zum Knäuel geballt von sich schleudernd, rang er umsonst nach Worten.

Mit gellem Lachen stieß er dann hervor: »Es ist recht so! Wer Pech anfaßt, besudelt sich. Ich habe in meiner verliebten Narrheit faules Holz für den leuchtenden Stein gehalten. Es ist recht so: wer mit Kanaille umgeht, mag als Kanaille behandelt werden. Und das alles um ein paar schmachtender Augen willen? ... Lachen Sie mich doch aus, lachen Sie doch, wie die ganze Welt lachen wird! Sie wissen noch nicht einmal, was ich habe tun wollen: daß ich am Vorabende meiner Hochzeit mit dem Täubchen stand ... lachen Sie doch! Aber Sie haben sich auch geirrt: Sie sprachen ja auch von solch unsäglicher Achtung!« Und er lachte schneidend auf.

»Kurt,« erwiderte der Kaplan mit großem Ernste, »was ist Wahrheit oder Unwahrheit an der Behauptung, daß Sie sich ihr wieder genähert hätten? An allen übrigen insinuierten Gemeinheiten wird Nora so unschuldig sein als Sie.«

»Unschuldig? Ja, sie sieht entsetzlich unschuldig aus, so daß ich ihren eigenen Worten nicht glaubte. Sie war aufrichtig genug, mir wenigstens zu sagen, daß es zu spät sei!«

»Also, Sie haben sie gesehen?«

»Ja, ich sah sie!« sagte Kurt trotzig. »Ich suchte sie auf, sobald Lilly sie verlassen hatte. Ich wollte von dem Vorwurf mich befreien, sie ungehört verurteilt zu haben; ich wollte sie retten, wenn es noch möglich, und würde noch jetzt allem getrotzt haben, so rein und edel erschien sie mir ... O Gott, ich Tor habe sie so unsäglich geliebt!« stieß er im tiefsten Schmerz hervor.

»Und jener Mensch traf Sie dort?« fragte der Kaplan in seiner ruhigen Weise weiter. »Dann kann der Artikel auch der Ausfluß gemeinen Hasses, gereizter Eifersucht sein. Sagen Sie mir, wie Sie sie trafen.«

Kurt erzählte mit wenigen abgebrochenen Worten, wie es sich zugetragen.

»Sie selbst sagte Ihnen, daß es zu spät sei? Sie versprach Ihnen Aufklärung und hieß Sie doch gehen? Das sind dunkele Worte. Was das arme Mädchen zu diesem zweiten unheilvollen Schritte getrieben, mag Gott wissen!«

»Schein, alles Schein!« rief Kurt in tiefer Bitterkeit. »Sie hat ihre Rolle von Anfang an mit Glück gespielt. Meine Mutter hat grauenvoll recht behalten, als sie prophezeite, die Erziehung würde sie nur geeigneter für eine Intrige machen.«

»Seien Sie nicht so rücksichtslos in Ihrem Hasse, wie Sie es in Ihrer Liebe waren!« mahnte der Kaplan streng. »Es ist außerordentlich schwer, hier ein Urteil zu fällen. Wo wir am sichersten glauben verurteilen zu können, irren wir am leichtesten.«

Mehr wagte der Kaplan nicht zu sagen; er mochte nicht die Liebe wieder wachrufen, die er noch immer stark genug in ihm sah, noch den Zorn zu bestärken, den er trotz allem für ungerecht hielt.

»Lesen Sie den Brief Ihrer Cousine,« sagte er nach einigen Minuten stillen Nachdenkens. »Lassen Sie uns dann später bereden, was am besten geschehen kann, dieser Gemeinheit gebührend entgegenzutreten.«

»Meine ganze Stellung in der Gesellschaft ist vernichtet!« rief Kurt wieder in aufloderndem Zorn.

Kein Mann erträgt ruhig, daß ihm der Boden entzogen wird, wenn er auch sonst wenig Wert darauf gelegt hat, und Kurt kannte zu gut das Urteil seiner Kreise, um nicht einzusehen, daß er in ernste Unannehmlichkeiten verwickelt werden könne. »Meine arme Mutter!« setzte er hinzu, ihren beleidigten Stolz ermessend, und in dem reuigen Gefühl, durch Mißachtung ihres Rates sich in solche Lage gebracht zu haben.

»Es sind nur Verleumdungen, woran Sie schuldlos sind,« beschwichtigte der Kaplan. »Gehen Sie einige Zeit nicht in die Hauptstadt, wozu Ihre Kränklichkeit genügenden Grund bietet; dann wird sich das Gerede allmählich verlaufen, wie so manches grundlose Geschwätz. Ich werde indessen Schritte tun, um Näheres zu erfahren, und Sorge tragen, daß die Unwahrheiten, welche der Artikel enthält, berichtigt werden. Wenn jener Mensch Sie bei Nora traf, wird er auch wohl der Schreiber des Artikels sein ... Das arme Mädchen!« Der Kaplan dachte mit einem Seufzer an dies Leben, das so grausam zugrunde gerichtet war bei so herrlicher Anlage. Er fürchtete fast irre zu werden an den Fügungen des Herrn.

Aber er baute auf den Halt, den er in Noras Seele gefunden, auf das reine Motiv, das ihren ersten Schritt auf jene Bahnen gelenkt – ein Opfer, das keiner getrübten Seele entspringen konnte. Er ahnte wieder Mißverständnisse, wenn er sie den bestimmten Nachrichten gegenüber auch nicht zu erraten wußte. »Es sind dunkele Fügungen, die jedesmal, wie es scheint, ihr irdisches Glück kreuzen sollen – aber wenn nicht zum Glück, so doch zum Heil, war der Mutter letztes Gebet für ihr Kind. Was für ein Pfad es sein mag – Gottes Blumen können überall blühen,« so schloß er, sich wieder sammelnd.

Kurt war in der heftigsten Aufregung zurückgeblieben. Aber dies war ein bestimmtes Gefühl, und daher eher zu ertragen und zu überwinden, als die unklare Zerrissenheit der vorigen Tage. Immer wieder hatte sich da ein Zweifel eingemischt, eine Ahnung, daß es sich wohl nicht ganz so verhalte – vielleicht die Erinnerung an die Liebe, an die Schuldlosigkeit, die aus ihrem ganzen Sein gesprochen. Er hatte ordentlich eine unheimliche Furcht gehabt, daß er abermals irren könne. Aber jetzt war es ja unwiderruflich bestätigt – er konnte, er wollte zürnen – er wollte im Zorn sein Herz frei machen.

Er nahm den Brief seiner Cousine. »Treues, kleines Herz,« sagte er gerührt, als er die naiven Worte las, die das, was er längst wußte, von neuem bestätigten. Wo er alles hatte geben wollen, hatte er nichts geerntet als Undank, Untreue und Kränkung, und wo er nichts geboten, fand er so viel! »Treues, kleines Herz,« wiederholte er und strich fast zärtlich die Bogen glatt, die ihre ungeübten steifen Schriftzüge trugen. Ihr freundliches Bild stieg erquickend vor ihm auf. Ihre geordnete Lebensbahn, ihre geebneten Verhältnisse, ihr so einfach dahinfließendes Leben stachen seltsam ab gegen den verschlungenen, unheimlichen Lebenspfad der anderen, der so durch Sumpf und Staub führte, daß jeder, der ihr folgen wollte, seinen Anteil davon empfing. Lillys friedlicher Weg hatte etwas Lockendes ... Es gibt Stunden der Müdigkeit, wo der schlichteste gebahnte Pfad uns mehr anspricht als die reizvollste Wildnis.

Kurt war müde all des inneren Streites und Kampfes; er hatte genug dieser spannenden, erregenden Gefühle gehabt, die sich bald so hoch hoben, bald so tief niederwarfen wie die Wellen des Meeres. Er sehnte sich nach einem Hafen, er sehnte sich nach einem unwiderruflichen, festen Abschnitte des Lebens, wo es vielleicht kein Hoffen, aber auch keine Enttäuschung mehr gab.

Mechanisch und zerstreut griff er auch nach Dahnows Brief, der zu seinem Erstaunen den Stempel seiner Heimat trug.

»Diese Zeilen sollen mich entschuldigen,« schrieb er, »der Wortbrüchigkeit wegen, deren ich mich Eurer freundlichen Einladung gegenüber schuldig machte. Du übermittelst mein Bedauern darüber auch wohl Deiner liebenswürdigen Cousine, obwohl ich mir eingestehen muß, daß wahrscheinlich Ihr mich nicht vermißt habt. Täusche ich mich nicht, so seid Ihr beide in der Verfassung, wo man jeglichen Besuch am leichtesten entbehrt. Erlaube mir, als Dein ältester Freund, Dir schon pränumerando meine Glückwünsche auszusprechen. Der Augenblick, zu dem man dem Menschen Glück wünschen soll, ist ja der, da er sich klar wird, wo er sein Glück findet. Bei ihr wie bei Dir schien mir das zweifellos. Aufrichtig freut mich Dein Entschluß; denn die unerquicklichste Auffassung des Lebens ist es, wenn ein Mensch nicht fertig werden kann, weder mit seinem Leid noch mit seiner Freude. Deiner offiziellen Mitteilung also entgegensehend, alter Freund, und mit dem herzlichsten Anteil Dein Dahnow.«

Der Brief war Kurt wie eine Ergänzung seiner Gedanken in diesem Augenblicke.

Süß stahl sich ihm ins Herz die Zweifellosigkeit der Liebe, die stets nur sein gedacht. Beschwichtigend war die Aussicht dieses leichten Erringens; denn er wußte, mochte die Welt sagen, was sie wollte, sie würde nicht wanken, und – Mann bleibt Mann, der doch auch stets des Realen sich erinnert. Er wußte, daß seine Verlobung die einfachste Widerlegung all der Gerede und Gerüchte sein würde.

»Treues, kleines Herz,« wiederholte er noch einmal. Und wenn nicht in Liebe, schlug sein Herz doch in warmer Dankbarkeit für sie.

Dennoch war es ein anderes Bild und waren es andere Augen, die ihm vorschwebten, als er sich in der Nacht schlaflos auf seinen Kissen wälzte; aber wie eine Zauberformel brauchte er Dahnows Worte: »Es gibt nichts Unseligeres auf der Welt, als wenn der Mensch nicht fertig werden kann mit seinem Schmerz oder seinem Glück.« Er wollte jetzt fertig werden!

Aber eines ahnte er nicht, daß Dahnow diese Worte in eigener schmerzlicher Selbstkenntnis geschrieben. »Ich kann nicht zu ihm gehen, ihn bei einer anderen girren sehen,« hatte der Dicke gesagt. »Doch hol' mich der Henker, wenn ich mich nicht sofort umhöre, was aus ihr geworden ist.«

Am Morgen nach der Unterredung mit Kurt wurde der Kaplan höchlichst überrascht durch einen Zettel, den der Diener des Grafen ihm überreichte. Er enthielt nur die wenigen Worte:

»Ich reise fürs erste nach Göhlitz – vielleicht ins Ausland, was sich in Göhlitz entscheiden wird. Jedenfalls hören Sie von mir Bestimmtes in den nächsten Tagen. Beten Sie für mich. K. D.«


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