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XII.
Die Nachfolge Balzacs

Letztwillig hatte Balzac seine Frau zur Universalerbin eingesetzt, ihr zugleich aber ausdrücklich freigestellt, diese Erbschaft anzutreten oder auszuschlagen; in diesem Testament bestätigte er, von ihr ein Darlehen von 130 000 Franken erhalten zu haben; »aber von 1848 bis zu seinem Tode habe ich«, wie sie einem Vertrauensmann schrieb, »seinen Gläubigern das Doppelte dieser Summe bezahlt, wie das bis zu meiner Ankunft in Frankreich im Mai 1850 die Bücher des Hauses Rothschild und seither die von mir eingelösten Wechsel und Schuldscheine beweisen; überdies habe ich noch 60 000 Franken Rückstände für Balzac zu begleichen außer einer Leibrente von 3000 Franken für seine Mutter.« Eva nahm alle Lasten dieser Erbschaft vorbehaltlos auf sich. Bis an das Lebensende von Mutter Balzac – drei Jahre lang – zahlte sie der in Danksagungen sich überbietenden Greisin pünktlich diese Rente; von kaufmännischen und literarischen Sachkundigen beraten, ließ sich Eva weiter angelegen sein, im Lauf der Jahre bis auf den letzten Sou Balzacs Schulden zu tilgen. Dem alten, treuen Arzt Nacquard, der den Dichter auch in dieser Todeskrankheit fürsorglich gepflegt hatte, schenkte sie zum Andenken Balzacs legendarischen Stock mit der Erklärung: »Das Geheimnis des Stockes sei die kleine goldene Kette eines jungen Mädchens gewesen, aus der dann der Knopf des Stockes geformt wurde, die Kette des Mädchens, aus dem mit den Jahren die traurige, unglückliche Frau geworden ist, deren Mut Sie aufrecht erhalten wollen.« Eva hatte Balzac vermutlich in Genf als Liebeszeichen ihr Kettchen gestiftet, das er dann einschmelzen, mit Edelsteinen besetzen und vom Goldschmied Froment Meurice zum Knopf der vielberufenen »Canne de Mr. Balzac« umarbeiten ließ.

Eva überlebte den Dichter jahrzehntelang; sie ruht in seinem mit Davids Kolossalbüste gekrönten Grab auf dem Père Lachaise, wie die Inschriften verkünden: »Honoré de Balzac, né a Tours le 20 mai 1799, mort à Paris le 18 août 1850. Eva Comtesse Rzewuska, veuve d'Honoré de Balzac, née au château de Pohrebyszcze, morte à Paris le 9 avril 1882.« Und sie hat nicht nur den Namen Balzac bis an den Ausgang ihrer Tage getragen: sie bemühte sich um den Abschluß einiger unvollendeter Romane, um Bühnenaufführungen seiner Stücke, um die Illustrierung der »Contes drolatiques« durch Doré, um Ordner des heillosen Wirrwarrs seiner Papiere. All das muß zu Evas Gunsten gesagt werden, ehe man den Gründen nachgeht, aus denen Victor Hugo die Frau Balzacs nicht an seinem Sterbebette traf. Octave Mirbeau hat das abscheuliche Märchen erzählt, daß Eva, während Balzac in den letzten Zügen lag, im anstoßenden Zimmer in Lüsten auf einem Lotterbett mit dem Maler sich wälzte und erst nach wiederholten entsetzten Rufen der Pflegerin halbnackt an Balzacs Schmerzenslager gelaufen sei. Mirbeau mußte auf den entrüsteten Einspruch der Tochter Evas und Gigoux', dessen Sekretär behauptete, der Maler habe Madame Balzac erst 1852 kennengelernt, seine Skandalgeschichte kartonnieren lassen.

Zweifellos hatte die Ehe Balzacs und Evas zu argem Zwiespalt geführt. Evas Neffe, der als Ibsenapostel in Frankreich tätige Graf Rzewuski hat in einem als »Rettung« seiner Tante gedachten biographischen Blatt »Le mariage de Balzac« unumwunden zugegeben, daß die Honigwochen der Neuvermählten sehr bitter waren. Eva sei nur eine Dame von Welt, wenn auch von der besten Welt gewesen, die nie die Tragweite des Riesenwerkes ihres Gatten begriffen hätte. Sie habe Hanski nicht geliebt, wollte diesem Gatten gleichwohl treu bleiben: dennoch gab sie sich dem Romancier in einer großmütigen Aufwallung siegreicher Leidenschaft hin. »Wenn Herr Hanski von einem Mann wie Balzac betrogen wurde, geschah das, weil es nach Rzewuski, selbst in dieser Welt eine Gerechtigkeit gibt.« Ebenso befremdend wie diese Begründung der Täuschung Hanskis ist Rzewuskis Bekenntnis, daß Evas Ehe mit Balzac, »die uns heute ganz natürlich scheint, der slawischen Aristokratie dazumal wie eine entsetzliche Mesalliance vorkam. Evas Onkel Severin Rzewuski war einer der drei Diktatoren Polens am Ende des 18. Jahrhunderts gewesen. Die Liebschaft hätte man nachgesehen, nicht so die Ehe mit einem Plebejer, Ausländer, Literaten!«

Fast von Anfang an gab es Hader. Zuerst war Eva von Balzacs Eifer als Reisemarschall in hohem Grade befriedigt. Sowie sie die russische Grenze hinter sich hatten, fanden sie gastlichen Willkomm auf österreichischem Boden und trotz seiner schweren Leiden konnte sich Balzac nicht genugtun, Eva jede Mühe abzunehmen. Das rühmte sie dankbar in den ersten Briefen an die Ihrigen. Bald aber änderte sich das gründlich. Es häuften sich bei der Heftigkeit Evas, bei der durch die Krankheit gesteigerten Reizbarkeit Balzacs Krisen, Auftritte, Stürme. Die langwierige Fahrt von der Ukraine nach Frankreich, mit dem entkräfteten, schwer beweglichen Patienten war eine traurige Hochzeitsreise, von deren Leidensstationen Eva ihrem Mißmut in Stoßseufzern ihrer Briefe nach Wierzchownia Luft machte, und in Paris stellten unabweisliche Zahlungen und neue Krankheitsanfälle Balzacs das Paar auf Geduldproben, die Honoré in seinen Selbsttäuschungen gelassener bestand, als seine herrisch aufbrausende Gefährtin. Der Dichter glaubte nicht, daß sein Zustand ernst sei: während einer Punktierung meinte er heiter, der Wahrsager Balthazar habe ihm prophezeit, mit 50 Jahren werde ihn eine so furchtbare Krankheit befallen, daß seine Freunde ihn als verloren ansehen würden, er werde aber gerettet werden und noch weitere 80 Jahre leben. Zwei Wochen vor seinem Tod, am 5. August, diktiert er an seinen Vertrauensmann Fessart die Worte: »Ich habe einen Abszeß am rechten Bein. Das sagt Ihnen, wie sehr meine Schmerzen sich erhöht haben. All das ist indessen nur der vom Himmel verlangte Preis für das ungeheure Glück meiner Ehe«, eine Botschaft, der Eva die Nachschrift folgen läßt: »Sie werden auch fragen, wie der traurige Sekretär die Kraft hatte, einen Brief zu schreiben: Dieses arme Wesen ist zu Ende mit allem, und in diesem Zustand ist man nur mehr eine Maschine, die fortarbeitet, ehe die Vorsehung ihre Sprungfedern zerbricht.« Eine Woche vor Balzacs Tod meldet sie Fessart: »Inmitten seiner furchtbaren Schmerzen beschäftigt sich mein Gatte dermaßen mit den Summen, die Sie brauchen, daß ich Sie bitte, sofort den fehlenden Betrag anzugeben. Wir haben keinen Augenblick frei: Verbände, Operationen, Schmerzen. Auch ich war sehr krank.« Mit diesen im Dezember 1924 von der Revue des deux mondes mitgeteilten Zetteln will Bouterons »Apologie von Madame de Balzac« erklären, daß sie wirklich nur aus Erschöpfung nicht bis zuletzt am Krankenlager ihres Gatten ausgeharrt habe.

Wie dem auch sei, die besten, unbefangensten Kenner von Balzacs Leben und Lebenswerk waren überzeugt, daß Evas Kundgebungen nach Balzacs Tode von theatralischem Überschwang nicht frei waren, und Spoelberch de Lovenjoul äußert ziemlich unverblümt die Meinung, daß Madame Hanska sein Schaffen gehemmt habe durch die Rücksichtslosigkeit, mit der sie den Dichter, unbekümmert um seine Arbeitspflichten, zu gemeinsamen Reisen nach Deutschland, Italien, Holland, der Schweiz und zu langandauernden Besuchen in Rußland nötigte. Wie redselig auch nach Balzacs Tod das Blut »in der Matrone Adern« blieb, war offenes Geheimnis.

Champfleury war in der Normandie, als sein Meister starb; gleich nach seiner Rückkehr besuchte er die Witwe, die ihn äußerst beflissen empfing. »Würde man es glauben, ich verließ das Haus erst, nachdem die Vertraulichkeit zwischen uns einen nicht mehr zu übersteigenden Grad erreicht hatte, und ich kann bekräftigen, daß das nicht von mir ausgegangen war. Ich hatte über Neuralgien geklagt; daraufhin legte sie mir beide Hände mit den Worten auf die Stirn: ›Ich werde Sie davon befreien.‹ Es gibt gewisse magnetische Strömungen, die weiter führen.« Beschämt im Gedächtnis an seinen Meister kam Champfleury nach Hause. Er sah Eva dann wieder und wieder. Ein Vierteljahr später ging er mit sich ins Gericht. Wie sollte das enden? Er war 34 Jahre alt, er konnte sich versucht fühlen, die 45 jährige zu heiraten, ein Bohemien, der noch andere Liebschaften hatte. Jeden Augenblick zog er sich zurück, und jeden Augenblick rief ihn Eva zurück unter dem Vorwand, Balzacs Papiere seien zu ordnen. Champfleury sah den Torso der »Paysans« und lehnte es ab, das Werk zu vollenden, eine Aufgabe, der er sich nicht gewachsen fühlte. Nun blieb er Eva eine Zeitlang fern. Daraufhin sucht Madame de Balzac den Säumigen auf und legt, während er einen Augenblick im Nebenzimmer ist, die Hand auf einen Liebesbrief. »Was ist das?« fragt sie den Eintretenden. Er schwieg beredt, bis sie bittend rief: »Schlagen Sie mich nicht!« »Nein, Madame, ich werde die Ehre haben, Sie hinauszubegleiten.« Nach einiger Zeit lud sie ihn wieder zu sich, doch für Champfleury war alles abgetan: »Ich bin einer der größten Gefahren meines Lebens entronnen. So sind die Frauen. Sie war eine Mystikerin und in solche Mystik mischt sich immer ein gutes Teil Sinnlichkeit« (Champfleury braucht einen derberen Ausdruck). »Sie war dazumal schon sehr dick. Sie hatte die Nase Katharinas II., und ich, der jung und ein Bohemien war, fühlte eine gewisse Aufregung und Furcht, ein Liebesverhältnis mit Kaiserin Katharina von Rußland zu haben. Seitdem hat sie sich beinahe verheiratet mit dem Maler Gigoux, der eine Groteskfigur ist.« Gigoux, ursprünglich ein Schmied, der sich als Porträtmaler und auch als Illustrator des Gil Blas einen Namen gemacht hatte, war 1851 in der polnischen Kolonie vielgesucht; Evas Tochter saß ihm zu einem Bildnis; die Mutter ließ sich dann ebenfalls porträtieren, und eine Beziehung begann, in der Madame de Balzac mit ihm »presque maritalement« lebte.

Tiefer und reiner als Eva hat seine Schwester Laura und Zulma Carraud den Geschiedenen betrauert. Delphine Girardin wurde bewußtlos, als sie seinen Tod erfuhr. Théophile Gautier traute seinen Augen nicht, als er im Café Floriani zu Venedig plötzlich im Journal des Débats las, daß der von ihm als größter Romancier verehrte Meister gestorben sei. Heine schrieb Laube: »Ich habe meinen Freund Balzac verloren und beweint.« Lamartine, der sich nicht satt lesen konnte an seinen Romanen, gedachte seiner in ebenso hohen Tönen wie Victor Hugo, und George Sand gab ihrer Liebe und Treue für den alten Lebenskameraden wieder und wieder in ihren Schriften dauernden Ausdruck, der in dem Urteil gipfelte: Die unvergänglichen Bücher dieses großen Kritikers der Menschheit sind nicht Romane, in dem Sinn, den man früher darunter verstanden hatte.

Niemand aber zog unter dem unmittelbaren Eindruck der Todesnachricht die Summe der Existenz Balzacs überlegener und unbefangener als Sainte-Beuve. Unbeirrt durch ihre früheren Fehden würdigte der größte französische Kritiker seiner Tage nicht viel mehr als eine Woche nach dem Leichenbegängnis des Romanciers in seiner Montagsplauderei vom 2. September 1850 Balzacs Lebenswerk in einer Meisterstudie, deren Grundgedanken für alle Folge Geltung behaupten. Balzac sei sicherlich ein Sittenschilderer seiner Zeit gewesen, vielleicht der originellste, berufenste, scharfsichtigste. Frühzeitig habe er das 19. Jahrhundert als sein ihm zugehöriges Reich betrachtet und behandelt. Die Gesellschaft ist wie eine Frau, sie will ihren ureigenen Maler für sich allein. Das wurde Balzac; er hat sich in seiner Malweise an keine Überlieferung gehalten; er hat die Kunst der Pinselführung im Dienst dieser neuen, ehrgeizigen, selbstgefälligen Gesellschaft erneuert, die keinen anderen wollte und Balzac doppelt willkommen hieß, weil sein Abbild ebenso eigenwillig war, wie ihr Urbild. 1799 geboren, war er 15 Jahre alt beim Fall des Kaiserreiches: die napoleonische Ära hat er denn auch mit den tiefhaftenden Eindrücken der Kindheit aufgenommen. Die Restauration konnte er als ungekannter, aufstrebender Künstler beobachten mit der grenzenlosen Begehrlichkeit des Talentes und der Natur, die die verbotene Frucht tausendmal in der Einbildung vorkosten lassen, bevor man sie erringt und besitzt: so hat er die Restauration mit den Gefühlen eines Liebenden von Grund aus erforscht. Das Juli-Königtum sah er in seiner ganzen Fülle von hoher Aussichtswarte; er hat es dann auch entzückend in seinen bedeutendsten Typen festgehalten. Die drei Epochen der ersten Hälfte seines Jahrhunderts hat er durchlebt und sein Werk ist bis zu einem gewissen Grade der Spiegel dieser Zeiten. Wer hat besser als er die Schönen und die alten Herren des Kaiserreiches konterfeit? Wer vor allem traf köstlicher die Herzoginnen und Gräfinnen des Ausgangs der Restauration, diese Frauen von dreißig Jahren, die ängstlich ausschauten, ob sie den rechten Porträtisten finden würden und bei der Begegnung mit Balzac wechselseitig wie durch einen elektrischen Schlag sich verbunden fühlten? Wer endlich hat besser die unter Louis Philipp triumphierende Bourgeoisie erfaßt, die von ihm verewigte Klasse der Birotteaus und Crevels? Frühzeitig hat Balzac sich vorgesetzt, den Kreis dieser Zeiträume zu durchmessen, und er ließ es daran nicht genug sein: er beschied sich nicht damit, zu beobachten und zu erraten, sehr oft ließ er seine Schöpferkraft und Phantasie walten. Das Herz der aristokratischen Gesellschaft, der er stets nachstrebte, gewann er allerdings als Beobachter von außerordentlicher Feinheit und Anmut: »Die Frau von dreißig Jahren«, »Die verlassene Frau«, »Die Grenadiere« waren die ersten Elitetruppen, die er vor die Feste führte, und mit denen er Herr der Zitadelle wurde. »Die Frau von dreißig Jahren« ist allerdings keine ganz neue Schöpfung in der Dichtung. Sainte-Beuve erinnert, daß am Fasching-Dienstag 1763 der Hof einen »Ball der Mütter« gab; die Jugend sah zu, indessen die Mütter tanzten, ein Fest, das in einer hübschen Chansonette fortlebt mit dem Kehrreim: »Enfants de quinze ans, laissez danser vos mamans« – Kinder von fünfzehn Lenzen, ruft heut' eure Mütter zu Tänzen. Balzac nahm das unsterbliche Thema von der Frau, die die erste Jugend hinter sich und den Wunsch nach neuem Leben, neuem Lieben sich regen fühlt, auf, es glückte ihm, die Aufgabe zu vertiefen und siegreich zu lösen: und obwohl er die Urform seiner Meister-Novelle La Femme de trente ans (wie Sainte-Beuve mit Recht beklagt) hinterdrein durch mißratene melodramatische, wie aus Verbrecherromanen geholte Folgekapitel schädigte, führte dieses erste kleine Meisterwerk seinen ungeheuren Erfolg herbei.

Noch stärker als in Frankreich war die Wirkung seiner Romane in Italien, Ungarn, Polen, Rußland; vieles, was in der Heimat heikleren Lesern übertrieben und unwahr schien, gefiel im Ausland gerade durch seinen fremdartigen Reiz. Im Abschnitt VII wurde erzählt, daß in Venedig einen Winter lang die vornehme Gesellschaft Namen und Charaktere Balzacscher Hauptgestalten, Rastignac, Marquise d'Espard, Maufrigneuse usw. annahm. Manches, was in Paris nur als Ausgeburt toller Millionärsträume belächelt wurde, wie allzu phantastisch geschilderte Einrichtungen seines Salons im »Mädchen mit den Goldaugen«, verwirklichte man auswärts in Mobiliaren »à la Balzac«. Wie hätte der Künstler stumm und stumpf bleiben sollen nach solchem Widerhall seines Rufes? Er glaubte an diesen Ruhm und hatte den Ehrgeiz, seiner starken fruchtbaren Natur alles abzudringen, was sie an Kräften und Eingebungen aller Art in sich barg. Er besaß den Leib eines Athleten und den Feuergeist eines nach jedem Kranz greifenden Künstlers; es brauchte nichts Geringeres, um seine Sendung zu erfüllen. Erst seit Sainte-Beuves Tagen sah man solche herkulische Organisationen mit dem Aufgebot all ihrer Fähigkeiten zwanzig Jahre lang ununterbrochen ihr ganzes Selbst an ihre selbstgestellten Aufgaben setzen. Wenn man Racine, Voltaire, Montesquieu liebt, fragt man nicht, ob sie von robustem Körperbau waren, sie schrieben nur mit ihrem Denkvermögen. Heutzutage schreibt ein Autor vom Schlage Balzacs nicht nur mit seinen geistigen Anlagen, er schreibt auch mit seinem Blut und seinen Muskeln; die Physiologie und Hygiene eines Künstlers sind unerläßliche Voraussetzungen der Analyse seines Talentes geworden. Das gilt besonders für Balzac, dessen physische Natur eine große Rolle in seinen moralischen Schilderungen spielt, nach Sainte-Beuve mit Fug und Recht spielt. Zeuge dessen das folgende Geschichtchen. Der blutjunge Villemain liest Sieyès ein »Eloge« Rousseaus vor; als er an die Wendung kommt, »ich würde fürchten, allzulang meine Blicke auf schuldbaren Schwächen ruhen zu lassen, die man immer weit von sich entfernt halten soll«, unterbrach ihn Sieyès mit dem Einwand: »Nein! nein! man muß sie sich nahekommen lassen, um sie so genau als möglich zu studieren.« Sainte-Beuve bekennt sich zu der Ansicht Sieyès' und damit zur Art Balzacs.

Ohne Vergleich maßvoller als der Romancier, ist Sainte-Beuve als »biographe-moraliste« im innersten wesensverwandt mit Balzac. Beide, der Erzähler wie der Literaturhistoriker, wandeln als Menschenkritiker gleiche Wege. Beide sind Jünger der Naturforschung. Nur ist Sainte-Beuve, der in seinen Anfängen Mediziner war, bedächtiger und exakter als Balzac, der sich in seiner Vorliebe für das Okkulte, als Parteigänger von Swedenborg, Mesmer, selbst Saint-Germain und Cagliostro, vielfach Illusionen hingab. Weit mehr als alles Schulwissen half Balzac seine physiologische Intuition. Mit voller Zustimmung beruft sich Sainte-Beuve auf ein Wort von Philarète Chasles: »Bis zum Überdruß hat man wiederholt, daß Balzac ein Beobachter, ein Analytiker war; er war etwas Besseres oder Schlimmeres, er war ein Seher.« Was er nicht auf den ersten Blick sah, verfehlte er meist. Wieviel aber sah er, auch wenn er, im Gespräch oder auf seinen Gängen dessen, was um ihn vorging, scheinbar gar nicht acht hatte. Fast jeden Gau Frankreichs hat er in seinen Romanen nicht etwa nur äußerlich beschrieben; seine Städte- und Landschaftsbilder sind von innerem Leben erfüllt: Menschen und Legenden, Behausungen und Schicksale bedingen und bestimmen einander: das Saumur Grandets, die Bretagne der Chouans, das Issoudun der Krebsfischerin, das Angoulême des Poeten Rubempré und des Erfinders Séchard, das Sancerre der Provinz-Dichterin Dinah, das Douai des Alchimisten Claës, das Provins von Pierrette, das Burgund der »Bauern«, die Gestade von Croisic (im Drama am Meeresufer und Beatrix), die Touraine in der Lilie im Tale und vielen anderen Geschichten, vor allem aber Paris, »das geliebte Ungeheuer,« das in ungezählten Aufnahmen, in allen Herrlichkeiten und Heimlichkeiten, in seinen Pracht-Veduten und in seinen Schamteilen erscheint: jedes einzelne Blatt, jedes besondere Bild schließt sich zu einem Atlas zusammen, dessen gleichen kein Kartograph treuer, kein Architektur- und Vedutenzeichner künstlerisch beseelter zustande bringen kann.

Und individuell ebenso deutlich geschieden, in ihren Gesichtszügen, wie in großen und kleinen Besonderheiten ihrer Kleidung standen die zwei bis dreitausend Personen seiner Weltkomödie vor seinem Auge. Er vergaß sowenig wie Wallenstein oder Napoleon einen Menschen, den er einmal ins Auge gefaßt: er wählte und kannte seine Truppen vom obersten bis zum letzten Fußsoldaten und Fuhrknecht, von der Weltdame bis zur Hausmeisterin, Kartenaufschlägerin, Buhlschwester und Kupplerin. Er war, nach Sainte-Beuves Wort, trunken von seinem Werk, in dem er von Jugend an, wie in einer leibhaftigen Welt sich heimisch fühlte. Seine Gestalten aller Stände und aller geistigen und gemütlichen Abstufungen, denen er sein Dasein eingehaucht, vermischten sich in seinen Sinnen mit der Wirklichkeit, die für ihn nur mehr eine abgeschwächte Kopie seiner Schöpfung war. Er sah sie vor sich. Er sagte Sandeau, der ihm von der schweren Erkrankung einer Verwandten erzählte: »Gut. Aber reden wir von Wichtigerem, von Eugénie Grandet« und sprach mit seiner Schwester mit vollem Ernst wie von einer ihn selbst angehenden Familienverbindung von der richtigen Braut aus dem nur in seinen Romanen vorkommenden Geschlecht der Grandlieu mit dem oder jenem Ehekandidaten. Seine Gestalten standen in Fleisch und Blut so sinnfällig vor ihm, daß sie ihn nicht mehr freigaben. In Augenblicken der Begeisterung umringten sie ihn, wie eine Runde und rissen ihn in den unabsehbaren Reigen der menschlichen Komödie, der uns nur beim Hinsehen wirblig macht, allen voran den Autor.

Dieser Wundergabe einer unversieglichen Einbildungs- und Schöpferkraft gesellte sich in Balzac, wie Sainte-Beuve einschränkend und zutreffend bemerkt, nicht die andere, wichtigere Eigenschaft, Herr seiner Mittel zu bleiben, als Künstler über das Wachstum seines Werkes zu wachen. Er wurde oft die Beute seiner Schaffenswut, ein Wagenlenker, der sein wild gewordenes Viergespann nicht mehr meistern kann. Er selbst verlangte vom Künstler, daß er sich in sein Werk stürze, wie Curtius in den Abgrund, ein Gebot, dessen Befolgung nicht ohne Gefahr ist. Immerhin wohnte ihm die Kraft inne, sich nach keinem Sieg zu »verliegen«. Seine Anstrengungen wuchsen mit seinen Erfolgen, und Sainte-Beuve anerkannte – wie nach ihm Maupassant – just einen der spätesten Romane Balzacs »Cousine Bette« für ein Maximum seiner Kunst. Trotzdem hätte dem Erzähler, wenn er einen strengen Zuchtmeister vertragen hätte, dessen Rat und Tadel nutzen können. Drei Dinge kommen bei einem Roman in Betracht: Charaktere, Handlung, Stil. Seine Charakteristiken findet Sainte-Beuve fast durchweg unübertrefflich; schwächer ist er in der Beherrschung der Handlung; sein Stil, der jeder Tradition widerstrebt, hat häufig glückliche Neuerungen, kühne Treffer; sein unablässiges Ringen mit den gesetzten und gedruckten Texten ist Sainte-Beuve ein Beweis innerer Unsicherheit, des Vorteils, den ihm etwas Mäßigung und Nüchternheit hätten gewähren können. Allein, da der Tod auch solchen Kritikerwünschen ein Ziel gesetzt hat, nimmt Sainte-Beuve Balzacs vielgestaltiges, ergiebiges Vermächtnis in gerechter Schätzung seines Wertes als Ganzes hin, wie es ist. Dem Schöpfer von Eugénie Grandet verheißt der strenge Kenner der ganzen französischen Literatur dauerndes Fortleben; der Vater, fast möchte man sagen, der Liebhaber von Madame Beauséant wird an Boudoirtischchen sein Vorzugsplätzchen finden; wer kecke Laune liebt, wird Gaudissart und seine Sippe nicht missen mögen; so ist für jedermann bei Balzac Genuß und Anregung zu holen. Besonderen Lobes voll ist Sainte-Beuve für den Moralisten, der im Baron Hulot der Cousine Bette die stufenweise Entartung durch zügellose greisenhafte Sinnlichkeit unerbittlich vor Augen führt. Sainte-Beuves Urteil ist in diesem Punkte ausnehmend sachkundig; sein Roman »Amaury« (den erst sein Verleger in »Volupté« umtaufte) ist vielfach ein Selbstbekenntnis des jungen Sainte-Beuve, und die erotischen Anwandlungen des alternden Senators für das Ewig-Liederliche haben seine Gönnerin Prinzessin Mathilde und sein Freundes- und Feindeskreis nicht erst durch die Aufschlüsse eines seiner Sekretäre erfahren. Balzac und seine Romane verleugnen ihre Herkunft nicht. Sainte-Beuve nennt die Bücher dieser ganzen Generation mehr oder minder Kinder einer Literatur der Sinnlichkeit: die einen, Kinder Renés von Chateaubriand, haben ihre Sinnlichkeit versteckt, gleichsam umwölkt unter dem Mystizismus; andere haben sie offen einbekannt, wie Balzac, der oft und gerade in seinen größten, wahrsten Schilderungen menschlicher Verderbtheit die Sehnsucht nach reineren Lüften, nach den edleren Empfindungen in Walter Scotts Romanen, nach einem Gesang Miltons erweckt.

Ein Endurteil über das Lebenswerk Balzacs lade zum Vergleich mit den Leistungen seiner bedeutendsten engeren Berufsgenossen. Mérimée denke nicht günstiger über die menschliche Natur als Balzac: er sei nur zurückhaltender in der Form, maß- und geschmackvoller im Ton; er habe nur zu wenig von der Verve, von der Balzac zu viel habe. Der Mann von Welt habe den Künstler in Schach gehalten. George Sand sei als Stilistin Balzac überlegen; eine große Malerin von Natur und Landschaft; als Erzählerin fasse sie ihre Charaktere zu Beginn ihrer Geschichten meist gut, im Verlauf ihrer Romane werden sie aber im Bann der Schule Rousseaus unlebendig, typisch, schematisch. Eugène Sue kommt Balzac an Erfindung, Fruchtbarkeit, Aufbau vielleicht gleich; auch er hat lebendige Charaktere; er versteht sich auf bewegte Handlung und weiß das dramatische Räderwerk sehr gut spielen zu lassen. In den Einzelzügen ist er aber schwach, weit weniger neu und originell in der Beobachtung als Balzac; zudem folgt er nicht den Instinkten der eigenen Natur; er gibt sich zum Sprachrohr der Modesysteme anderer her: ein Unrecht, das Balzac sich niemals zuschulden kommen ließ. Alexander Dumas hat leichten Fluß der Mitteilung, munteren Dialog; er bemalt endlose Leinwandflächen, ohne jemals sich oder seine Leser zu ermüden; er unterhält, aber er packt und bewältigt seinen Vorwurf nicht so mächtig wie Balzac. Um der Wucht der Darstellung und der Vertiefung seiner Charaktere willen scheint ihm Sainte-Beuve den Vorrang vor allen anderen Erzählern seiner Zeit einzuräumen.

Eine erschöpfende Studie über Balzac würde nach Sainte-Beuves Eingangsworten ein ganzes Werk erfordern, und der Augenblick sei dafür noch nicht gekommen: angesichts eines kaum geschlossenen Grabes sei die Zeit nicht reif für solche moralische Autopsien. Sie war auch ein halbes Jahrhundert später nach dem Aussprach des unermüdlichen Balzac-Forschers Spoelberch de Lovenjoul nicht da, weil die Nächststehenden, selbst wenn sie wie seine Schwester, George Sand und Théophile Gautier der Mit- und Nachwelt wesentliche, wertvolle Beiträge zur Kenntnis und Erkenntnis seines Wesens und Wirkens gönnten, entscheidende Tatsachen mit Schweigen übergingen. Schuld an dem Dunkel, das über Balzacs Dasein lag, trug der Meister selbst, der über seine selbsterlebten Romane nicht nur nichts in die Öffentlichkeit dringen lassen wollte, sondern die Mitlebenden vielfach, zumal durch die Fabeln von seiner mönchischen Enthaltsamkeit, über sein reichbewegtes Liebesleben geflissentlich irreführte. Ebensowenig Lust verspürte er, außer in der Verschleierung frei umgestalteter Romane, seine Kämpfe und Enttäuschungen, seine trüben Familienschicksale, seine häßlichen Erfahrungen mit verräterischen Kameraden, perfiden Gegnern in der Gelehrtenrepublik und Publizistik, die Pein seiner Händel mit Verlegern, Wucherern, Häschern, die Abenteuer seiner Reisen, die Martyrien seiner Werkstatt zur Sprache zu bringen. Böse Nachreden seiner rachsüchtigen journalistischen Feinde, bewußte und unbewußte Fälschungen, wie sie beispielsweise die Erinnerungen seines Verlegers Werdet in Umlauf brachten, die possenhaften Zerrbilder, zu denen manche seiner unleugbaren Narrenstreiche nicht allein Klatschblättern, sondern alten Kameraden Léon Gozlan, Alphonse Karr, Gavarni gierig aufgegriffenen Stoff gaben, ließen ihn der Nachwelt mitunter als komische Person, gelegentlich selbst als Charlatan, als Doppelgänger seines Mercadet erscheinen.

Zu rechter Zeit konnten diese Märchen und Verkennungen durch Balzacs Worte und Zeugnisse widerlegt werden. Die Sammlung seiner Briefe, die jahraus, jahrein dank der Kollektion Lovenjoul, Balzac in allen Stufenjahren, im Verkehr mit seiner Familie, seinen Freunden, seinen Herzensköniginnen, seinen Widersachern und Neidern zeigen, lassen uns den Menschen immer lieber gewinnen, seinen Charakter nicht minder hochschätzen als seine Künstlerschaft. Niemand wird ihn, der leichtgläubig und töricht sich im Alltagsleben wieder und wieder täuschte und täuschen ließ, den weisen Balzac nennen: je genauer man ihn aber kennenlernt – und er selbst hat gesagt, daß, wer immer ihn kennenlernen will, dazu lange Zeit brauchen wird (»pour me connaître il faut me pratiquer et longtemps«) –, desto williger wird man ihn nicht allein den großen, sondern auch den guten Balzac nennen. Züchtigte er auch in seinen Schriften die Zwiespältigkeit und Verworfenheit seiner Zeit und Umgebung wie wenige andere, ein Menschenverächter, ein Menschenhasser wurde er nicht. Im Innersten blieb er kindlich, wohlmeinend, eine gütige, anteilsfähige und anteilsbedürftige Natur, die sich in den Widmungsblättern der »Comédie humaine« nicht genugtun kann in Gegengaben für jedes Zeichen der Liebe und Freundschaft.

Wer immer seinem Herzen nahegekommen, wer immer ihn gastlich aufgenommen, wer immer ihm menschlich, geistig, künstlerisch wohlgetan, sollte in der »Comédie humaine« seine Votivtafel, seine Nische, sein großes oder kleines Erinnerungsmal bekommen. Zweck und Ziel dieser mannigfaltigen Dedikationen hat er wiederholt, zumal in der an die Gräfin Serafina San Severino geborenen Porcia gerichteten Widmungsepistel seiner aus dem Jahr 1836 stammenden »Employés« zur Sprache gebracht: »Verpflichtet alles zu lesen, in dem Bestreben, nichts zu wiederholen, durchblätterte ich jüngst die Geschichten des Bandello, eines in Frankreich wenig bekannten Schriftstellers des 16. Jahrhunderts. Ihr Name wie derjenige Ihres Gemahls fiel mir darin so lebhaft in die Augen, als ob ich Sie selbst von Angesicht erblickt hätte. Zum erstenmal las ich den ganzen Bandello im Urtext und fand nicht ohne Überraschung jede Erzählung, auch wenn sie nur fünf Blätter umfaßte, mit einem vertraulichen Brief Königen, Königinnen und den berühmtesten Zeitgenossen, darunter die Edelsten von Mailand, Piemont, der Heimat Bandellos, Florenz und Genua zugeeignet: die Dolcini von Mantua, die Visconti von Mailand, die Dante d'Alighieri (es gab deren noch), die Königin Margaretha von Frankreich, den Kaiser von Deutschland, den König von Böhmen, die Cadore von Spanien, in Frankreich die Gräfin Laroche Foucauld, den Bischof von Cahors, kurz die ganze große Gesellschaft der Zeit, glücklich und geschmeichelt durch die Freundschaft von Boccaccios Nachfolger. Ich sah auch, welcher Adel dem Charakter Bandellos eigen war. Wenn er sein Werk mit so erlauchten Namen schmückte, gab er darum nicht seine nächsten Freunde preis. Nach der Gräfin von Bergamo kommt der Arzt, dem er seine Geschichte Romeo und Julia zueignet; dem Herzog von Orleans folgt ein Prediger. Ich dachte, daß ich gleich dem Bandello eine meiner Geschichten unter den Schutz einer virtuosa, gentilissima, illustrissima contessa San Severino stellen und einige Wahrheiten beifügen könnte, die man als Schmeicheleien ansehen wird. Weshalb nicht gestehen, wie stolz ich bin, hier und anderwärts zu bezeugen, daß heutzutage wie im 16. Jahrhundert die Schriftsteller, welchen Rang immer die Mode ihnen für einen Augenblick anweist, über Verleumdungen, Beleidigungen, bittere Kritiken getröstet werden durch schöne edle Freundschaften.«

Bandellos Zueignungsbriefe waren nicht das Urbild von Balzacs Widmungen, die sich ebenso unabhängig von den Mustern französischer Größen behaupten; sie halten sich nicht an die Art Molières, der, meist mit abwehrenden Ausfällen gegen modische Widmungen zeitgenössischer Autoren die eine und die andere seiner Komödien Ludwig XIV., dem großen Condé, der Königinmutter mit Wendungen zueignete, die bei aller durch den Hofton gebotenen äußerlichen Unterwürfigkeit den Mannesstolz des innerlich freien, seiner Sendung bewußten Künstlers nicht verleugnen. Und sie unterscheiden sich ebenso von Voltaires Staatsbriefen, die er der Henriade und seinen Theaterstücken voranschickte und unter der Adresse der Königin von England, Friedrichs des Großen oder des Papstes usw. mutwillig oder ernst an die ganze Leserwelt zur Rechtfertigung oder Verschleierung seiner Absichten richtete. Balzacs Widmungen tragen ein anderes Gepräge; sie gleichen Medaillen, deren Vorderseite den Empfänger, deren Rückseite den Stifter individualisiert, und erinnern an den Einfall Tiecks, jeden Band einer Ausgabe seiner Werke einem Freunde zu widmen mit Worten, aus denen nach Ricarda Huch seine Zärtlichkeit spricht: »des Freundes Eigenart ehren, sich von jedem besonders ergänzen lassen, war die Grundlage seiner Freundschaftskunst«, ein Zug, der auch durch Paul Heyses Widmungen geht.

Bisweilen begnügt sich Balzac damit, auf seine Widmungsblätter nur die Namen der Bedachten zu setzen. Für seinen »Landarzt«, diese Tugendschule, waren die drei Worte »A ma mère« beredt genug. Nicht minder erschöpfend sind die sechs Worte »Et nunc et semper dilectae dicatum« – »Der jetzt und immerdar geliebten« –, mit denen Balzac den die eigene leidensschwere Jugend vor Augen stellenden »Louis Lambert« in Madame de Bernys Hände legte. Eva Hanska hatte er schon in Genf »Seraphita« verheißen und 1835 den handschriftlichen Entwurf seines in der Buchausgabe noch schwülstigeren Widmungsbriefes vorgelegt: »Hier ist das Werk, das Sie von mir verlangt haben. Ich eigne es Ihnen zu, glücklich, Ihnen also die stete, achtungsvolle Zuneigung bezeugen zu können, die Sie mir verstatten, Ihnen entgegenzubringen« (man merkt es diesen steifen Eingangsworten an, daß sie Evas Gatten vor Augen kommen sollte). »Lesen Sie das Werk wie die schlechte Übersetzung eines seit meiner Kindheit in meinen Träumen erklungenen Hymnus, dessen prophetische Poesie unmöglich in menschlichen Worten wiederzugeben war. Wenn ich auf die Gefahr, der Unzulänglichkeit geziehen zu werden, ein heiliges Buch in Angriff nahm, das in der Durchsichtigkeit unserer schönen Sprache das Licht des Orientes erstrahlen lassen wollte, waren nicht Sie es, die mich zu diesem Kampf bestimmten, indem Sie mir sagten, daß selbst die unvollkommenste Zeichnung dieser Gestalt etwas wäre, was Ihnen gefallen würde? Hier also ist dieses Etwas. Ich hätte gewünscht, daß dieses Werk nur von Geistern gelesen würde, die wie Sie vor den Kleinlichkeiten dieser Welt durch die Einsamkeit behütet sind; für Ihresgleichen wird es vielleicht ein Schemel oder der rauhe unscheinbare Steinflies sein, auf dem man niederkniet, um im Tempel zu beten.« Nicht weniger verstiegen ist die andere, an Eva gerichtete, XI mitgeteilte Widmung des aus einer von ihr versuchten Novelle erwachsenen Romans »Modeste Mignon«. Wie ganz anders bewegen uns die wenigen Zeilen, mit denen er »Maria« Eugénie Grandet zueignete: »Möge ihr Name, deren Bild der schönste Schmuck dieses Werkes ist, wie ein beständig grünender, von frommer Hand gepflegter, vom Glauben geweihter Palmenzweig sein, der das Haus beschirmen soll.« Noch manchen anderen, von Balzac geliebten Frauen sind Bände der »Comédie humaine« gewidmet: der Marquise von Castries eignete er »l'illustre Gaudissart« zu, da er die Novelle »La duchesse de Langeais« ihr wohl vorlesen, nicht aber öffentlich zuschreiben konnte: die Geschichte der gewissenlos mit den reinsten Empfindungen ganzer Männer spielenden Vollblutaristokratin hätte pamphletartig gewirkt. »Beatrix« eignete er einer bloß »Sarah« genannten Dame zu, deren »fromme Bescheidenheit die Sonne der Öffentlichkeit verletzen würde« und die er einer unter dem Meeresspiegel in buntem Farbenspiel ihr samtenes Gewebe ausbreitenden Wunderblume vergleicht, »die welkt und verbleicht, sobald man sie aus der Flut an das Gestade zieht.« Es steht außer Zweifel, daß »Sarah« die Gräfin Guidoboni Visconti, eine geborene Engländerin Francis-Sarah Lovell war, von der oben S. 206 eingehend die Rede war und die er genial als Calystes Mutter in »Beatrix« porträtierte. Nicht so ängstlich war Gräfin Bolognini-Vimercati auf ihre Anonymität bedacht, der »Une fille d'Eve« zugeeignet ist; die Dedikation dankt für schöne, durch anregende Geselligkeit gewürzte Stunden im Mailänder Stucksalon und dem Garten im Vicolo des Capucins: seine Widmung soll Zeugnis geben, daß er, wenn andere Franzosen der Leichtfertigkeit beschuldigt werden, Italiener sei an Beständigkeit und treuem Gedenken.

Gleiche Gesinnungen betätigt er wie den Fernsten, den Allernächsten. Seiner Schwester, die nachmals seine Biographin werden sollte, Laure de Surville, schrieb er »Un début dans la vie« mit der Erklärung zu: »Möge der glänzende und bescheidene Geist, der mir den Vorwurf zu dieser Szene gab, die gebührende Ehre haben«; derselben »Almae sorori« widmete er die Dantes Pariser Aufenthalt verklärende Geschichte »Les proscrits«; von den Kindern seiner Schwester stiftete er Valentine Surville: »La paix du ménage« und Sophie Surville: »Ursule Mirouët«, jeder mit ihrem Alter und Wesen angepaßten Wendungen. Der Tochter der Etangère, Anna v. Hanska, weihte er »Pierrette«: »Teures Kind, die die Freude eines ganzen Hauses, deren weiße und rosenfarbene Mäntelchen in Wierzchownia herumflattern wie ein Irrlicht, das Ihr Vater und Ihre Mutter mit gerührtem Blick verfolgen, wie soll ich Ihnen eine Geschichte voll Schwermut widmen? Soll man Ihnen nicht von Heimsuchungen sprechen, die ein Mädchen, das angebetet wird wie Sie, nie kennenlernen wird?« Die Prophezeiung traf nicht zu; wiewohl Anna in der Ehe mit dem Grafen Mniszek glücklich hätte werden können, lebte sie so verschwenderisch, daß nach dem Tod ihrer Mutter die Gläubiger sie aus dem Haus Beaujon vertrieben: bei diesem Anlaß wurden Balzacs Papiere, die schon Eva hatte verwahrlosen lassen, vollends verzettelt, buchstäblich auf die Straße geworfen und von den Krämern des Viertels vielfach zu Tüten verwendet – aus ihren Händen rettete nur der Sammeleifer des Vicomte Spoelberch de Lovenjoul vereinzelte Blätter und Bruchstücke.

Gastfreundschaft wohlgesinnter Wirte in Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich, Rußland vergalt Balzac am liebsten mit Erntegaben, die auf ihrem Grund und Boden gewachsen waren: dem Schloßherrn von Fougères, bei dem er an den »Chouans« gearbeitet hatte, General Pommereul, sandte er »Melmoth reconcilié«; dem Besitzer von Saché, Margonne, bei dem er manches Meisterbuch begonnen und fertiggebracht hatte, widmete er »Une ténébreuse affaire«; der getreuen Jugend- und Lebensfreundin Zulma Carraud, wie schon im VII. Abschnitt berichtet, La maison Nucingen mit einem denkwürdigen Begleitschreiben.

Seinen Bruder Henri bedenkt er nicht allein mit dem »Ball von Sceaux«; da Henri durch traurige Schicksale heillos herabkommt, verschafft ihm der Dichter ein Ämtchen in einer Kolonie und dediziert dem Gouverneur der Isle de Bourbon, Konteradmiral Bazoche »L'interdiction« »als dankbarer Autor«. Seinem Schwager Surville, einem bedeutenden Ingenieur, widmet er die tragikomische Meisternovelle »La vieille fille«. Seinem Schulkameraden Barchou de Penhoën übersendet er »Gobseck« mit der Epistel: »Unter allen Zöglingen von Vendome sind, wie ich glaube, wir die einzigen, die uns auf der literarischen Laufbahn begegneten; wir, die wir Philosophie schon in einem Alter trieben, in dem wir uns nur »de viris« bekümmern sollten. Hier ist das Buch, das ich schuf, als wir uns wiedersahen und du an deinen schönen Werken über die deutsche Philosophie, zumal über Fichte, gearbeitet hast. So hat weder der eine noch der andere von uns seinen Beruf verfehlt.« Dem Pariser Quincaillier Dablin, der ihm in Jugendtagen bitterster Not beigestanden, schreibt er die »Chouans« zu, das Werk, das ihm zuerst Erfolg brachte, mit der lapidaren Ansprache: »Dem ersten Freund das erste Buch«; dem Sohn der Dilecta, Alexander v. Berny, der die unter Balzac zugrunde gegangene Schriftgießerei übernahm und zu großem Ansehen brachte, »in alter Freundschaft« Madame Firmiani. »Die Lilie im Tale« bringt er als Dankopfer seinem Arzt Nacquard dar: »Teurer Doktor! Hier einer der am sorgsamsten behauenen Grundsteine meines mühselig aufgerichteten literarischen Baues; ich will Ihren Namen hineingraben, ebensosehr um dem Gelehrten zu danken, der mich einst gerettet hat, als um den Freund all meiner Lebenstage zu feiern.« Dem Notar Guyonnet Merville dedizierte er, schwerlich in beabsichtigter Anzüglichkeit an die in seiner Kanzlei betriebene Praxis: »Une épisode sous la terreur« – »eine Episode unter der Schreckenszeit« – mit der munteren Erklärung: »Muß ich nicht, mein lieber Patron, den Leuten, die alles wissen wollen, Aufschluß darüber geben, wo ich mir Juristerei genug aneignen konnte, um die Rechtshändel meiner kleinen Welt zu führen und das Andenken des liebenswürdigen geistvollen Mannes festzuhalten, der seinem anderen dilettierenden Konzipienten – Eugène Scribe –, den er auf einem Ball traf, zurief: ›Sehen Sie sich doch in meiner Kanzlei um, ich versichere Ihnen, es gibt dort Arbeit genug‹, man darf beifügen – auch für Lustspieldichter und Romanciers von Balzacs und Dickens' satirischer Ergründung des Reiches der Schikane, der Pfiffe und Schliche schlauer Anwälte, geriebener Erbschleicher, der Schäden und Schwächen aller Gerichtsbarkeit.

In andere Sphären führen Balzacs Beziehungen zu künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Größen. Den »Mémoires de deux jeunes mariées« geht ein Sendschreiben an George Sand voran: »Dieses Buch kann den Glanz Ihres Namens nicht erhöhen, der seinen magischen Widerschein auf seine Blätter werfen wird. Dabei spielt meinerseits weder Berechnung noch Bescheidenheit mit. Ich will nur die wahre Freundschaft bezeugen, die unbeschadet aller Reisen und Entfernungen, trotz unserer Arbeiten und der Böswilligkeit der Welt zwischen uns fortbestanden hat. Dieses Gefühl wird sich zweifellos niemals unter uns ändern. Das Gefolge befreundeter Namen, das meine Schöpfungen begleitet, gesellt sich zu den Mühen, die mir ihre Zahl bereitet, als ein Vergnügen: sie entstehen nicht ohne Schmerzen, nicht zu reden von Vorwürfen, die mir wegen meiner bedrohlichen Fruchtbarkeit gemacht werden, als ob die Welt, die mir Modell steht, nicht noch fruchtbarer wäre. Wird es nicht schön sein, George, wenn eines Tages der Altertumsforscher zerstörter Literaturen in diesem Gefolge nur große Namen, edle Herzen, heilige, reine Freundschaften und die Ruhmestitel dieses Jahrhunderts wiederfindet? Kann ich mich nicht stolzer wissen durch dieses gewisse Glück als durch den immer anfechtbaren Erfolg? Ist es für denjenigen, der sie kennt, nicht ein Glück, sich, wie ich es tue, nennen zu können Ihren Freund de Balzac?« Wie warm über seinen Tod hinaus die Sand Balzacs Gefühle erwiderte, bezeugen ihre, beider Meister würdigen, Balzac geltenden Blätter in ihrer »Histoire de ma vie« und den Aufsätzen »Autour de la table«.

Nicht minder bedeutend ist die Zueignung der »Illusions perdues« an Victor Hugo: »Sie, der durch das Privilegium der Raphaël und der Pitt schon ein großer Dichter waren in einem Alter, in dem die Menschen noch so klein sind, Sie haben wie Chateaubriand, wie alle großen Talente gegen die Neidischen gekämpft, die sich hinter den Spalten der Zeitungen verschanzt oder in ihren unterirdischen Gängen versteckt haben. Ich würde auch wünschen, daß Ihr siegreicher Name mithelfe zum Sieg dieses Werkes, das ich Ihnen widme und das nach der Meinung mancher eine ebenso große Tat des Mutes als eine Geschichte voll Wahrhaftigkeit wäre. Hätten denn die Journalisten nicht wie die Marquis, die Geldmenschen, die Ärzte und Juristen Molière und seinem Theater zugehört? Warum sollte denn die »Comédie humaine«, die »castigat ridendo mores«, eine Macht ausschließen, wenn die Pariser Presse selbst nicht eine einzige aus ihrem Machtbereich freiläßt? Ich bin glücklich mich also nennen zu dürfen Ihren aufrichtigen Freund und Bewunderer de Balzac.« Victor Hugo hat die außerordentliche Gabe nicht nur durch seine Grabrede gleichwertig erwidert: er hat sich in seinen »Misérables« als Romancier unverkennbar an das Vorbild der »Comédie humaine« gehalten.

Ebenso treu wie George Sand und Hugo stand Charles Nodier zu Balzac, der ihm »La rabouilleuse« dedizierte; der Widmungsbrief, in dem er die von ihm überschätzten verderblichen Wirkungen der Minderung der väterlichen Gewalt befehdet und sein Bekenntnis zum Katholizismus, im Gegensatz zum unkirchlichen Schulwesen einseitig übertreibend, entwickelt, rechtfertigt die grausam unerbittlichen, lebenstreuen Porträts, die er von vorurteils- und zuchtlosen Landsknechten, von allerhand zu jeder Missetat bereiten, gemaßregelten Offizieren der Napoleonischen Armee, wie Philipp Bridau, entwirft: »Sie wagen im Privatleben so zu handeln wie auf dem Schlachtfeld.«

»In Bewunderung« schrieb er »Cäsar Birotteaus Glück und Ende« Alphonse de Lamartine zu, der Balzac in einer besonderen Schrift ein Totenopfer brachte. Madame de Girardin huldigte er mit Albert Savarus; der Herzogin von Abrantès galt die »Femme abandonnée«; der Dichterin Desbordes-Valmore stiftete er »als der Tochter Flanderns und einem seiner modernen Ruhmestitel« »Jésus Christ en Flandre«, der Fürstin Belgiojoso »Gaudissart II«. Jüngere Talente, die Balzac der Nachwelt biographisch, anekdotisch, kritisch näherbringen sollten, beschenkte er mit Kleinodien: Théophile Gautier mit den »Geheimnissen der Prinzessin von Cadignan«; seinen Parteigänger Charles de Bernard mit der Geschichte vom Kastraten Sarrasine; Léon Gozlan, der nach Balzacs Tod die mit Vorbehalt aufzunehmenden Humoresken »Balzac intime« und »Balzac en pantoufles« zum besten gab, fiel »als Beweis guter literarischer Kameradschaft« »Une autre étude de femme« zu. Ein besonders eingehendes Sendschreiben dankt mit der »Muse du département« dem Grafen Ferdinand Grammont dafür, daß er für jedes in der »Comédie humaine« eingeführte Adelsgeschlecht als kenntnis- und sinnreicher Heraldiker von Balzac genau wiedergegebene Ahnenreihen, Wappen, Wahlsprüche ersonnen und gezeichnet hat; der Dichter verleiht diesem Nothelfer den Titel des Hozier, eines Wappenkönigs der »Comédie humaine«.

Auch die Maler, Bildhauer, Musiker, Forscher von Balzacs Kreis, vielfach Weltnamen, haben ihren Ehrenplatz in der »Comédie humaine«. Rossini wurde der »Ehekontrakt«, Berlioz »Ferragus«, Franz Liszt »die Herzogin von Langeais«, Eugène Delacroix (dem Balzacs Suada im Verkehr wenig zusagte) »Das Mädchen mit den Goldaugen«, Achilles Deveria (dem Zeichner seines Jugendbildes) »Honorine«, dem Schöpfer seiner Kolossalbüste David d'Angers »Der Pfarrer von Tours«, dem Maler Boulanger (dem wir eines der besten, gegenwärtig im Museum von Balzacs Vaterstadt aufbewahrten Bildnisse des Dichters zu danken haben) »Die Frau von dreißig Jahren« zugeeignet. »Dem großen und erlauchten« Geoffroy Saint-Hilaire huldigte er »als Denkzeichen für sein Genie und seine Forschungen« mit einem seiner berühmtesten Bücher, dem »Père Goriot«.

Die Deutschenfreundlichkeit Balzacs äußert sich auch in den Widmungen der »Comédie humaine«. Dem »Lanzknecht«, Fürst Fritz Schwarzenberg, ist »Adieu« zugeeignet; dem Orientalisten Hammer-Purgstall »Le cabinet des antiques«: »Teurer Baron,« heißt es in der Dedikation, »Sie haben sich so warm für meine lange, weitläufige Geschichte der französischen Sitten im 19. Jahrhundert interessiert, Sie haben meinem Werk solche Ermutigung angedeihen lassen, daß Sie mir das Recht gegeben haben, Ihren Namen einem der Fragmente, die einen Teil davon ausmachen, mit auf den Weg zu geben. Sind Sie nicht einer der ernstesten Vertreter des gewissenhaften, forschungsbeflissenen Deutschland? Sollte Ihre Billigung nicht Richtschnur für andere sein? Ich bin so stolz, sie erlangt zu haben, daß ich mich bemühte, sie zu verdienen, indem ich meine Arbeiten mit jener Unerschrockenheit fortsetzte, die Ihre Studien kennzeichnet und ohne welche die literarische Welt das von Ihnen aufgerichtete Monument: ›Die Geschichte des osmanischen Reiches‹ nicht besäße. Ihre Sympathien für die Arbeiten, die Sie gekannt und den Interessen der orientalischen Gesellschaft zugewendet haben, hat oft die Glut meiner Nachtwachen genährt, die von den Einzelheiten unserer modernen Gesellschaft in Anspruch genommen war. Wären Sie nicht glücklich, das zu wissen, Sie, dessen unbefangene Güte sich derjenigen unseres La Fontaine vergleichen läßt? Ich wünsche, daß dieses Zeichen meiner Verehrung Sie und Ihr Werk in Döbling (bei Wien) trifft und Sie und die Ihrigen alle an einen Ihrer aufrichtigsten Freunde und Verehrer erinnert.«

Der Stiftsdame Louise Thürheim hat er »Une double famille« zugedacht. Dem deutschen Musikus Strunz dedizierte er zum Dank für seine fachmännische Hilfe »Massimilla Doni«. Zwei in Paris eingewurzelte Deutsche traf er eines Tages rasch nacheinander auf dem Boulevard, Heine und Rothschild, der eine »der ganze Geist«, der andere »das ganze Geld der Juden«. James Rothschild widmete er – eine spaßhafte Anspielung? – »Un homme d'affaires«, der Baronin, die ihn oft zu Gaste bat, »Das verfluchte Kind«. Heine, der Balzac immer gern sah und mit der Schwester Lassalles einmal zum Essen in sein Haus lud, eignete er »Un prince de la Bohême« zu: »Mein lieber Heine! Ihnen diese Studie, Ihnen, der in Paris den Geist und die Poesie Deutschlands verkörpert, wie Sie in Deutschland die lebendige, geistvolle französische Kritik verkörpern, Ihnen, der besser als irgendwer wissen kann, wieviel an Kritik, Liebe, Spaß, Wahrheit sie enthält.« Dem österreichischen Botschafter, dem Madjaren Apponyi, hat Balzac gleichfalls Dank zollen wollen.

»Les parents pauvres« widmete Balzac dem Verwandten Evas Don Michele Angelo Caetani nicht als römischem Fürsten und Abkömmling eines Geschlechtes, das der Christenheit Päpste gegeben, sondern als Kommentator Dantes, dessen Gelehrsamkeit es mit drei Schlegeln aufnehmen könnte und Balzac erst die ihm bis dahin unendlich rätselvoll erscheinende Divina commedia erschloß. Deshalb füge er seinen Namen dem der in der »Comédie humaine« durch Episteln bedachten Porcia, San Severino, Belgiojoso an, die schon Bandello der Bischof gleicherweise geweiht durch Novellen, die Shakespeare stofflich mehrfach, oft bis auf einzelne Reden, in seine Stücke herübergenommen hätte. Bevor Balzac also Buch um Buch bestimmten Persönlichkeiten zuschrieb, hatte der Anfänger die »Physiologie du mariage« der unbekannten Menge zugewendet: »Achten Sie auf diese Worte: der überlegene Mensch, dem dies Werk zugeeignet ist, besagt das nicht: – Ihnen?« Und 1830 wählt er im Vorwort zum »Elixier des langen Lebens« absichtlich die herkömmliche Anrede »an den Leser«. Die Lektüre bringe uns unbekannte Freunde. Der Autor hofft darum, seine Schuld bezahlt zu haben, indem er dies Buch »Diis ignotis« zueignet.

In den 20 Jahren, die seit Balzacs ersten Siegen die Fülle seiner Schöpfungen der unersättlichen Lesewelt beschied, wuchs die Menge dieser unbekannten Freunde nicht bloß, soweit die französische Zunge klingt, in aller Herren Ländern, wohin immer die Mode- und Feuilleton-Romane der Pariser Presse in guten und minder guten Übertragungen drangen. In breiten Schichten des In- und Auslandes genoß er Weltruhm. »Ganz Europa war für ihn«, nach Sainte-Beuves Wort, »wie ein Park, in dem er auf jedem seiner Gänge Freunde, Bewunderer, eifrige, üppige Gastlichkeit genoß. Dies kleine Blümchen, das er Ihnen kaum getrocknet zeigte, hatte er kürzlich in der Villa Diodati gepflückt; ein Bild, das er Ihnen beschrieb, hatte er gestern im Palast eines römischen Fürsten gesehen. Von einer Hauptstadt zur andern, von einer Villa in Rom oder der Isola bella zu einem Schloß in Böhmen oder Polen war für ihn nur ein Schritt. Ein Zauberschlag versetzte ihn dahin, und man kann nicht einmal sagen, daß das für ihn ein Traum war: denn was lange nur Phantasie eines Dichters war, hat die Hingebung einer Frau für ihn«, so glaubte Sainte-Beuve von Eva, »glücklich verwirklicht.« Ein Sinnbild dieser nach allen Himmelsrichtungen, in alle Schichten verzweigten Beziehungen sind seine Widmungen. Blatt um Blatt flicht sich zu einem unverwelklichen Kranze zusammen. Der Stifter und die Empfänger der Dedikationen kommen miteinander auf die Nachwelt, wie, um den größten Weltroman zu nennen, mit den beiden Teilen des Don Quixote der Herzog von Bejar und der Graf von Lemos, dank Cervantes' Widmungsbriefen, durch alle Zeiten und Zonen fortdauern.

So weit und tief Balzac auf die Mitwelt wirkte, stärker und tiefer noch wirkte und wirkt er bis zur Stunde auf die Nachwelt. Sieht man von dem exotischen Roman ab, dem Bernardin de Saint-Pierre, Chateaubriand, Pierre Loti die Wege in die Tropen, nach Amerika und Ostasien wiesen, dann ist es nicht zu viel gesagt, Balzac den Stammvater der Sittenschilderungen im neueren französischen Roman und Drama zu nennen. An diese Zukunft hat der ganz in der Gegenwart wurzelnde Meister selbst schwerlich gedacht. War er doch, als er das erste Dutzend Bände seiner Sittenstudien in geschlossener Reihe vor sich sah, so überrascht, daß er sich nach seinem wunderlichen Gleichnis vorkam wie der Arbeiter an einem Gobelin, der auf fremdes Geheiß die Fäden ineinanderschlingt und erst hinterdrein, unversehens vor das fertige Gewebe tretend, gewahr wird, zu welchem Gemälde er mitgeholfen. Er war auch bis in seine letzten Zeiten, auf der Höhe seines Könnens, häufig ganz unsicher, was an Werken war, die er in drangvoller Geldnot, im Rausch des Schaffens Blatt um Blatt in die Druckerei schicken mußte. »Ich ahnte nicht, was Cousine Bette wäre«, schreibt er Eva während des Erscheinens des noch gar nicht zu Ende geschriebenen Romans im Feuilleton des Constitutionnel, erstaunt und gehoben durch den Widerhall, den ein paar Prachtkapitel, wie »Le bilan de Madame Marneffe« bei Kennern, wie Delphine Girardin, und im großen Lesepublikum weckten. Es mindert seine Bedeutung als Denker nicht, wenn man zugibt, daß er als Künstler sein Eigenstes instinktiv gefunden, als Werkmeister der »Comédie humaine« seine kühnsten, folgenreichsten Eingebungen durch plötzliche Erleuchtung empfangen hat. Das launige Wort Renans, der, nach dem Tod Victor Hugos um sein Urteil befragt, sagte, der Ewige hätte diesen Dichter durch ein besonderes Dekret zu seiner Sendung berufen, eine Form der Ernennung, die der Kritik nahelegt, ein Ausnahmewesen gelten zu lassen, wie es ist, könnte mit gleichem Recht auf Balzac gemünzt worden sein. Er hat so unendlich Vieles unübertrefflich gut gemacht, daß es unbillig wäre, mit dem ins Gericht zu gehen, was er unübertrefflich schlecht gemacht. Unarten des Geistes, Geschmacksverirrungen, fratzenhafte Verzerrungen von Dingen und Menschen, die in der »Comédie humaine« so wenig fehlen, wie in tausend anderen zeitgenössischen französischen Sensationsromanen, die nach Grillparzers Zornwort von Schurken für Narren geschrieben scheinen, macht Balzac wett durch die Fülle genial geschauter Gestalten, Gegenden, Behausungen, die er in einer angeborenen, überlegen gepflegten, in der Schule Walter Scotts erwachsenen, allgemach zu völliger Selbständigkeit gediehenen neuen Kunstübung als Lebens- und Totenbeschwörer, der seinesgleichen sucht, mit Goethe zu reden, Wirklichkeiten werden läßt. Für die drei Zeiträume, die die »Comédie humaine« umspannt, das erste Kaiserreich, die Restauration, das Bürgerkönigtum, ist es ihm gelungen, nach seinem Gebot, »mit dem Standesamt den Wettstreit zu bestehen«: Hulot, Goriot, Rastignac, Marneffe, Grandet, Gobseck, Helden- und Charakterspieler, Episodisten und Liebhaberinnen, Abenteurer und Buhlerinnen, Hunderte von Hauptdarstellern und Nebenfiguren der 2-3000 von Balzac auf die Bühne gebrachten Persönlichkeiten seiner Weltkomödie prägen sich dem Gedächtnis dauerhafter ein, als Millionen im Kirchenbuch verzeichneter Menschen, die leibhaftig auf den Pariser Boulevards und in den Provinzen von Frankreich umhergewandelt sind.

Dem Unerschöpflichen genügte nichts von alledem, was er in der »Comédie humaine« fertiggebracht und weiter auszuführen gedacht hatte. Der durch die Februar-Revolution einer neuen Zeit gegenübergestellte Meister schickte sich an, auch diese jüngsten Wandlungen künstlerisch festzuhalten: Sainte-Beuve berichtet, daß Balzac mit Feuereifer im Gespräch von diesem Roman aus der Zeit der zweiten Republik und des aufsteigenden neuen Kaisertums so deutlich erzählte, daß er die Skizze nachzuzeichnen vermöchte. Der Kritiker hat es leider sich und uns versagt, diesen Plan mitzuteilen, der sich auch in dem von Frau Eva verwalteten, weder von Paul Lacroix (dem Bibliophilen Jacob) noch von Champfleury, Dutacq und andern auch nur oberflächlich, geschweige fachmännisch gesichteten Nachlaß nicht erhalten hat. Balzacs Witwe ließ nur die bei Lebzeiten Balzacs fragmentarisch erschienenen Romane »Les petits bourgeois« und »Le député d'Arcis« von Charles Rabou herzlich schlecht ergänzen und äußerlich abschließen. »Les paysans« brachte sie an der Hand weniger von Balzac zurückgelassener Kapitel notdürftig unter Dach.

Die Aufgabe, der neuen Zeit den Spiegel vorzuhalten, die noch der sterbende Balzac lösen wollte und nicht mehr lösen konnte, fiel dem nachwachsenden Geschlecht zu, dessen berufenste Wortführer den Spuren Balzacs folgten. Allen voran Victor Hugo in den zehn Bänden seiner » Misérables«: sein Buch sollte »der Weg vom Bösen zum Guten, von der Hölle zum Himmel, vom Nichts zu Gott sein. Ausgangspunkt die Materie; Endpunkt die Seele; am Eingang die Hydra, am Ausgang der Engel«. Dieses im Text noch bedeutend wortreichere Programm wird, von der viel zu weitwendigen Fabel abgesehen, in unaufhörlichen Predigten wiederholt. Fortschritt, Glorifikation der Französischen Revolution, Menschheitsverbrüderung, Verherrlichung Frankreichs als Führer der Menschheit kehren beständig wieder in Abwandlungen, die dadurch nicht überzeugender werden, daß sie durch vermeintlich kühne Paradoxien, Antithesen, rhetorische Prunk- und Prahlstücke verstärkt werden. Der Träger des Werkes, Jean Valjean, ist ein Bagnosträfling, der grundverschieden von Balzacs Vautrin, ein Ausbund der Selbstüberwindung, ein Märtyrer und Heiliger wird. Er vollbringt Wundertaten, die Herkulesleistungen in Schatten stellen, scheint wie durch Hexensalben oder Zaubersegen gefeit gegen Verwundungen. Seine Leibeskraft befähigt ihn, Lastwagen mit ihrem Vorspann zur Rettung eines sonst sicherem Tod verfallenen Krüppels aus dem Morast zu heben; von Raubmördern umstellt und gefesselt, löst er sich aus den Ketten durch Feilen, die er aus dem Bagno mitgebracht und in einem winzigen Ring geborgen hat; einen auf den Barrikaden zerschossenen, scheinbar leblosen Jüngling schleppt er unter unsäglichen Hemmungen durch die unterirdischen Kanäle der Weltstadt und entzieht ihn mit einem zufällig als Helfer eingreifenden Überbanditen auflauernden Spitzeln; unter falschem Namen wird er Schöpfer einer Glasindustrie, die ihn zum Krösus und zum Maire der durch seine Großmut wohlhäbig gewordenen Gemeinde macht; ein Geheimpolizist identifiziert ihn; die Anzeige wird jedoch zunichte, da ein Kretin als sein Doppelgänger vor Gericht gestellt wird; nach einem (von Sainte-Beuve mit Recht gerühmten) Seelenkampf (tempête sous un crâne) beugt Valjean einem Justizmord vor: auf die Gefahr, wiederum lebenslang auf die Galeere zu kommen, stellt er sich ungerufen und enthüllt durch sein selbst den Staatsanwalt erschütterndes Bekenntnis seine Vergangenheit. Bevor er abermals auf die Galeere geschickt wird, hat er Zeit und Kraft, sein Vermögen im Walde zu verstecken und für das Kind einer Verlorenen zu sorgen, deren er sich voll Mitleid über ihren unverschuldeten Jammer auf ihrem Sterbebette annimmt. Nachdem er zum zweitenmal das Bagno bezogen, entkommt er wiederum, indem er sich zur Rettung eines Matrosen mit höchster Lebensgefahr ins Meer stürzt und, scheinbar ertrunken, durch Tauchen sich verborgen hält. Entwischt, weiß er den Verfolgungen desselben Polizeispions Javert, der ihn schon als Maire gefährdete, durch die abenteuerlichsten Wagnisse zu begegnen und im Klosterfrieden eines vom Pariser Getümmel wie eine mittelalterliche Freistatt abgeschlossenen weltfernen Pensionates sich acht Jahre mit der von ihm ihren Quälern, habgierigen, hyänenartigen Zieheltern, entrissenen Tochter der Prostituierten vor jeder Entdeckung zu beschützen. Dieses abgöttisch verehrte Mädchen, Cosette, bringt fertig, was vorher keine Heimsuchung vermochte: sie hat, von Jean Valjean ungeahnte, schuldlose Zusammenkünfte in ihrem abgelegenen Hausgarten mit einem jungen, bildschönen Studenten; diese Neigung Cosettes bringt Valjean um seinen einzigen Lebenstrost; er stirbt herzkrank. Ein erbarmungsloses Schicksal hat ihn zu Tode gehetzt. In jungen Jahren hatte er für seine Bruderskinder aus bäuerlichem Geschlecht zu sorgen; als die Kleinen hungerten, stahl er aus einem versperrten Bäckerladen Brot; dieses selbst im Strafrecht durch Notstand entschuldbare Delikt führte ihn das erstemal auf die Galeere; die Verlängerung der fünfjährigen auf 19 Jahre Bagnostrafe war die Folge mehrfacher Fluchtversuche. Selbst nach seiner Freilassung erscheint er durch die seinem Zwangspaß beigefügte Warnung »höchst gefährlich« allem Hohn, leiblichen und moralischen Mißhandlungen preisgegeben. Zu Beginn der Misérables sehen wir Valjean allerorts wie einen Pestkranken ausgestoßen, bis ein ur- und überchristlicher Bischof ihm Gastfreundschaft gewährt: ein Akt der Barmherzigkeit, den Valjean mit dem Diebstahl bischöflichen Tafelsilbers erwidert. Von Häschern eingebracht, entlastet ihn der Bischof nicht bloß, er läßt ihm die gestohlenen Leuchter als Geschenk. Auch diese Hochherzigkeit dämpft nicht Valjeans Rachegefühle: nur aus Lust am Bösen raubt er einem armen Savoyardenknaben gewalttätig ein paar erbettelte Groschen. Der Frevel ist Valjeans letzte Untat. Sowie er zum Bewußtsein dieser in halbem Irrsinn begangenen Schändlichkeit kommt, bricht er in einen Tränenstrom aus: die Bekehrung des Sünders, an dem Welt und Schicksal mehr verbrochen, als er je verschuldet hat, bleibt nicht aus. Das Vorbild des Bischofs ist fortan sein Leitstern, reinste evangelische Gesinnung wird seine Richtschnur.

Diese Fabel, die den Stoff einer Traktätlein-Geschichte abgeben könnte, wird mit allen Reizmitteln des dazumal modischen Sensationsromans gewürzt. Die Out-laws in ihren Niederträchtigkeiten und Rebellenstimmungen; die Härten des Kriminalkodex; die Unmenschlichkeit des Strafvollzuges; die Mißhandlungen der in der »Galeerenkette« nach dem Bagno von Bütteln und Gendarmen mit Peitschen und Knüppeln wie Bestien zu Paaren getriebenen, mit Halseisen und Ketten beschwerten Züchtlinge; die Gewissenlosigkeit der Studenten, die ihre Grisetten lachend und unbekümmert um die Kinder, die sie gezeugt, im Stiche lassen: Unheil, das viele der Besten dieser Mädchen aus Fürsorge für ihre Kleinen zu schweren Geldopfern und zu gewerbsmäßiger Unzucht nötigt: diese und ähnliche Gesellschaftszustände der Zeit, in der die Misérables spielen (1815-1832), werden grell, theatralisch, auf dem nicht immer nach der Natur gemalten Hintergrund von Sues' Mysterien von Paris, um ein Wort Richard Wagners zu gebrauchen, in Effekten ohne Ursachen aufgezeigt: Räuber- und Schatzgräber-Geschichten werden von Arme-Leut-, Revolutions-, Kriegs-, Barrikaden-Szenen abgelöst. Die Tugendkolosse wie Valjean sind ebenso hohl wie die Lasterkolosse der Leichenschänder Thenardier und das Liebespaar Marius-Cosette. Die Revolutionäre an der Spitze sind vielfach Masken; die verschmähte, für ihren hoffnungslos Geliebten sich edelmütigst opfernde Tochter Eponine des Überschurken Thenardier schemenhaft, unmöglich. Und trotz all diesen Mängeln und Maßlosigkeiten versöhnt eine Persönlichkeit mit den »Misérables« – Das ist Victor Hugo selbst, der trotz aller Unarten seines Wesens, trotz aller Unnatur seiner Erfindungen und Leute die große Masse seiner Leser in den Bann seiner Heilsbotschaft zwingt, an die er selbst fest glaubt. Die Naivität, mit der Hugo der abgebrauchtesten Mittel des Sensationsromans sich bedient, entwaffnet um so mehr, als er die Größe seiner Künstlerschaft durch die Wucht der Sprache und manche wohlgeratene Zwischenspiele beglaubigt: seine Phantasien über den Pariser Gamin vom Schlage Gavroches, seine Charakteristiken der akademischen Jugend des lateinischen Viertels, seine aus persönlichem Verkehr geschöpfte Würdigung Louis Philipps, seine mächtige Schilderung der Schlacht von Waterloo sind Proben einer Meisterhand. Seine Wanderungen durch die Pariser Straßen ober und unter der Erde, seine Argot-Studien, seine lebenstreuen Bilder der Nonnen von Picpus behaupten dauernden Wert.

Selbst für solche Abschweifungen in den »Misérables« sind Analogien in der »Comédie humaine« vorhanden. Im Vergleich mit Balzac, der dieselben Zeiten und Urbilder vor Augen hat, besteht Victor Hugo nicht siegreich. Beide stehen unter dem Stern Napoleons. Beide sind Ankläger einer Gesellschaftsordnung, die nach der Revolution und dem Kaiserreich einen Abschluß gefunden zu haben glaubte, der weder dem Ancien régime noch den Forderungen der Revolution genügte. Beide denken grundverschieden über die kommenden Gestaltungen: Balzac als Autoritär, Hugo als Demokrat. Eins sind beide nur in der Ansicht, daß die Gemüter aus ihrem Sündenschlaf aufgerüttelt werden müssen. Daher ihre strafenden, mahnenden Sittenbilder; beide sind Künstler, beide wollen Propheten sein. Balzac predigt Rückkehr zum Katholizismus und Königtum, Victor Hugo verkündigt in den »Misérables« Heilslehren, die seinen alten Bewunderer Gustav Flaubert in der Vertraulichkeit brieflicher Bekenntnisse – öffentlich muß er 1862 unter dem zweiten Kaiserreich jeden Tadel den »Spitzeln« überlassen – zu stärkstem Widerspruch reizen. »Hugo hat Aufmerksamkeiten und Zuvorkommenheiten für alle Welt; Saint-Simonisten, Philippisten, selbst Gastwirtspolitiker werden glatt umschmeichelt.« »Das Buch ist für das katholiko-sozialistische Geschmeiß, für das philosophisch-evangelische Ungeziefer gemacht.« »Das ganze Buch ist, trotz schöner Stücke, die selten sind, kindisch. Beobachtung ist in der Literatur eine sekundäre Eigenschaft, es ist aber nicht erlaubt, die Gesellschaft so falsch zu malen, wenn man der Zeitgenosse von Balzac und Dickens ist.«

Flaubert nannte diese Namen nicht eitel. So weltweit sein Wissen und Schaffen auch in »Salambo« und der »Versuchung des heiligen Antonius« ausgriff, in seinem ersten und größten Meisterbuch, in dem in der Normandie spielenden Roman »Madame Bovary« ist er ein Jünger Balzacs. Schon der Untertitel »Mœurs de province« weist auf das Muster von Balzacs »Scènes de la vie de province«. Und die Fülle der Haupt- und Nebengestalten, von der genial in allen Stufenjahren ihres ganzen Lebensganges wie von einem Beichtiger oder Frauenarzt erforschten Frauenfigur, ihrem Gatten, ihren Liebhabern und dem Kreis ihrer kleinstädtischen und aristokratischen Beziehungen, bis zum plumpen, Seelenleid nicht ahnenden und fassenden Landpfarrer Bournisien, dem seichten, in seinen Gemeinplätzen auf Voltaire und Rousseau sich berufenden, in die Weltdichtung eingezogenen Apotheker Homais, die Landschafts- und Volksszenen, nicht zuletzt die gleichfalls in der Weltliteratur fortlebende Preisverteilung der Ackerbau-Gesellschaft, die letzte Ölung von Madame Bovary, die Vorbilder in Sainte-Beuves »Volupté« und in der »Lilie im Tal« hat – alles, der Vorwurf, die Charaktere, Aufstieg und Ablauf der Erzählung, erinnert an das Beispiel Balzacs, dem Flaubert, dazumal noch ein namenloser Musensohn, als den großen Romancier sein Weg nach Rouen führte, aus der Ferne auf seinen Gängen durch die Vaterstadt ehrfürchtig folgte und nach der Lektüre seiner Briefe »un immense bonhomme, mais de second ordre«, einen immensen Biedermann, nur (seines hitzigen Katholizismus halber) zweiten Ranges nannte. So gewiß Flaubert in der freien Schule Balzacs für »Madame Bovary« unendlich viel gelernt hat, ebenso gewiß unterscheidet sich Art und Kunst Flauberts schon in diesem Roman scharf von Balzacs Wesen und Schaffen. Im Gegensatz zum Werkmeister der »Comédie humaine«, der mit seiner Persönlichkeit gern und oft hervortritt, versagt sich Flaubert jede subjektive Einmischung: er folgt streng seiner Regel, daß der Künstler, wie der Gott Spinozas, in seinem Universum nirgends zu sehen, nur überall zu fühlen sein soll. Als Prosaiker kann sich Balzac mit Flaubert nicht messen: in der Hast seiner Überproduktion und mehr noch in der Ungeduld seiner Natur hätte sich Balzac auch nie die Muße gönnen können, wie Flaubert, Jahre seines Lebens an ein einziges Buch zu setzen und kein Blatt aus der Hand zu geben, das nicht Zeile für Zeile stilistisch vollkommen wäre. Im Größten wie im Kleinsten untadelig, hat Madame Bovary nicht ihresgleichen im Lebenswerk Balzacs.

Keinen geringeren Dank als Flaubert, schuldet und zollt Zola dem Schöpfer der »Comédie humaine«. »Sein Genie«, so sagt er zum Schluß seiner Balzac-Studie in den Romanciers naturalistes, »hat den Roman, wie er heut ist, begründet. Durch die prachtvollste, wenn auch von Dampf und Rauch umwölkteste aller Produktionen; er ist von Extrem zu Extrem, vom Glauben zur Wissenschaft, von der Romantik zum Naturalismus umhergeschwankt. Vielleicht würde er uns, wenn er uns lesen könnte, als seine Kinder verleugnen, denn man könnte im unglaublichen Tohuwabohu seiner Meinungen Waffen zu unserer Bekämpfung finden. Es genügt gleichwohl, daß er unser wirklicher Vater ist, daß er zuerst die entscheidende Wirkung der Umwelt auf den einzelnen bekräftigt, daß er in den Roman die Methoden der Beobachtung und des Experimentes eingeführt hat. Das hat ihn zum Genie des Jahrhunderts gemacht.« Was Balzac auf die 2-3000 Personen der »Comédie humaine« einschränkt, hat Zola auf die Millionen der Arbeitermassen in seinen beiden Hauptwerken »L'assommoir« und »Germinal« ausgedehnt: auch die Rougon-Macquart gehören zur Nachfolge Balzacs. Das gleiche gilt von den Romanen der Brüder Goncourt, von Alphonse Daudets Bildern aus dem Pariser Leben, von Maupassants Geschichten, obenan Bel-Ami.

Soweit diese Nachfolger Balzacs als Sittenschilderer ihrer Tage aber auch stofflich und vielfach auch künstlerisch über ihn hinauswuchsen, verdunkelt oder verdrängt hat keiner von ihnen die »Comédie humaine«. Einen Grund für diese Unverwelklichkeit seines Werkes sucht Theophile Gautier in der unbedingten Modernität seines Genies. Balzac schulde dem klassischen Altertum nichts; angesichts der Venus von Milo betrachtete er sie ohne besondere Verzückung: desto blitzender leuchtete sein Auge auf, als er eine lebendige Pariserin, in einen langen Kaschmirschal gehüllt, im neuesten Hütchen, in den elegantesten Stiefelchen und strammen Handschuhen vor die unsterbliche Statue trippeln sah. Niemand war jemals weniger klassisch als Balzac. Niemand aber hatte in höherem Grad die Gabe, seine Zeitgenossen zu sehen, zu malen, was unmittelbar vor sein Auge kam. »Anders als viele ausgezeichnete Geister, die blind für die eigenen Zeitläufe, ihre nächste Umgebung nicht beachten, erfaßte er im Menschengewimmel seiner Tage die Physiognomien der verschiedensten Individualitäten und die Triebkräfte ihrer Handlungen: dazu bedarf es einer ganz besonderen Naturanlage. Dieses Genie besaß Balzac, und das in einem Maße, das niemand erreichte und vermutlich jemals wieder erreichen wird.«

Man hätte denken sollen, daß 75 Jahre nach Balzacs Tod viele von ihm festgehaltene und zu seiner Zeit moderne Gestalten für die Nachlebenden überholt und reizlos geworden wären. Just das Gegenteil traf ein. Sein Einfluß nimmt bedeutend zu, weil er, wie Emile Faguet widerwillig zugibt, als Demograph die Natur des Volkes beschrieben und prophetisch Typen hinstellte, die sich als Geld- und Stellenjäger im Drang der modernen so viel größeren Verhältnisse gigantisch, wie Balzac sie gedacht, in Wirklichkeit entwickelt haben. Die Pest der modernen Gesellschaft, die Habgier, und mehr noch die Protektions-, die Vetterles- und Bäsles-Wirtschaft, die seither durch das allgemeine Wahlrecht vom kleinsten Dorf durch die Abgeordneten bis in alle Ämter sich ausbreite, habe Balzac richtig diagnostiziert. »De l'or et de l'intrigue, te voilà dans ta sphère« – Gold und Ränkespiel, zu Beaumarchais' Zeit das Element eines einzelnen, nach Gesandtenposten und Millionärseinnahmen verwegen aufstrebenden, listenreichen Lakeien Figaro erfüllt heute Sinnen und Trachten unzähliger Glücksritter. Balzac hat diese Zukunft vorausgesehen und beherrscht deshalb die Gegenwart so sehr, daß ein 35 Bogen starkes » Répertoire de la comédie humaine« von Cerfberr und Christophe wie in einem biographischen Lexikon leibhaftiger Zeitgenossen die Namen, Schicksale, Versippungen aller 2 bis 3000 in Balzacs Hauptwerk auftretenden Persönlichkeiten aufzeigen konnte, das Anatole France als allermodernsten Vapereau aufblätterte, starr vor Erstaunen, daß Balzac eine solche Welt geschaffen, ohne daß die Fäden so vieler engverbundener Existenzen jemals sich in seinem Kopf verwirrt hätten. Der feine Humorist hat bei aller Anerkennung der Schöpferkraft Balzacs und seines Berufes zum Kulturhistoriker seiner Zeit Vorbehalte gegen vieles Schimärische, Allzuromanhafte der »Comédie humaine«. Lehnt es Anatole France darum in launigen Wendungen ab, ein Balzacien zu sein – France gesteht seine Vorliebe für kleine Büchlein – so bekennt sich Paul Bourget in seiner panegyrischen Einleitung zum Répertoire der »Comédie humaine« desto schwärmerischer zu diesem Meister, den er »als notre Napoléon littéraire« feiert. Balzac selbst beschied sich mit dem meines Erinnerns zuerst von Victor Hugo in Schwung gebrachten Rang eines der »Literatur-Marschälle Frankreichs«. Belangreicher als diese Spielereien mit napoleonischen Analogien ist Bourgets künstlerische Gefolgschaft. Seine psychologisch überspitzten Salonromane, seine Frauenbilder, seine Gänge durch die elegante Modewelt eifern Balzacs Szenen aus dem Pariser Leben nach. So konnte nicht ohne Grund bemerkt werden, daß Balzac in gewissem Sinne der unsichtbare Mitarbeiter all seiner bedeutenderen Nachfolger unter den französischen Romanciers geworden ist.

Das Theater, das er bei Lebzeiten nicht erobern konnte, gedachte er noch in seinen letzten Jahren in seine Gewalt zu bekommen. Mehr als ein Dutzend Titel dieser geplanten Komödien kennt man: »Die Verschwörung Prudhomme.« »Richard Schwammherz.« »Tolle Probe.« »Der Bettler-König.« »Prudhommes Ehe.« »Der verlorene Vater.« »Die Erbschaft Pons'.« »Prinzen-Erziehung.« »Der Minister.« »Orgon.« »Die Nachzügler« (der napoleonischen Heere). »Sophie Prudhomme.« »Annunciata.« »Vorabend und Folgetag.« »Gobseck.« »Dirne und Frau.« Scribe zog aus der Novelle »Honorine« das Szenarium eines Stückes: »La protégée sans le savoir«. »Madame Marneffe«, »Claës«, »Eugénie Grandet« beschritten schon bei Lebzeiten des Erzählers, von federflinken Dramatikern eingeführt, die Bretter. Und Balzac stellte noch kurz vor seinem Tode eine Statistik auf, der zufolge er in den nächsten zwanzig Jahren je zehn Stücke fertigbringen wollte, allein und mit anderen: nach seiner Berechnung mußte von diesen 200 doch ein gewisser Prozentsatz Erfolg haben und sein Einkommen sichern. »Denke,« so schrieb er an Laurent Jan aus Berditschef im Dezember 1849, »daß eine Szene täglich im Jahr 365 Szenen, das sind 10 Stücke, ausmachen. Wenn 5 davon durchfallen, und 3 nur einen halben Erfolg hätten, blieben zwei ganze Erfolge, und das wäre doch ein hübsches Ergebnis.«

Die paarhundert Stücke, die er selbst nicht mehr schreiben konnte, haben die namhaftesten Dramatiker des zweiten Kaiserreiches in seinem Geist geschaffen. Nicht nur die Journalisten- und Gründer- und Ehebruchskomödien von Augier und Dumas fils stehen unter seinem Zeichen; auch die Vaudevillisten und Karikaturisten Meilhac und Halévy haben aus der »Comédie humaine« Motive geholt.

Besonderer Untersuchung wäre es wert, Balzacs Einfluß auf die Gelehrtenwelt zu zeigen. Taine war in seinem Balzac-Essay nur der größte, lange nicht der einzige, aus der École humaine«, stammende Lobredner des Schöpfers der »Comédie humaine«, der auf die Gesellschaftslehre und Kunsttheorie des Geschichtschreibers der englischen Literatur und der Ursprünge des zeitgenössischen Frankreichs nicht nur vorübergehend wirkte. Und Franz Mehring berichtet in seiner Biographie: »Sehr begeistert war Karl Marx von Balzacs Menschlicher Komödie, die ja auch ein ganzes Zeitalter im Spiegel der Dichtung auffängt; er wollte nach Vollendung seines großen Werkes über sie schreiben, doch ist diese Idee, wie so vieles andere, im Keime steckengeblieben.«

Außerhalb Frankreich fand der Erzähler Leser, Übersetzer, leider auch Raubdrucker in solcher Fülle, daß ein Reeder in Havre, der aus Begeisterung für die Werke des ihm persönlich unbekannten Dichters ein neues Schiff »Balzac« taufte, gewiß war, daß der Name seines neuen Fahrzeuges bei allen ihm auf dem Weltmeere begegnenden Dampfern und Segelschiffen, in allen Häfen, in denen der »Balzac« anlegte, freundlichen Willkomms teilhaft werden würde. In Petersburg übertrug ein blutarmer Anfänger aus Bewunderung »für den weltumspannenden Geist Balzacs« Eugénie Grandet ins Russische: er hieß Dostojewski und ahnte nicht, daß er 1849 wegen eines angeblichen politischen Verbrechens zum Tode verurteilt, auf den Richtplatz geführt, im letzten Augenblick begnadigt und zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert werden würde – Schicksalswenden, die »den Shakespeare des Bagno«, den »Jeremias des Narrenturms« zu Schöpfungen führten, die, vom Geist des Evangeliums durchtränkt, in aller Welt angestaunt wurden als »Ausstrahlungen der rätselschweren russischen Seele«. Der Maler der Schrecknisse des »Toten Hauses«, der Erzähler von »Schuld und Sühne« (Raskolnikow), der Biograph des »Idioten« und der »Brüder Karamasow« rückte in die erste Reihe der Erzähler aller Völker. In Frankreich wurde der Vicomte Eugène Melchior de Voguë der Apostel des »Roman russe«, und auf seinen Weckruf worden immer mehr Stimmen von Kennern, Forschern, Moralisten laut gegen den »Egotismus« Stendhals, den Nihilismus von Flauberts Bouvard et Pécuchet, den Pessimismus von Zola und Maupassant.

Der Rückschlag traf auch Balzac: in seiner engsten Landsmannschaft beklagte man, daß die »Comédie humaine« anders sei, als die Werke der englischen Meister Dickens und George Eliot, daß er in der Kunst, wie in seinem eigenen stürmischen Leben, dem Kampf um und gegen die Allgewalt der heutigen Weltmacht des Geldes, zuviel Raum gewährt habe. Keine dieser Anfechtungen schadete der »Comédie humaine«, keine dieser Einwendungen hält unbefangener Prüfung stand. Die Romanflora jedes Volkes und Reiches unterscheidet sich von der aller anderen wie die Landstriche, in denen sie gedeihen. Stendhal war der Ansicht, daß alle paar Breitegrade und alle paar Jahrzehnte andere Romane naturgemäß zum Vorschein kommen müssen. Entscheidend ist nur, welche Romane solche Probezeiten überdauern und über die Grenzen der einzelnen Nationen hinaus Geltung gewinnen und behaupten – eine Probe, die Balzacs Freunden keine Sorge macht.

Wohl war ihm nicht beschieden, sein Riesenwerk auszubauen. Er hat die »Scènes militaires« nicht vollenden, noch weniger den »Marquis de Carabas« beginnen können, der die Beziehungen der Völker, wie er das vorhatte, satirisch behandeln sollte. Was er zustande gebracht, ist gleichwohl ansehnlich genug. Er durfte getrost die Losung ausgeben: »Ich bin einer derjenigen, die allen Menschen, die guten Willens sind, sagt: ›Arbeitet, wir gehen von hinnen, und man muß das Werk fortsetzen‹.« Ein Wahrwort, das Goethe in seiner Winckelmann-Schrift durch die Erfahrung bekräftigt: »Ein tüchtiger Meister weckt brave Schüler, und ihre Tätigkeit ästet wieder ins Unendliche.« Seiner Weisheit letzter Schluß ist weder unbedingte Menschenliebe noch erbarmungsloser Welthaß. Er höhnt, brandmarkt, stellt Beicht- und Zerrspiegel auf, er zeichnet die Wirklichkeit, wie sie ist, wenn das nottut, grell und grausam, er läßt Ungeheuer des Geizes, des Neides, des Aufruhrs, der Falschheit, der Unzucht, der Herrschsucht aufsteigen und vergißt über den Grandets, der Cousine Bette, Vautrin, Hulot, Troubert, Marneffes nicht ihre Gegenbilder der Unschuld, Treue, der Frömmigkeit und christlichen Barmherzigkeit. Heil erwartete er im »Land-Arzt«, im »Land-Pfarrer«, in der »Trost-Bruderschaft« von entsagenden, reumütigen, durch die Religion geläuterten Ausnahmemenschen: Gedanken, die nicht weit von Tolstoi und Dostojewski abliegen. Die heilige Allianz der Völker, wie Béranger sie besungen, das Tausendjährige Reich, von dem die George Sand träumte, die Allerweltsbeglückung, wie Victor Hugo sie verkündigt, liegt seiner Art und Kunst fern; die schwärmerische Philanthropie, wie sie die tollsten Karikaturen und hitzigsten Anklagen eines Dickens durchleuchtet, ist seinem Wesen fremd. Schilderungen des Massenelends, mit denen von Dickens' Hard Times und Turgenjews Tagebuch eines Jägers bis auf Zolas Germinal die Propheten und Evangelisten milderer Zeiten, menschenwürdigerer Zustände den Machthabern ins Gewissen reden, den Jammer der Gegenwart beschwören wollen, sind bei Stimmführern anderer Gesinnungen und Geschlechter zu suchen als bei Balzac. Daß Marx und vor ihm Taine so stark von ihm angezogen wurden, ist dennoch erklärlich: er hat anfangs instinktiv, dann immer bewußter, die Schichtung und Umschichtung der Gesellschaft seiner Tage, die Kämpfe der Stände um die Vormacht, das Emporkommen der Geld- und Industriemagnaten, die Entartung der alten, das Werden neuer Sitten im Wirbel der Weltstadt, wie im scheinbar stockenden und doch von Leidenschaften aller Formen durchwühlten Stillleben der Provinz in dauerhaften, glaubhaften Zeitschilderungen vor Augen geführt. »Was ist das Frankreich von 1840«? so fragte er prophetisch in seiner »Katharina von Medici«: »ein ausschließlich mit materiellen Interessen beschäftigtes Land, ohne Patriotismus, ohne Gewissen, in dem das Gold alle Fragen beherrscht, der Individualismus die Familie zerstört und der Egoismus eines Tages die Nation der Invasion ausliefern wird.«

Ist die »Comédie humaine« auch Torso geblieben, ihr Schöpfer war ein Ganzer, der sich mit den großen Engländern und Russen, auch mit den deutschen Erzählern messen kann, die er besser würdigte als Mérimée, der aus Wilhelm Meister und den Wahlverwandtschaften nicht klug wurde, und Taine, der 1870 nach Deutschland kam, um als Gegenstück seiner englischen eine deutsche Literaturgeschichte zu schreiben und in seinem damaligen Tagebuch nicht einmal Goethe als Erzähler gelten läßt. Balzac war entzückt von der Mignon-Episode, er stand im Bann von E. T. A. Hoffmann, er gedachte Jean Pauls als eines »étrange génie«. Besser als Taine würde er, dem die Provinzen Frankreichs ebenso vertraut waren wie Paris, begriffen haben, warum Deutschland, das dazumal nach Wilbrandts Wort nur zwei halbe Hauptstädte, kein Zentrum, wie London oder Paris, besaß, auch seine Erzählungskunst im volkstümlichen Leben der Stämme Wurzel schlagen ließ. Die Märker Heinrichs von Kleist, die Mecklenburger Fritz Reuters, die Schlesier Gustav Freytags und Gerhart Hauptmanns, die Alemannen Scheffels, die Schwarzwälder Berthold Auerbachs, die Thüringer Otto Ludwigs, die Schweizer Gotthelfs und Kellers, die Österreicher Grillparzers, Stifters, Anzengrubers, Roseggers schließen sich in einen Kreis zusammen, der keinen Vergleich mit den Romanzyklen irgendeiner anderen Nation zu scheuen hat. Balzac hätte auch diese Meister neidlos nach Gebühr anerkannt. »Sie kennen mich genug, um zu wissen,« so schrieb er Eva 1844 nach einer Zurücksetzung, die er durch Zeitungserfolge von Eugène Sue erfuhr, »daß ich weder gegen ihn noch gegen das Publikum Eifersucht oder Ärger hege. Gott sei Dank: meine Rivalen sind Molière, Walter Scott, Lesage und Voltaire.«

Ein stolzes Selbstbekenntnis, das wuchtiger und überzeugender als jedes fremde Wort seinen Willen offenbart, in seinem Lebenswerk den Meistern der Weltkomödie und des Weltromans nachzustreben.


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