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Bargagli erzählt

»Dass Ihr, liebe Herren und Freunde, an unserem den Zeiten und den Orten entrückten parnassischen Convivio einen Sienesen das letzte Wort sprechen heißt, könnte mich, wäre ich eitel, glauben machen, Ihr habt Euch zu dem bekehrt, was ich in meinem Dialoge Turamino zu beweisen suchte: daß das Sienesische dem Toscanischen überlegen sei und daß es mehr als dieses zur Bildung unserer Vulgärsprache beigetragen habe. Mit mehr Beredsamkeit als guten Gründen verfochten wir sogar den Wunsch, daß unsere Sprache nicht die italienische, sondern die sienesische genannt werde. Wir schrieben das späte Jahr 1602, als dieser Dialog gedruckt wurde. Es wendete sich die Zeit.

Freude suchend verlassen, Messer Giovanni, Eure sieben jungen Damen und drei Herren die mit Leichen gefüllte, schreckenbeladene Stadt, und finden im Blumengarten der Villa zwei Miglien vor dem Tore den lustvollen Ort, die Zeit zu vergessen in Geschichten. Höchst kunstvoll stelltet Ihr gegen den Hintergrund der Nacht und des Todes das heitere Licht des befreienden Lachens. Und immer wieder befolgten die meisten von uns, die wir Euch nachfolgten im Erzählen von Geschichten, Euer Beispiel. Euer Auretto, Ser Giovanni, verläßt Florenz im Jahre des Aufstandes der Ciompi, um jenseits des Apennin das Kloster von der geliebten Saturnina Nonnen zu erreichen, die Weihen zu nehmen und in erzählten Geschichten die Zeit zu vergessen, um die Welt zu gewinnen. Eure Gesellschaft, Signore Grazzini, vergnügte sich im Hause eines Freundes mit dem Schneespiel des Winters, und die Kleider trocknend saß dann alles ums Feuer des Kamines und erzählte. Ihr, Messere Parabosco, ließet Eure Herren die Stadt verlassen mit Netzen und Angeln, um auf den Inseln der Lagunen zu fischen. Aber das Wetter ist dem Vorhaben nicht günstig und so erzählen sie sich in den müßigen Stunden Anekdoten. Man sprach von der Liebe in Celso's Villa, Meister Firenzuola, wo ihr die Freunde sich treffen ließet und erzählte dann Beispiele zu dem Gespräch, verliebte Zufälle, wie Ihr sie nanntet. Und an unseres Schutzpatrones Boccaccio Beschreibung der Pest dachtet Ihr, Signore Cinthio, als Ihr Eure heitere Gesellschaft aus dem geplünderten Rom aufs Schiff führtet, wo sie sich die Fahrt nach Marseille mit Geschichtenerzählen vertrieb. Wie ich meine Herren und Damen Hunger und Elend des Krieges über Geschichten vergessen ließ, als Don Garcia von Toledo unser sienesisches Land verwüstete und unsere Schlösser und Burgen stürmte in jenem Jahre 1553.

Wir hatten keine Tragödie, denn wir hatten in Burg und Stadt und Ländern eine tragische Geschichte. Wäre ein Ort und eine Zeit gewesen, daß uns ein nationales Drama hätte geboren werden können, wäre es Florenz unter Lorenzo gewesen. Aber eine Stadt ist keine Nation und die Compagnia di San Giovanni war nicht das Globe-Theater. Was uns unsere Florentiner Kaufmanns-Fürsten gaben, war Karneval und Prunk und Tänze. Zum Drama fehlte uns der Geist und die Freiheit. Wir lebten unsere Tragödien, wir dichteten sie nicht. Darum konntet Ihr, Messere Cinthio, den gelehrten Irrtum begehen, den Seneca größer als die griechischen Tragiker zu finden.«

Hier sagte der Apotheker Grazzini:

»Und in unsern Komödien folgten ihre Verfasser heutigen Bräuchen und zugleich denen der nachgeahmten Alten, beriefen sich darauf, daß Plautus es so gemacht und Terenz auf diese Weise. Aber sahen nicht, wenn ich von Euch, Pietro aus Arezzo und von Euch, Meister Niccolo aus Florenz absehe, daß die Leute in Florenz und Pisa und Lucca nicht lebten wie im alten Rom. Wir waren in allem ganz verschieden und darum hätten auch unsere Komödien ganz verschieden sein müssen. Aber da gab es in unsern gelehrten Komödien Sklaven und adoptierte Kinder, obzwar wir in unserm Leben weder das eine hatten noch das andere kannten. Da gabs auf dem Marktplatz verkaufte Jungfrauen, als Kinder von unsern Soldaten geraubt, als ob unsere Soldaten wirklich nichts anderes zu rauben gehabt hätten als Wickelkinder, die sie als ihre Töchter aufziehen. Wir hatten inmitten der Tyrannis und dem Druck der Inquisition, dem spanischen Mißtrauen und der päpstlichen Angst wahrhaft diese geistige Freiheit verloren, die nötig ist für die Bildung einer dramatischen Kunst. Wir studierten und disputierten, wir kommentierten den Petrarca und glossierten den Boccaccio, – darauf verwandten wir, was wir an Geist besaßen. Und erheiterten uns in Geschichten, um unser tragisches Leben uns erträglicher zu machen.«

Grazzini hatte gesprochen, und Messer Bargagli fuhr fort:

»Als die Borgias ihre Opfer vergifteten und Lodovico Sforza in Pavia seines Neffen Tod anzettelte, als die Venetianer Carmagnuola köpften und Sixtus die Ermordung der Mediceer in der Kirche beratschlagte und Grifonetto Baglioni den großen Verrat exekutierte – hätte einer Solches im Drama auf die Bühne gebracht, Freunde, er hätte weder bei Hofe noch auf dem Marktplatz ein zuhörendes Publikum dafür gefunden. Das Gefühl des Gegensatzes zwischen der wirklichen Welt und der Welt der Kunst, dieses Grundelement der ästhetischen Freude, hätte gefehlt. Darum lachten wir und fabulierten und sangen Liebeslieder und romantische Abenteuer und überließen es Köpfen wie dem Machiavellis, mit unbeteiligter Neugier die Motive der Politiker zu untersuchen. Ich glaube auch nicht, daß unsere Herren, die auch unsere Gönner waren, ein großes Vergnügen an Tragödien gefunden hätten, in denen wir ihre Taten traktierten. Nicht einmal den Patriotismus des Brutus, die Rache des Virginius, den Zusammenbruch des Sejanus hätten wir auf das Theater bringen dürfen zu einer Zeit, wo die Verschwörungen so häufig waren. Wir waren nicht frei. Wir lachten, wir logen, wir waren verliebter Dinge voll, wir vergaßen uns in Scherz und Nichtigkeit. Es gelang uns nicht einmal das, was die Alten die Satire nannten, denn uns fehlte der moralische Sinn. Wir hatten nur boshaften Streit um die Verleumdung. Wir suchten Vergessen in Übermut. So zerrann unser Gut. Wir erzählten abertausend Geschichten, aber ihre Komödien und Tragödien zogen glücklicher lebende Völker daraus. So erschöpfte sich endlich auch unser Erzählen. Die Anekdoten begannen sich zu wiederholen und ihre Form, von Meistern geschaffen, begann leer zu werden. Es kam die Zeit der Letzten. Es kam meine Zeit. Es war kein Zufall, daß ich nur sechs Geschichten aufschrieb. Von einem Gatten etwa, der um die Tugend seiner Gattin zu erproben sich verkleidet und ihr auf diese Weise den Geschmack am Ehebruch beibringt. Oder das Abenteuer einer jungen edelgebornen Sienesin, die sich ihrem Geliebten hingibt ohne ihren Namen zu nennen und auf solche Weise die Liebe und die Tugend zu versöhnen glaubt. Oder –«

Er wurde von Zurufen unterbrochen, zu erzählen. Und so begann Messere Bargagli seine Geschichte:

»In unserer Stadt, die in der letzten Zeit etwas nachlässig im Leben und locker in den Sitten geworden war, mehr als nötig, lebte ein junges Mädchen von guten Eltern und von der Natur mit einer lebhaften Klugheit und einer jungen Schönheit ausgestattet, wie nur wenige ihres Alters. Sie hieß Lavinella, war eher achtzehn Jahre als sechzehn. Doch schienen jene, die mit ihrer Sorge betraut waren, noch nicht daran zu denken, aus mir unbekanntem Grunde, sie zu verheiraten. Sie war nicht nur durch den lebhaften Lebensdrang ihres Alters in beständiger Erregung, sondern auch durch ihren kühnen und aufgeweckten Geist, der es immer mehr wurde, und so sah sie sich an den heißen Tagen keineswegs mit den weiblichen Arbeiten wie es üblich beschäftigt. So blieb sie nicht, mit Ausnahme der hohen Festtage wie alle andern Jungfrauen allein in ihrem Zimmer eingeschlossen, wo sich die jungen Mädchen nicht anders zu zerstreuen und zu beschäftigen wissen als mit der Pflege kleiner Gärtchen oder Blumentöpfe oder indem sie ihre Vogelkäfige säubern oder ihre Puppen anziehen.

Lavinella zog es vor, sich in der Nähe eines der Fenster des Hauses aufzuhalten, die auf die Hauptstraße gingen, ganz nah beim Portal von Sant Aostino. Da hielt sie sich auch versteckt hinter einer alten Jalousie und beobachtete aufmerksam und mit dem größten Vergnügen alles, was da kam und ging. Sie vermied es, selber gesehen zu werden, darin dem Brauche folgend, der bei uns bereits ein strenges Gesetz geworden war, sehr lobenswert wie mir schien. Daß nämlich kein mannbares Mädchen sich sehen lassen dürfe, außer von ihren nächsten Angehörigen, und das bis zu ihrer Verheiratung. So sah nun Lavinella, Wochentags wie Sonntags, morgens und abends alle jungen Leute von Siena an sich vorbeiziehen, zu Fuß oder zu Pferd, und hatte ein außerordentliches Vergnügen daran.

Nun geschah es, daß unter den hübschen und artigen jungen Männern, die am Hause vorüberkamen, einer ganz besonders ihre Beachtung erregte. Er schien ihr ohne Gleichen und mit seinem hübschen Gesicht, seiner Haltung und seiner Adeligkeit alle die zu übertreffen, die sie schon vorbeiwandeln hatte sehen. Er hatte den Spitznamen Ricciardo wegen seines schön gelockten Haares, das ihm höchst zierlich ums Gesicht fiel, aber sein richtiger Name war Pandolfo.

Die leicht entflammte Lavinella hatte ihn schon einige Male gesehen und verzehrte sich in einer ruhelosen Liebe nach ihm. Ihre Gedanken hatten keinen andern Gegenstand als diesen Jüngling. Häufiger als sonst noch ließ sie alles was sie tat im Stich, um hinter dem Fenster stehend nach Ricciardo auszuspähen und alle Schauder der Seligkeit zu erleben, wenn ihn sein Weg vorbeiführte. Dazu kam, daß sie, ohne es zu wollen und zu wissen und ohne einen Grund zu haben, sehr eifersüchtig auf ihn wurde und alle Qualen litt inmitten der Flammen ihres Herzens. Bekam sie ihn, was ja öfter geschah, nicht zu Gesicht, so machte sie sich selber darüber Vorwürfe und zugleich auch dem Ricciardo, dem sie Undankbarkeit und Unhöflichkeit vorwarf.

Für Augenblicke fand sie dann aber ihre Ruhe wieder, indem sie überlegte und sich sagte, daß sie sich ja mit gar keinem Recht weder über sich noch über ihn beklagen könne, denn einmal sei er ja einer der ihrer Liebe würdigsten Männer und dann wüßte er ja auch gar nichts von ihrer Liebe. Was aber nicht hinderte, daß sie im nächsten Augenblick sich wieder über ihr Mißgeschick beklagte.

Bis eines Tages im Geiste der Verliebten brennend und flammend einer jener Gedanken aufwachte, welche die Grenzen jeder Zurückhaltung beiseite schieben wegen des Schmerzes, den diese Grenzen bereiten. Sie wollte und sei es mit jedem Mittel und um jeden Preis die Erfüllung ihres Verlangens. Sie dachte an alle jene Frauen, die tagsüber nichts taten als auf das Mittel zu sinnen, zu dem Geliebten zu kommen, und sie sagte sich, daß nichts unmöglich sei für den, der zu lieben wisse.

Aber als dieser Gedanke in ihr deutlich wurde, jagte er doch nicht völlig die Vernunft von ihrem Platze, sondern gebar einen ganz gegenteiligen Gedanken, um ihr den schweren Fehler zu zeigen, den zu begehen sie sich so unbedacht anschickte, indem sie nur auf ihr Gelüsten acht hatte. Und dieser andere Gedanke ließ sie sich der Frauen erinnern, welche als Sklavinnen ihrer Begierden ihren Verlust vollendet hatten. Und dieser Gedanke hätte fast über alle Argumente obsiegt, welche sich die so unsichere Lavinella zu gunsten ihrer Leidenschaft einredete, aber wie in Angst um ihre Liebe fand sie sich rasch andere und ähnliche Argumente und stärkere noch, um dem mächtigen Verlangen der Liebe den Sieg zu geben und jeden Widerstand der Vernunft zu brechen, ohne Bekümmern um Scham und Ehre.

In solcher Zwiespältigkeit ihrer Gedanken sagte sie sich: Schwer und hart ist dein Zustand, o Lavinella, schwerer und härter als je irgend einer andern der Liebe verfallenen Frau. Die wie du solche Last der Liebe tragen, empfinden Erleichterung darin, daß sie jenem, den sie lieben, die Angst deutlich machen, die sie fühlen. Du, Lavinella, hast diese Erleichterung nicht und kannst sie nicht haben, denn du hast nie noch ein Wort mit dem gesprochen, den du liebst und der dir nach dem Gesetz der Liebe die Erleichterung geben kann. Und nie wirst du dahin kommen, denn, o seltsamer Zufall, du selber bist es, welche deine armseligen Hoffnungen zerschneidest, indem du dich nicht entscheiden willst, ihm was du brauchst zu entdecken. Denk ein bißchen nach, Lavinella: entweder läßt du dein großes Verlangen von der Vernunft leiten oder diese wegschwemmen von deiner Leidenschaft. Ist dein Fall vernünftig, so brauchst du davor nicht zurückschrecken, dich dem Ricciardi anzuvertrauen, denn er ist klug und fein, und du kannst Verzeihung von ihm verlangen. Ist aber dein Verlangen verdammenswert, so darfst du ihn kein Wort davon wissen lassen und mußt deine Liebe mit jeder Wurzel ausreißen, wie es alle guten Ratgeber sagten. Und dennoch bestehst du darauf, trotz alledem deiner Flamme die begehrte Genugtuung zu geben! Und warum verlangst du dann nicht von dem, der es allein vermag, dich glücklich und zufrieden zu machen? Du zögerst, du wagst es nicht, du schämst dich, das Feuer zu zeigen, das dich verzehrt? Aber denk doch daran, daß du solchen Brand weder löschen noch verringern kannst, wenn du ihn verborgen hältst. Er wird im Gegenteil immer stärker werden. Zeig ihn also auf, bitte, verlange und wenn das nicht genügt, tu Gebete dazu und Tränen und Seufzer. Hast du Angst, dein Herz laut werden zu lassen? Schreib ihm, schick ihm einen Boten in deinem Namen. Ach, wie unglücklich ich bin! Ich sehe so gut, was nach jeder Seite hin richtig zu tun ist, aber will ich, vom Stachel der Liebe getrieben, den einen Weg gehen, so ruft mich Warnung und Ehre zurück auf den andern. Im gleichen Augenblick will ich und will ich nicht, und suche ohne die Hilfe des andern zu verstehen, was zu tun sei, und weiß nicht, ob der andere es besser weiß als ich. Das Beste wäre, nicht durch meine Gunst und nicht durch mein Verdienst, sondern durch eine List das zu erreichen, was ich so begehre und dessen ich mich so würdig fühle. Sicher fühlt ein wohlgebornes Mädchen Widerwillen gegen solches Mittel, aber was soll ich tun, wenn ich die Macht des Verlangens stärker spüre als die der Vernunft?

So lebte das zaudernde und verlustige Mädchen in dem Labyrinth der Liebe gleichwie in einem Kahn ohne Steuer von widrigen entgegentreibenden Winden gefaßt und nicht wissend, welchem sich anvertrauen. Mit ganz gleicher Kraft bedrängten sie die Liebe und die Ehre. Schließlich aber schoß es wie ein heller Blitz aus den Wolken und fiel in die sturmgepeitschte Seele: sie sah den Ausweg, durch den sie an das Ziel kam, das sie von den Peinen ihres Verlangens erlösen sollte.

Es war Karneval mit allen seinen Freiheiten. Die Nächte durch waren die Gassen voll mit Männern und Frauen. Es war am Faschingsdienstag, daß Lavinella nach dem Abendbrot und ohne Jemandem von ihrem Vorhaben ein Wort zu sagen in großer Heimlichkeit eine Maske vor ihr zierliches Gesicht nahm und gegen alle Bewachung von Jungfrauen ihres Standes allein und mit keinem andern Führer als der Liebe aus dem Hause schlüpfte und sich dorthin begab, wo Ricciardo wohnte, beim Tore la Postierla. Hier wartete sie darauf, daß er ausging wie alle andern jungen Leute, um sich in den Gassen zu zerstreuen. Und es dauerte nicht lange, da sah sie ihn aus dem Haus treten, in der Hand eine kleine Topflampe tragend.

Sofort ging sie auf Ricciardo zu und das Herz schlug ihr in der Brust. Aber unter dem Schutz der Maske nahm sie allen ihren Mut zusammen und sprach bescheiden:

›Höchst liebenswerter junger Herr, möchtet Ihr die Güte haben, mir mit Eurer Lampe die meine anzuzünden, sie ist, wie Ihr seht, ausgegangen.‹

Ricciardo, der mit gleicher Höflichkeit einer Lampe Licht geben konnte wie einem Verirrten über die Richtung, die er zu gehen hätte, antwortete:

›Sehr gerne.‹

Als ein kluger Mann musterte Ricciardo zwei oder dreimal von Kopf zu Füßen jene, die sich reich und vornehm gekleidet zu solcher Stunde ihm darbot. Ohne das Gesicht sehen zu können, schien es ihm doch, als habe es regelmäßige Formen und ohne Mühe kam er zu der Überzeugung, daß das, was sich ihm verbarg, höchst angenehm dem entsprechen müsse, was er sah. Da fiel ihm eine Menge ein. Er erinnerte sich mancher Abenteuer, die andere unter ähnlichen Umständen gehabt hatten. Er entzückte sich an der weichen Stimme und der anmutigen Gebärde der Unbekannten, deren Augen wie zwei Sterne aus der Maske blitzten und deren Busen sich unter lebhaftem Atem hob. Es kam ihm vor, als ob sie ein heißes Aufseufzen nur schwer unterdrücke, und es faßte ihn ein starkes Verlangen, zu wissen, wer diese Unbekannte wäre. Er blickte von Neuem in ihre Augen. Das junge Mädchen erleichterte ihm dies, indem sie sich im Anzünden ihrer Laterne verzögerte, so tat, als ob ihre Hand nicht sicher oder der Docht feucht wäre.

Da zauderte Ricciardo nicht mehr länger, das Abenteuer zu bestehen, bot verliebt Lavinella seine Begleitung an und fragte sie, was sie denn so ganz allein und zu solcher Stunde vorhabe. Lavinella hatte nichts Süßeres geträumt als diese Stimme und was sie ihr sagte und sie beeilte sich mit ihrem Bescheid:

›Schafft es Euch keine Ungelegenheit, mein Herr, so wäre mir Eure Gesellschaft sehr genehm, denn ich betrachte diese Stunde als einen Glücksfall und zugleich als einen Schutz. Ich habe kein Ziel und ist mir jeder Weg recht, den Ihr vorschlagt und dem ich folge unter der Bedingung, daß Ihr keine Gewalt gegen mich braucht und daß Ihr nicht darauf dringt, zu wissen wer ich bin und wie ich heiße. Das will ich Euch, wenn es mir paßt, aus freien Stücken sagen.‹

Das Versprechen war nicht schwer von Ricciardo zu erlangen, und sie promenierten alsbald durch die Gassen und Plätze der Stadt und ihr lustiges Treiben. Aber nach einer Weile fragte er seine Begleiterin, wohin zu gehen ihr am angenehmsten wäre und bat sie sehr inständig, es ihm zu sagen und versprach, alle ihre Befehle genau zu befolgen. Sie sagte ihm, er solle nur immer den besten Weg gehen, wie ihm dünke und den Ort wählen, den er für den passendsten halte, sie möchte ihm in keiner Weise lästig fallen und nur in seiner Gesellschaft bleiben. Und sagte noch, daß der ihr angenehmste Ort jener wäre, wo sie mit ihm das grösste Vergnügen genösse. Nun schien Ricciardo klar zu verstehen, daß das junge Mädchen in ihn verliebt sei, und er führte Lavinella ohne weitere Umwege in sein Haus und in ein schönes Gemach im ersten Stockwerk.

Er bewirtete sie mit Süßigkeiten und edlen Weinen und erhoffte sich davon, daß sie ihre Maske ablegen würde, was er bisher, trotzdem er es des öftern während sie durch die Gassen gingen versucht hatte, nicht hatte erreichen können. Er lud sie dringend ein, es sich Wohlsein zu lassen und sich zu stärken an allen den guten Dingen, die auf der Anrichte standen. Aber Lavinella schlug sich entschuldigend alles ab. Aber er bat so inständig, daß sie ihm, dessen Wünsche und Befehle zu erfüllen sie beglückte, das folgende sagte:

›Wenn Ihr alle Lampen entfernen wollt, so will ich Euch beweisen, daß mir alles was von Euch kommt lieb ist und daß mein Herz und mein Wille Euch in allem ergeben sind, was Ihr mir in Ehren zu tun befehlt.‹

Ohne daß ein Verdacht seine jugendliche Seele verdunkelte, beeilte sich Ricciardo Lavinella zu gehorchen und zu tun, was sie verlangte. Er löschte die Lampen aus und blieb mit dem jungen Mädchen in völligem Dunkel. Lavinella legte nun sofort die Maske ab und tat so, als ob sie von den Speisen äße, sagte, wie gut es schmecke, obwohl sie in Wirklichkeit Gerichte von ganz anderer Art und noch ganz anders süß und wohlschmeckend begehrte.

Die beiden jungen Leute verharrten, mit brennender Begier, eine Weile in scherzendem doppelsinnigem Spiel der Worte. Ungeduldig zu wissen, ob das wahr sei, daß die Frauen im Dunkel tun was sie sich im Lichte nie zu tun getrauten, kam Ricciardo mit einer Bewegung näher und ergriff ihre Hand. Das junge Mädchen tat Widerstand, aber doch auf die Weise einer Frau, die nicht auf den Sieg aus ist. So hatte Ricciardo seinen Sieg, aber Lavinella war so geschickt, das hinter allerlei Widerständen zu verbergen, denn sie wollte nicht als eine scheinen, die sich beim ersten Angriff ergibt, so daß der junge Mann, um sichere Beweise seines Sieges zu haben, dessen Beweise zwei- und dreimal wiederholte, in ganz kurzer Zeit. Und dies geschah ebensosehr zu des Siegers großen Freude wie zu der der Besiegten, denn das Schlachtfeld war ein weiches breites Lager.

Ohne auch jetzt ihren Namen zu nennen, erzählte sie im Plaudern ihrem Geliebten, wie seit langer Zeit sie ihm schon ihre Liebe geschenkt und wie sie, um sie ihm zu beweisen, beschlossen habe, ihn zu treffen und ihn zu sprechen. Es liegt nicht viel daran, daß ich Euch erzähle, mit welchen Gründen sie ihre Liebe dem Ricciardo zu erklären und zu rechtfertigen suchte. Der junge Mann aber war sehr erstaunt, das alles von einer ihm ganz unbekannten Frau gesagt zu bekommen. Er nahm es für eine Laune, daß sie sich seinem Anblick verborgen halten, ihm ihr Gesicht nicht zeigen wollte, aber er hoffte, daß er, wenn die Lampen wieder brennten, ohne weitere Worte würde feststellen können, ob die neue Ware seinem Gesichte ebenso großes Vergnügen bereiten würde, als sie es seinem Tastgefühl bereitet hatte. Aber er hoffte vergeblich. Denn Lavinella hatte bereits wieder die Maske vor das Gesicht gesteckt. Aber er tat so, als ob er das für einen Scherz hielte, so enttäuscht er auch war. Und begann alsbald mit Worten und Gesten sie zu bestürmen, ihn doch ihr unbedecktes Gesicht sehen zu lassen. Aber alles war vergeblich. Sie hatte auf alles was er sagte eine Antwort, und als er mit den Gesten heftiger wurde, fand Lavinella in ihren Händen nicht weniger Kraft der Abwehr und sie stieß ihn von sich und erinnerte ihn seines Versprechens, keine Gewalt zu gebrauchen. Und sagte ihm, daß er wohl hinreichende Beweise ihrer Liebe erhalten habe und nicht zu zweifeln brauche, daß was sie ihm verberge, seiner würdig sei. Und damit sie ihn ganz auf seinen Wunsch verzichten mache, sagte sie ihm, daß er sie, falls er sie nun gehen lasse, in zwei Stunden wiedersehen und ganz sehen würde.

Ricciardo war erst mißtrauisch gegen den Vorschlag, denn er konnte nicht einsehen, weshalb das Mädchen jetzt verweigere, was sie in zwei Stunden gewähren wolle. Er war eine Weile unentschlossen, aber endlich überzeugte er sich, daß es jene unwürdig belohnen hieße, welche so höflich alle seine anderen Wünsche erfüllt hatte, wenn er jetzt darauf bestünde, zu wissen wer sie wäre und wie sie hieße.

Nun war gerade in dieser Nacht ein großes Nachtfest, bei dem sich die vornehmsten Damen der Stadt einfanden, und Lavinella verlangte von Ricciardo, sie zu diesem Nachtfest zu führen, das in einem Hause der Calle di Casato statt hatte. Vor dem Tor dieses Hauses sagte Lavinella zu ihrem Freunde:

›Ich bitte Euch, habt keinerlei Sorge, wenn ich nun hier hinaufgehe. Ihr folgt mir nach einer kleinen Weile nach und wenn Ihr in dem Saale seid, wo die Damen sich unterhalten, dann schaut auf jene, die zwischen ihren Lippen einen Zipfel ihres Taschentuches hält. Schaut sie Euch für ein kurzes Weilchen an, und Ihr kennt dann alles an der Unbekannten, die mit solcher hoher Freude Euch in den Armen lag und Euch mit ihrem Leibe und ihrem Herzen das große Geschenk machte‹.

Nachdem er also, wie von ihm verlangt worden, eine Weile vor dem Tor gewartet hatte, ging Riciardo in das Haus und betrat den Saal, wo sich die Damen heiteren und unschuldigen Zerstreuungen hingaben. Er begann sehr vorsichtig eine Dame nach der andern zu betrachten, damit er am verabredeten Zeichen jene wiedersehe und erkenne, die ihm das Glück heute Nacht geschenkt hatte. Aber wie er auch suchte und schaute, er erblickte kein Taschentuch zwischen Lippen und auch keine Frau in der Farbe des Kleides, das seine Geliebte getragen hatte. Man versicherte ihm auch auf seine Frage, daß seinem Eintritt in den Saal keine Frau vorausgegangen sei. Da erkannte er, daß sich das junge Mädchen über ihn lustig gemacht hatte, indem sie zu einem andern Tore wieder aus dem Hause hinausgegangen und gar nicht in dem Saal bei den andern Damen gewesen war. Das Haus hatte, wie sich Ricciardo alsbald überzeugte, in der Tat bei Santa Croce noch ein zweites Tor, und durch dieses hatte Lavinella das Haus verlassen, um rasch ihren Palast zu erreichen, ohne sich weiter über Ricciardo und was aus ihm werden würde zu beunruhigen.

Nicht ohne Bedauern sah Ricciardo, daß er einer von ihm so sehr verlangten Süßigkeit beraubt bleiben sollte, nachdem er vor kurzem alle andern genossen hatte, denen nun das Gesicht fehlte.

Aber Lavinella hatte auf diese Weise ihre brennenden Süchte gestillt, ohne daß der, der ihr dafür die Mittel gab, wußte, wem er diese höchsten Freuden spendete. Ganz zufrieden mit ihrer Kriegslist hatte sie den festen Glauben, auf diese Weise und in Einem sowohl ihre Ehre bewahrt als auch ihre Liebe befriedigt zu haben. Denn wie die meisten Frauen war sie der Meinung, die Ehre bestünde in der Meinung der andern.«

Der Erzähler machte eine kurze Pause, um dann fortzufahren:

»Das war meine und die letzte Geschichte. Der Becher hier vor mir enthält nur mehr einen Schluck, und die Rosen und Violen des Kranzes hier sind matt geworden. So ermüdete nach zweitausend und mehr Geschichten auch der erzählende Mund und das ihnen bisher geneigte Ohr lauschte ihm nicht mehr.«

In das Schweigen, das diesen Worten Signore Bargaglis folgte, fiel Giovanni Boccaccios Stimme, und alles wandte sich ihm zu, als er nun sagte:

»Als wir es anfingen, Streiche und Geschichten zu erzählen, hielt es keiner von uns für ein sehr würdiges Werk. Es schien uns ein Zeitvertreib und eine Nachgiebigkeit gegenüber der Laune, der wir, schwach wie wir sind, zuweilen erliegen. Aber seht, wie es sich gefügt hat! Vergessen ist alles, was wir mit dem hohen Anspruch geschrieben haben, damit in die Ewigkeit einzugehen, und geblieben ist, was wir für nichtig hielten. In den abertausend Geschichten lebt die Zeit im mannigfaltigen Ablauf ihrer Tage, und wer sie liest, erfährt daraus, wie wir lebten, wie wir liebten, lachten und weinten. Ja, es schloß sich der Kreis, und alles war erzählt und gesagt. Aber es kam eine andere Zeit und sie erzählte dasselbe aufs neue, nur daß sie es in Reimen tat. Blickt auf und seht die, die nach uns kamen.«

In der Höhe des hellen Ortes, wo dem Convivio der italischen Novellieri die Tafel gerichtet war, lief ringsum eine schattenverborgene Galerie und da wurden, als die Tischgenossen aufblickten, eine Menge Gestalten sichtbar. Köpfe in mächtigen Lockenperücken, andere mit weiß gepudertem Haar, andere mit einem Zöpfchen. Sie standen plaudernd oder allein, beugten sich lauschend herab. Da war des Venetianers Baffo rundes lachendes Gesicht und das schmale des Carlo Gozzi. Da blickte das schmale Fuchsgesicht des Meisters Lafontaine aus einer Laubnische. Und weiter sah man noch den Abbé Grecourt, den Abbé Voisenon und viele noch im kleinen Mäntelchen der niederen Weihen. Der rote viereckige Kopf des preußischen Kriegsrates Scheffner zeigte sich und das klug lächelnde Gesicht Wielands fehlte nicht. Jeder von ihnen hatte Geschichten der Italiener da unten gehört und erzählte sie auf den gereimten kurzen Witz ihres Daseins gebracht auf seine Weise weiter für eine andere Zeit.

Francesco Cossa
Triumph der Venus II.

Es war nur für einen ganz kurzen Blick, daß die an der Tafel die andern oben auf der Galerie sahen und die Herren in Perücken und Zöpfen die bunte Gesellschaft da unten Denn es fiel die Nacht ein ...


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