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Der frivole Stil

Die Leichtigkeit und scheinbare Voraussetzungslosigkeit der Formen des Rokoko, der Zeit von 1740 bis 1790, gelten, – oberflächlich gesehen, – als Wesen und Gesetz für alle Form, in der man nichts als ein sogenanntes Äußerliches sieht, das ganz eklektisch gewählt wird. Das Rokoko verbarg Zweck, Konstruktion und Elemente hinter dem Ornament; man hob scheinbar alle statischen Gesetze auf – barockes Erbe – und gefiel sich im Illusionismus; man vermengte Plastik und Architektur so oft, indem man beides malte. Kirchen machte man wie Theater, Schlafzimmer wie Altäre, Bäume und Sträucher schnitt man nach Tierformen, Kaskaden ließ man aufwärts fließen, die Liebe reklamierte man für den Verstand, und den einzigen Zweck der Ehe sah man im Ehebruch und in der Ehescheidung das Sakrament dieses Ehebruchs. Das Gespräch und der Brief wurden die beliebtesten Ausdrucksformen auch für gelehrteste Dinge, denn man wollte nicht vor den Frauen pedantisch erscheinen, und man liebte den belebten Reichtum der Oberfläche und die Sinnlichkeit des Geselligen aus einer Tiefe heraus, die sich nicht selber genügte. So hatte das Rokoko in der Musik sein Genie. Dieses bewußt oberflächliche Jahrhundert kultivierte seine Oberfläche um so leidenschaftlicher, je mehr Kräfte von unten sich rührten, welche die Formen dieses Lebens in Zweifel stellten, weil sie dieses Leben selber verwarfen. So stark war noch die Kraft zur Form und die kulturelle Verpflichtung zur Oberfläche, dieses große Erbe der Renaissance, daß sich die Tiefen und Neuen selber darein begeben mußten, Diderot wie Rousseau, Lessing wie Goethe, Händel wie Mozart, Watteau wie Fragonard.

Man zitiert oft die Sitten des Rokoko als das Musterbeispiel der Unsittlichkeit. Aber das Quantum dessen, was im Sittlichen des erotischen Komplexes geschieht, ändert sich in den Zeiten sehr wenig, es wird sich immer oder meistens an der Grenze des gerade noch Möglichen halten. Man tat immer nur, was man konnte, und nicht mehr. Man vernichtete sich nicht, erschöpfte sich kaum. Man hat in der Zeit des ancien régime nicht unsittlicher gelebt als im Rom der späten Kaiser. Es änderte sich nur die Haltung. Variabel ist nur die Wertung des Geschehens. Das achtzehnte Jahrhundert moralisierte leichter, mit einem leichteren Gewissen. Es dürfte an dem ethischen Ideal gelegen haben, das sich jene Zeit aus ihrer Vernünftigkeit konstruierte, daß es zu keinen andern moralischen Reaktionen führte als solchen, die sie nur theoretisch äußern. Brachte der Zufall eines auf der Landstraße zerbrochenen Wagens die für die einfachen Sitten des Landvolkes schwärmenden Pariser an die Wirklichkeit dieses Landvolkes – in Schmutzhöhlen hausende Halbwilde –, dann konnte praktisch von der Schwärmerei nur eine Arabeske übrig bleiben oder ein dichterisches Spiel, das gefiel, an das man aber nicht glaubte. Es wäre aber falsch, den Geist jener Zeit anzuklagen, daß er nicht strenger gewesen sei und dadurch das Sittenlose gefördert hätte. Rousseau allein wiegt wohl die hundert Crébillons und Genossen auf, über die Laclos Autor der Liaisons dangereuses wie ein Strafgericht kam, da die Zeit für die Herrschenden und Formgebenden ihrem Ende sich zuneigte. Aber Laclos richtet nicht die sinnliche Entfesselung, sondern die Vergewaltigung des Sinnlichen durch den Verstand, der Leidenschaft durch die Klugheit, der Liebe durch das Vergnügen.

Was das ancien régime dichtete ist kein Dokument unbedingten Wertes für das, was es lebte. Denn die Dichtung ist mitnichten der Spiegel der Zeit oder nichts als das. Sie ist auch Steigerung, Übertreibung, besonders wenn sie, wie im Rokoko, nichts als ein Gesellschaftsspiel des Witzes und der Laune ist. Das Heer der kleinen – auch der großen – Literaten, Abbés und Nichtstuer mußte sich, arm wie es war, seinen Platz am Tische der Reichen oder seinen Stuhl im Salon mit einer Leistung erkaufen, welche im Witz bestand, in der Anekdote, in der Erfindung. Collé, der Verfasser der unanständigsten Liedchen und Operetten, war der allertreueste Gatte, der Chevalier Boufflers der hingebendste, treueste Geliebte, und solche Beispiele scheinbaren Widerspruches ließen sich viele anführen zur Bestätigung, daß die Zeit nicht unsittlicher geliebt hat als irgendeine andere. Nur daß sie unsittlicher gedacht hat in diesen Angelegenheiten des Sinnlichen und daß sie mit einer Vernunft gedacht hat, die, schnell erschöpft, zu immer steigenden Rafinements treibt, um sich zu behaupten. Der frivole Stil ist höchst artifiziell: er unterwirft sich jede Äußerung, vom Schönheitspflästerchen bis zum Denken der Gelehrten, vom Madrigal bis zur Tragödie, vom Baum im Parke bis zum Gemälde. Genießen: die Devise variieren tausende Sätze. Den Menschen sind fünf Sinne gegeben dazu, daß sie ihm Lust und Schmerz vermitteln – kein einziger, der ihn das Wahre vom Falschen unterscheiden ließe. Wozu Heroine sein, wenn man sich schlecht dabei befindet? Wenn uns die Tugendhaftigkeit nicht glücklich macht, wozu zum Teufel ist sie da? Haben Sie so viel Tugend, als gut ist für Ihr Behagen und Ihre Bequemlichkeit, und nicht mehr! ... Sie lieben Ihren Gatten nach sechs Monaten noch? Das kann sich eine Modistin leisten, aber keine Marquise. (Bagatelles morales.) Alle Ihre Gefühle für mich sind um so schöner, als nicht ein einziges aufrichtig ist ... Ich bedauerte um so mehr, daß Sie nicht da waren, als ich Ihnen Gefühle zuschreiben konnte, von deren Nichtvorhandensein in Ihnen mich nur Ihre Gegenwart überzeugen kann. ... (Madame du Deffand an Walpole.) Es gibt nichts Wahres, nichts Ernstes, nichts Solides in der Welt als einen schönen Pantoffel einer schönen Frau. ( Galiani.) Die Tugend der Frau ist ein chimärisches Vorurteil. ( Duclos.) Die Natur sagt zur Frau: Sei schön, wenn du kannst, klug, wenn du willst, aber sei beachtet, das muß sein. ( Beaumarchais.)

Jedes Gesicht dieser Zeit hat zwei Profile: ein mit Krampf ernstes und das andere, das sich über den Ernst lustig macht, ein gefühlvolles und eines, das darüber den zynischen Witz macht. Diese Doppeltheit, dieser Widerspruch war in einer Form nicht zu halten, und wurde zum auflösenden Element. Der frivole Stil war die lässige Abwehr eines unaufhaltsamen Schicksals. Man ging zum Schafott wie zu einer lästigen Visite: pour prendre congée.


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