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Und Allert hatte alsbald einen humoristischen Gedanken dazu: und weil der Verein wohl spürte, daß Aufklärung hier und da ermunternd wirken konnte, sorgte er auch gleich für die unehelichen Kinder.

Unwillkürlich fiel ihm seine selige alte Tante Malwine Patow auf Welfin ein. Die ließ ganze Massen von Kattunkleidern für die Patagonier nähen, um sie Keuschheit zu lehren und in ihnen den Begriff der Unanständigkeit des Nackten zu erwecken. Und wie Tante Patow dann entsetzt war, als ihr irgendein Globetrotter zuschwor, die Patagonier gingen infolge der Bekleidung ein. Früher waren sie bloß mit Fett beschmiert gewesen, da troff das Meerwasser, in dem sie sich zur Nahrungssuche aufhalten mußten, perlend von ihnen ab. Jetzt klebten die nassen Kattunkleider ihnen am Leib, und darin konnten sie dem rauhen Klima nicht trotzen. Sie bekamen Schwindsucht, Erkältungsepidemien und starben wie die Fliegen. Von da an legte Tante Patow jeder Sendung von Kattunkitteln viele Pakete Kamillentee, Brustbonbons und sogar Antipyrin bei.

Allert lachte in sich hinein.

Wenn sich ein Erlebnis in Humor auflöst, sollte es eigentlich überwunden sein.

Aber auf der Fahrt zu seiner Mutter fielen ihm immer wieder die grauen Augen ein und der reizende Mund.

Ein Mund zum Küssen.

Reue wollte ihn anwandeln. Er hätte, bei aller formvollen Haltung, unternehmender sein sollen – sich doch vorstellen – oder wenigstens durch eine Frage irgendwie es herausbekommen müssen, »Frau?« – »Fräulein?« –

Fräulein – Fräulein? dachte Allert kopfschüttelnd. Ja, wer konnte das wissen. Heutzutage! Wo stolze Engländerinnen Minister verprügeln, um ihnen ihr Stimmrecht begreiflich zu machen. Wo junge Damen in öffentlichen Versammlungen Vorträge über Prostitution halten. Wo in Frauenköpfen die Schamhaftigkeit von der Wissenschaftlichkeit verdrängt ward und zarte Töchter aus vornehmen Häusern, ohne Erwerbsnot, sich zum Studium aller Männerberufe drängten – – –

»Ja, ja, man kann nicht wissen – – – Die Umrisse schwanken.«

Plötzlich fiel ihm ein: Wenn der Kerl so weit gekommen wäre, seine Begier zu befriedigen ... Allert hörte förmlich mit dem Gedächtnis seines Ohres nochmals diese lallend heisere Stimme brüllen: »en lütten Söten ...«

Er konnte schon etwas Platt. Er wußte, daß das Volk den Kuß »einen Süßen« nannte ...

Ja, wenn der Kerl seinen gierigen Willen gekriegt hätte...

Und bei der Vorstellung stieg ihm das Blut zu Kopf vor Zorn – eine wunderliche, schreckliche Art Eifersucht, in Angst verkleidet, packte ihn ...

Viel mehr war das als das bloße Beschützergefühl des Mannes, der kein Weib antasten sehen mag ...

Und aus diesem Zorn und Ekel heraus über den Angriff, dem sie ausgesetzt gewesen, sagte er sich entschlossen: »Sie kann keinen Mann haben...«

Welcher Mann möchte sein Heiligtum solchen Gefahren aussetzen?

Er wurde traurig. Irgendein unbegreifliches, weil unbestimmtes Gefühl legte sich wie ein Druck auf seine frohe Laune.

Bei seiner Mutter fand er Besuch. Er erkannte die Dame sofort, er hatte ihr Bild auf der Staffelei bei seiner Mutter gesehen als einen schon ausgeführten Kopf, der auf der großen, sonst noch weißen Leinwand sich abhob, während die Linien der Gestalt nur von ein paar Kohlestrichen angedeutet waren.

Und Thea Daister sagte, daß sie sich für seine Unpünktlichkeit bedanke, sonst würde sie ihre geliebte Frau von Hellbingsdorf nur für fünf Minuten gehabt haben. Jetzt aber erhob sie sich eilig und zog unruhig und zerstreut ihren Pelzschal höher um die Schultern und kam doch nicht so recht zum knappen, letzten Wort.

»Ja, und was ich ganz vergessen hab',« sagte sie hastig, »es interessiert Sie doch? – Sie schätzen doch den Mann? O Gott, diese Frau! Fabelhaft. Die Kleine war vorgestern bei mir und gab mir noch tausend Grüße an Sie auf und erzählte, daß sie, so wie heute, nach Sankt Moritz abreisen wollten. Da sei dann doch Leben und Unterhaltung, an der man trotz der Trauer teilnehmen könne.«

Sophie erriet, daß von der Frau und Tochter des verstorbenen Freundes die Rede sei.

»Und Tulla meinte, viel lieber führe sie mit mir nach Hamburg – ich hätt' sie gern eingeladen, mitzukommen – bei meinen Eltern ist ja Platz in Hülle und Fülle – aber so 'n fremdes Element – und gerad' so Weihnacht – das mögen Pa und Ma nicht. Und außerdem, wir wollen ja gleich nach Neujahr selber 'n kleinen Rutsch nach Sankt Moritz machen – ja – –«

Sie atmete wie eine, die beim Laufen die Luft verloren hat, und schloß: »Aber nun muß ich wirklich gehen.«

»Abhaltung über Abhaltung,« schalt Allert. Aber er sagte nicht, welcher Art die seine gewesen sei.

Natürlich saßen die Dornes schon in übler Laune in der Halle des Hotels Atlantic, wo zwischen den riesigen Säulen, auf dicken Teppichen, die verschiedenen Sitzgelegenheiten von sanftem Licht bestrahlt wurden und rechter Hand ein kleiner Wintergarten mit weißen Gartenmöbeln eine gekünstelte Frühlingsstimmung hervorzurufen versuchte.

Aber im Augenblick, wo Frau Julia Dorne Allert sah, strahlte ihr Gesicht auf.

Sie ging ihm und seiner Mutter entgegen. Fast mit Leutseligkeit. Jedenfalls mit der Verbindlichkeit einer, die von sich die hohe Meinung hat, andere durch ihr Wesen und Dasein zu erfreuen. Das war so bemerkbar, daß Sophie stutzte.

Und überhaupt war sie erstaunt: sie hatte ein junges Paar erwartet. Dieser Mann mußte über vierzig, die Frau über dreißig sein. Der Mann sah ein wenig gebückt aus. Seine Augen waren hell und ausdruckslos. Doch belebten sie sich und glimmerten weißlich, wenn er sprach. Das Haupt war fast kahl, die Züge regelmäßig und angenehm. Einen kurzen, trockenen Husten, der an ihm auffiel, konnte man für eine gedankenlose Angewohnheit nehmen.

Wie der Mann so war, verschwand er durchaus neben der auffallenden und sehr betonten Erscheinung seiner Frau. Sie wirkte, wie sie lächelnd in der vorteilhaft gedämpften Beleuchtung stand, sehr reizvoll. Sophie mit ihren scharfen Beobachteraugen sah es rasch: das war eine von jenen bleichen, nervösen Frauen, die je nach ihrer Stimmung unwiderstehlich anziehend oder bemitleidenswert verblüht erscheinen können. Von jener gefährlichen, unregelmäßigen Schönheit, deren Einzelzüge man immer vergißt, weil die Augen in dem Gesicht triumphieren. Groß und schwarz waren diese Augen, und sie strahlten und flammten, als bräche ein sprühendes, geheimes Innenleben unaufhaltsam daraus hervor.

Als man dann, nach Erklärungen, Entschuldigungen, Glückwünschen, im großen Speisesaal an einem runden Tisch saß, vor der Hauptwand, in der Reihe vieler anderer solcher Tische, da kam eigentlich nicht die unbefangene Lebhaftigkeit der Unterhaltung auf, wie man von der Gelegenheit und zwischen vier gescheiten, durch Interessengemeinschaft verbundenen Menschen hätte erwarten dürfen.

Frau Julia roch zuweilen an den Rosen, die Allert ihr, dem Geburtstagskind, mitgebracht hatte, und sah ihn dann dabei immer mit einem tiefen Glanz in den Augen besonders vertraulich an.

Auf einige halb fragende Bemerkungen Sophiens hin erzählte Doktor Dorne, daß er bisher ein stilles Gelehrtenleben geführt habe, in seinem Laboratorium forschend und experimentierend – auch habe er einige Erfindungen gemacht und Patente darauf genommen – aber zur rechten Ausnutzung sei nichts gekommen – er habe immer zögernd gewartet – sich nicht in das hochgesteigerte Konkurrenzleben der chemischen Industrie hineinbegeben mögen – indessen, die Anforderungen heute seien sehr groß – eine Rente mit dem Charakter der festen Grenze im Finanziellen werde oft unbequem – die Töchter wuchsen heran – und so entschloß er sich, sein Geld arbeiten zu lassen. – Der gemeinsame Bekannte, der ihm vorgeschlagen hatte, sich Allerts jungem Unternehmen anzuschließen, war ihm autoritativ.

Sophie sprach den Wunsch aus, die Verbindung möge beiden Teilen zum Segen gereichen. Aber es kam nur ganz höflich aus ihrem Munde, fast zerstreut.

»Ich stellte meinem Mann vor,« sagte Frau Julia Dorne – sie sprach oft etwas stockend, als suche sie den besten Ausdruck und wolle nichts übereilt oder in nachlässiger Form sagen – »daß er geradezu ein Unrecht begehe, wenn er seine Wissenschaft, die ich bewundere, nicht ausnutze. So bedeutende Veranlagungen und so unerhörte Kenntnisse darf man heute nicht als Privatgenuß kultivieren. Die Allgemeinheit hat ein Recht daran.«

Und ihr Mann sah sie aufmerksam und mit einem leisen dankbaren Lächeln an.

Im Grunde nahm nun die Frau das Gespräch in die Hand.

Allert hörte zu. Er sah wohl, die schwarzen Augen hatten viel Güte für ihn – er empfand das von fern – wie ein Schauspiel – kein neues, kein ungewöhnliches – auch diese kleine Tafelrunde hier und die sacht huschenden Kellner, die leisen Gäste an den andern Tischen – die still glühenden Lichter zwischen den Prismen spürte er. – Vor seinem geistigen Auge war ein anderes Bild: klebrig, graugelber Nebel, stechende Feuchtigkeit ringsum, Kohlengeschmack in der Luft, trüb umflorte Laternen und mißtöniges Grölen. Und dazwischen das kluge, liebe Angesicht, blonde Haare und klare, graue Augen.– –

Das hab' ich geträumt! dachte er.

Aber dies hier war Wirklichkeit: Die schöne Frau, die aufblühte wie eine Jerichorose und, im Vergnügen, gefallen zu wollen, von allen Seiten beachtet zu werden, immer reizender wurde ...

»Erzählen Sie mir doch etwas von der Hamburger Gesellschaft. Ihr Sohn sagt, Sie seien so scharmant aufgenommen worden. Wir müssen uns orientieren – mit Vorsicht wählen – bis Ingeborg und Dolores erwachsen sind,« mit einem Lächeln darüber, daß man ihr ja doch nie die erwachsenen Töchter glauben werde, sagte sie es – »ja, bis dahin müssen wir einen festen Kreis haben. – Man kann ja nicht exklusiv genug sein – es heißt, eine Auslese treffen ...«

»Auslese treffen?« wiederholte Sophie, etwas benommen von all dem Selbstgefühl, »ich glaube – es scheint mir – es ist nicht so ganz leicht, hineinzukommen.«

»Nun,« sagte Frau Julia mit einem Siegerlächeln, »es gilt nur die ersten Anknüpfungen – dann sehen ja die Leute, mit wem sie es zu tun haben.«

»Gnädige Frau fühlen sich offenbar vorderhand als Prinzessin Inkognito,« meinte Allert neckend.

»Durchaus, und ich ernenne Sie zu meinem Ritter und ersten Kammerherrn.«

Dabei leuchteten die schwarzen Augen ihn funkelnd an. Allert verbeugte sich. Ihr Mann lächelte nachsichtig.

»Ihre Töchter aber werden traurig sein, daß sie am Geburtstag der Mama nicht mitessen durften,« sagte Sophie.

»O, Ingeborg und Dolores dürfen noch nicht ins Restaurant,« erklärte Doktor Dorne, »meine Frau ist mit Recht dagegen.«

Sehr richtig, dachte Sophie, aber dann bleibt man an solchen Tagen bei den Kindern zu Haus – mit uns, das hätte ja keine Eile gehabt – oder lag der Frau so überaus viel an Allerts Gesellschaft? Fast schien es so. Doch Sophie suchte nach einer Erklärung: vielleicht wollte die Frau das Ihre tun, zwischen den beiden Männern, die nun doch durch die allerwichtigsten Interessen miteinander verbunden waren, das Verhältnis recht gut zu gestalten – und tat dies auf ihre Art. –

Sie fragte: »Sie gaben Ihren Töchtern so schöne Namen? Nordisch und spanisch.«

»Als Ingeborg geboren wurde, erinnerten mein Mann und ich uns so lebhaft an eine herrliche skandinavische Reise, wo wir mit einem Freunde meines Mannes Stunden wundervoller Poesie erlebten. Weißt Du noch?«

Er nickte und berichtigte mit Genauigkeit: »Das heißt, Herr von Adlerbjerg war eigentlich Dein Bekannter, Du stelltest ihn mir vor.«

»Aber Du gewannst ihn rasch sehr lieb und schätztest ihn als einen der vornehmsten Menschen, die je ...«

»Freilich,« nickte er, »sehr vornehm.«

Sophie fragte mit noch mehr Interesse weiter: »Und Dolores?«

»Dolores? Ja, wie kamen wir doch darauf? Ich weiß nicht mehr.«

»Es war Dein Wunsch,« erinnerte ihr Mann. »Weißt Du noch, wie Bredarez in der Stadt war und Deinen Kopf mehrfach zeichnete – Du gewannst damals eine wahre Schwärmerei für alles Spanische. – Bredarez entdeckte auch, daß meine Frau ein ausgesprochenes Maltalent habe, und gab ihr Unterricht – schade – daß Du's so ganz liegen läßt.« –

Bredarez! dachte Sophie geängstigt. Bredarez, der geniale Hund – der fabelhafte Maler und unbedenkliche Frauengenießer?

»Ach ja,« sagte die schöne Frau lächelnd, »aber wie man doch vergißt – – wie hübsch war das damals. Und wie gut, daß man ab und zu eine Beschäftigung für die Phantasie hat, sonst würde man sich und andern langweilig.«

Ihr Mann sah sie bewundernd an. Und ganz von fern wollte sich in ihm eine schwere Erinnerung rühren, wach werden – an die Eifersucht, die er damals, tief verhehlt, empfunden hatte. Nun wieder sah er's: zu Unrecht! Denn sie hatte jene Vorliebe für das Spanische völlig vergessen ... Das konnte doch wohl sie nicht und keine Frau, wenn dieser Bredarez ... O, fort mit der Erinnerung – es lag eben im Naturell seiner Frau, dies Bedürfnis, sich in der Anbetung zu spiegeln –.– eigentlich auch das Recht einer so schönen Frau.– – Es wäre so verkehrt, darin nicht billig zu sein ...

Nach Tisch wollte Frau Julia durchaus Mutter und Sohn noch mit in die Oper nehmen. Als Sophie ablehnte, ergab sie sich rasch und höflich darin. Aber um Allert zu gewinnen, machte sie mit neckischen Herrinnenallüren noch Versuche. Er wehrte sich lachend.

Nachher seufzte Sophie ein wenig. Und stand noch ein paar Minuten in der Halle, ehe sie sich in den schrecklichen Nebel hinaus begab. Sie meinte, etwas Mühe werde es sie kosten, nett zu sein – sie sei nicht ganz ihr Genre, diese Frau Julia ... Und Allert hörte auch heraus, daß die stark draufgehende Koketterie seiner Mutter ärgerlich war.

Dies amüsierte ihn außerordentlich. Da war wieder die typische Mutter, die noch ihre Mann-Söhne ängstlich am Rock festhalten möchte, damit sie ihr an Leib und Seele nicht zu Schaden kämen.

Er tätschelte ein bißchen ihre Hand, die er abschiednehmend zwischen seinen Händen hielt: »Ich will mich nicht als Joseph aufspielen,« sagte er vergnügt, »aber Du ahnst nicht, wieviel verbrauchte Mittel und Posen in der Koketterie dieser Potiphar sind – da fallen nur grüne Jünglinge darauf rein – uralte Methode ... Gott und der gute Dorne ... Von himmlischer Vertrauensseligkeit ... Nee, Mutter, die Augen, die mich in Flammen setzen sollten, müßten andere Couleur und andere Blicke haben.« ...

Grau müßten sie sein – grau und klar ... dachte er ...

Und setzte gleich gegen sich selbst streitend hinzu: »Aber in den Schmutz des Lebens müßte sie nicht geschaut haben.«


Nun bekamen die Tage flinke Füße und ungeordnete Manieren und liefen aufs Weihnachtsfest zu. Alle Menschen hetzten sich bis zur Erschöpfung, und die nobelsten Leute wurden ihre eigenen Laufburschen und Dienstmänner. Mit Paketen Beladene rempelten einander an, und selbst die verbindlichsten Herren hatten dann keine Hand frei, entschuldigend den Hut zu lüften. Auf den Plätzen etablierten sich bewegliche Tannenbaumwälder. An den Straßenecken standen Händler, breite, flache Kasten an Riemen um die Schulter tragend und mit vorgestrecktem Bauch der Balance nachhelfend. Sie ließen an Schnüren den drolligsten Spielzeugkram schwebend auf und ab schnurren, und man sah weltbekannte politische Persönlichkeiten als blanke, bunte Blechfigürchen, zwischen Straßensteinen und Kastenwand zappelnd, hinab und hinauf turnen. Der Verkehrslärm wälzte sich mit Brausen durch die Straßen. Das Wetter wurde gut. Dies schien ganz Hamburg wie ein Geschenk, fast wie ein Wunder anzusehen, und alle Menschen sahen vergnügter aus. Das Stadtbild um die Binnenalster war in jenen seinen, bläulichen Duft gehüllt, der nur Küstengegenden zu umzärteln vermag, denn er wirft seine dünnen Schleier aus dem Atem des Meeres und des Riesenstromes.

Der geregelte Lauf des gesellschaftlichen und Geschäftslebens kam aus dem Gleise; der eine wurde ganz matt und blieb wartend am Wege stehen, bis seine Bahn wieder frei werde; der andere hatte offenbar eine Riesenpeitsche hinter sich. Die Gebäude festester Programme kamen aus den Fugen, und selbst die Senatorin Amster sah sich genötigt, ihre stets vorher auf lange hinaus bestimmte Tagesordnung auszuschalten, zugunsten eines Zwischenzustandes von Pflichten, die alljährlich einmal um diese Zeit auch erfüllt sein wollten.

Sie hielt keine ausführliche Entschuldigungsrede darüber. Frau von Hellbingsdorf hatte Verstand. Gut. Demnach mußte sie ohne weiteres einsehen, daß alle Armen, Kranken, Wöchnerinnen, Kinder und moralisch Verbesserungsbedürftige, die der Verein unter seine weitgespannten Flügel zu nehmen pflegte, in der Festzeit enorm viel Mühe, Zeit und Geld kosteten. Sie, die Senatorin, arbeitete ja nur für einen Verein, den von ihr gegründeten, dem sie vorsaß. Mit anderen Vereinen mochte sie nichts zu tun haben, es gab zu viel törichte und rechthaberische Frauen darin, himmelschreienden Dilettantismus im Sozialen. Aber in ihrem Verein sollte vorbildliche Arbeit geleistet werden – auch gerade in der Art der Weihnachtsfeier. Keine Massenbescherung mit Gesang, Ansprache, Verlegenheit und Stiefelgeruch. Nein, individuell! Jedem das ins Stübchen bringend, was gerade ihm Freude und Nutzen bedeutete. Das war nicht so einfach ...

Sophie sah, wie von ihr erwartet wurde, völlig ein, daß Marieluis vom zwanzigsten Dezember ab nicht mehr sitzen konnte. Es war ihr selbst so lieb. Erstens wegen des Bildes. Wenn sie acht Tage nicht daran arbeitete, bekam sie mehr Ferne dazu. Es war doch immer die Gefahr, sich so hineinzumalen, daß die Selbstkritik schlafenging. Die zeitweise Trennung vom werdenden Werk verbürgte das Wiedererwachen der Selbstkritik. Es lag Sophie so viel an dem Bild, wie noch an keinem – es sollte ein Meisterwerk werden. Immer mehr interessierte sie sich für dieses Mädchen. Welch fester und ganz in sich abgeschlossener Charakter. Ein Wesen, das über sich selbst Bescheid wußte und mit sich im reinen war. Bedeutend vielleicht sogar. Kühl? Nein, das glaubte Sophie nicht. Aber doch wohl eine Verstandsnatur. Wenn die dann einmal von einer Leidenschaft erschüttert werden! Das kann ernste Kämpfe geben ... Und Sophie bildete sich ein, daß diese Marieluis ein stilles Gefühl des Wartens mit sich herumtrage – eine Art verschwiegener Neugier, die sich manchmal fragte: »Was ist mir noch aufbewahrt? Hab' ich schon die unerschütterliche, dauernde Form für mein inneres Sein gefunden?«


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