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V.
Die Anfänge der Comédie humaine

Zwischen dem Genfer Abschied Balzacs von Eva und dem Wiedersehen der beiden in Wien liegen fünfviertel Jahre. Während dieser Zeit, vom Februar 1834 bis zum Mai 1835, verging keine Woche, in der er nicht ernstlich vorhatte, dem Zug seines Herzens zu folgen und Madame Hanska, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter Anna aus der Schweiz nach Italien und Österreich reiste, neuerdings zu besuchen. Allein Schwierigkeiten aller Art hielten den Dichter in Paris fest. So sehr das den Liebenden schmerzte, dem Dichter kam es zugute, daß sein Schaffen keine Unterbrechung erlitt. In einem und demselben Jahr 1834 überraschte er die Lesewelt mit zwei neuen Romanen, »La recherche de l'absolu« und »Le Père Goriot«, die, nach seinem Wort so weit voneinander entfernt wie Grönland von China, dauernd fortleben in der Weltliteratur, und er fand überdies die Lösung der längst in ihm gärenden Zweifel, wie er seine von ihm sogenannten »1001 Nächte des Okzidentes« in ein Ganzes zusammenschließen könnte. Er zeichnete den Grundriß einer Riesenarchitektur, deren Fundamente, Fronten, Seitenflügel, Fresken, Bildsäulen, Zieraten seine Zyklen aus dem Pariser-, dem Provinz-, Soldaten- und Landleben, die philosophischen, geschichtlichen, mystischen Phantasiestücke mit dem Arabeskenschmuck der Contes drolatiques bilden sollte. Immer deutlicher trat aus dämmernden Umrissen der Plan eines Wunderbaues vor ihn, zu dessen Abschluß er noch ungezählte Blöcke würde herbeischleppen, behauen, von den Grundmauern bis zum Giebel in runder Form an die rechte Stelle würde rücken müssen, das Monumentalwerk, das er acht Jahre später die Comédie humaine nannte, und das vielleicht zutreffender die Comédie balzacienne heißen würde, als das bunte Abbild der Gestalt, die Zeit und Welt in seinem Geist angenommen hatten.

Bei seiner Ankunft in Paris erwarteten ihn verhängnisvolle Neuigkeiten. Frau v. Berny war schwer erkrankt. Als er zu ihr eilte, erschien sie ihm nach den sechs Wochen ihrer Trennung um 20 Jahre gealtert, und in ihren verfallenen Zügen sah er, wie ehedem bei seinem Vater, früher als alle anderen das nahe bevorstehende Ende voraus. In Klängen, wie sie so rein nur aus einem tiefen Gemüt kommen können, klagte er Eva sein Herzeleid, ließ er vor der neuen Geliebten die ganze Glorie der alten Dilecta aufleuchten. Anderes Unheil hatte seine nächste Familie betroffen. Sein jüngerer Bruder Henri, das Herzblatt der Mutter, ein haltloser Mensch, hatte nach argen Irrungen durch Honorés Fürwort ein Ämtchen in den Kolonien bekommen und dort eine unbedachte, folgenschwere Ehe geschlossen. Vergebliche Geldopfer für den verlorenen Sohn hatten Mutter Balzac zu Geschäften verleitet, die man, wie er Eva schrieb, »in Frankreich als anständiger Mensch einfach nicht machen kann«, und Honoré mußte mit ihr und dem Ehepaar Surville Familienrat halten, opferwillig eingreifen. Dazu kamen geschäftliche Verdrießlichkeiten, Verlegerquerelen, Geldsorgen ohne Ende. Rettung aus allen Anfechtungen suchte Balzac, indem er sich nach seinem Gleichnis wie Empedokles in den Krater, in die rauch- und feuerspeiende Esse seiner Schmiede stürzte. Mit- und Nachwelt hat es wenig zu bekümmern, unter welchen Wehen Kunstwerke geboren werden: der Kenner wägt bloß ihren Wert. Bei Balzac ist – abgesehen von solcher sachlichen Würdigung seiner Leistungen, die übrigens jeder unbefangenen Beurteilung standhalten – menschlich das Phänomen von Belang, wie es möglich war, in zwanzig Jahren mehr als 100 Bände nicht nur neu zu schreiben, sondern in sich niemals genugtuender Selbstquälerei zehn-, zwölfmal umzuarbeiten als »Gießer, Ziseleur, Bildhauer, Steinmetz, Goldarbeiter, Denker und Dichter«. Er gemahnt an Thor, der ein Trinkhorn an die Lippen zu setzen glaubt und ahnungslos das Meer austrinken soll. Um seine Lieblingswendung zu wiederholen, wie ein Bär, der seine Jungen leckt, putzt und säubert er Blatt um Blatt seiner Manuskripte, und noch ausgiebiger seine mit Sternchen, Kreuzchen, Pfeilen, Dukaten- und Tierkreiszeichen bis zur Unleserlichkeit überdeckten Bürstenabzüge. Kein Pariser Setzer will mehr als »eine Stunde Balzac« auf sich nehmen. Fahnen Balzacs, die zum sechsten- oder zwölftenmal wieder in die Druckerei zurückwandern, erinnern an die nach dem Abbrennen eines Feuerwerks verkohlt zurückbleibenden Latten des Gerüstes. So grausam ging Balzac nicht bloß aus künstlerischer Gewissenhaftigkeit mit sich ins Gericht. Wohl kannte er, wie Flaubert, die Qualen, »les affres« eines nach unbedingter Vollendung strebenden Großmeisters französischer Prosa, »la soif de la perfection«: Balzac litt überdies unter dem Bewußtsein der Ungleichmäßigkeit seines Stiles. Kenner von der Zuständigkeit Gautiers und Taines haben manches Kühne, Neugefundene, Moderne in Balzacs viel angefochtener Sprache mit Recht gelobt; sein scharfer Kritiker Sainte-Beuve verglich seine aparte Schreibart mit der Beweglichkeit der ausgeturnten Glieder hellenischer Ringer. In hochmütigen Stunden behauptete Balzac selbst, nur drei Zeitgenossen könnten Französisch schreiben: Gautier, Victor Hugo, Balzac; in weit häufigeren, kleinmütigen Stimmungen beklagte er, daß und wieviel ihm die Natur an Leichtigkeit und Ausdrucksfähigkeit versagt hatte. Und weil er selten die deckende Form für seine vielfach zum erstenmal ausgesprochenen Gedanken, von keinem anderen gewählten Vorwurfe fand, holte er die Meinung verschiedener Sachverständiger ein: dabei traf er ausnahmsweise auf Künstler vom Schlage Gautiers. Der ließ manche Regelwidrigkeit gelten, weil sie von einem Manne herrührten, der eher berufen war, Regeln zu geben als zu empfangen. Die Sprache des 17. und 18. Jahrhunderts reichte, wie Gautier in seiner Balzacstudie nach dem Tod des Romanciers einsichtig erkannte und anerkannte, nicht hin, um die Vielfältigkeit der modernen Einrichtungen, Bauten, Mobiliare, Typen erschöpfend zu beschreiben. »Balzac mußte sich darum eine besondere Sprache schmieden, deren Bestandteile, wenn es Not tat, aus allen gewerblichen und wissenschaftlichen Fachausdrücken, aus dem Rotwelsch der Theater und Ateliers, der Gefängnisse und Seziersäle geholt werden mußten.« Jedes Wort, das den Kern der Dinge traf, war da willkommen, und um solchen Eindringlingen Platz zu schaffen, war es geboten, Schaltsätze einzufügen, das Satzgefüge zu erweitern: Grund genug für oberflächliche Kritiker, zu sagen, daß Balzac nicht schreiben konnte. Er hatte aber, obwohl er das selbst nicht glaubte, einen Stil, und zwar einen sehr schönen Stil, den notwendigen, unersetzlichen, mit mathematischer Folgerichtigkeit sich ergebenden Stil seiner Idee.« Solche Vorzüge täuschten Balzac nicht über viele Mängel seiner Manier. Abhilfe suchte er denn auch bei Schulmännern, bei »seinen« pedantischen, überpedantischen »Boileaus«, und er weinte, wie er Eva schrieb, Tränen der Verzweiflung, wenn solche Kleinmeister ihm in längst anerkannten Romanen, den Chouans, dem Chagrinleder, hunderte von wirklichen oder eingebildeten Verstößen gegen Herkommen und Sprachgebrauch vorhielten. Als unbarmherzigster Kritiker seiner Texte hörte er auf derartige Rügen seiner Merker; bei jeder neuen Korrektur und erst recht bei jeder neuen Auflage arbeitete er seine Bücher um, oft auf Kosten der Wucht seiner ursprünglichen, treffenderen Wendungen. Wie mit dieser mühseligen Arbeitsweise die Schnelligkeit und Fruchtbarkeit seines Schaffens in Einklang zu bringen ist, bleibt ein ebensolches Rätsel, wie die Rastlosigkeit seiner Phantasie, die, während er Buch um Buch für die Öffentlichkeit fertig machte, zugleich mit zahllosen, bis ins Kleinste ausgedachten Entwürfen spielte: »Es muß alles aufmarschieren«, so schrieb er der Geliebten, »die leichte Groschenliteratur, wie die Sittenstudien und die großen Gedanken, die kein Verständnis finden, wie Louis Lambert, Seraphita, Birotteau usw.«

Vergebens baten befreundete Ärzte, Maß. zu halten; umsonst stellten sie ihm vor, seine Nachtwachen, die er nur durch künstliche Reizmittel, übertriebenen Genuß von Kaffee, möglich machte, die Überspannung seiner Kraft in ununterbrochener sechzehn- bis achtzehnstündiger Arbeitszeit, würde, wie bei Broussais und Dupuytren, Gehirnentzündungen und vorzeitiges Ende zur Folge haben. Seine »furie balzacienne« war nicht zu bändigen: er wollte und er konnte seine Schaffenswut nicht zügeln; wohl war ihm nur im Fieber, in der dämonischen Betätigung seiner künstlerischen Triebe. Von Verlegern und Zeitungsleitern dieser unablässigen Regsamkeit willen bald und mit Recht als der fruchtbarste Romancier ausgerufen, gedachte der Erzähler, nicht zum wenigsten zur Stärkung seiner Einnahmen, auch als Dramatiker sich hervorzutun. Trotz Schiller nahm er eine Tragödie Don Philipp und Don Carlos in Angriff: Carlos (so setzte er Eva als Ergebnis kritisch kaum einwandfreier Quellenstudien auseinander) sei in Liebe mit der Königin eins gewesen; hinreichende Beweise lägen vor, daß das Kind, an dem sie starb, vom Infanten war; in seinem Stück seien die Königin und Carlos schuldig; mit dem König und Carlos treibe Don Juan d'Austria sein Spiel; er folge Schritt für Schritt der Geschichte. Wie weit die Ausführung des Planes gedieh, der Balzac beschäftigte, steht dahin. Wie sorgsam er bemüht war, mit Philipp II., seinem; Hof und seiner Zeit vertraut zu werden, bewies ein acht Jahre hernach gespieltes Drama »Les ressources de Quinola«, das weiterhin eingehender zur Sprache gebracht werden soll. Für andere Komödien suchte er, der sich noch nicht allein auf Bühnenkenntnis verlassen wollte, Mitarbeiter zu gewinnen. Mit Jules Sandeau fing er ein Schauspiel an, »La grande Mademoiselle«, die Geschichte Lauzuns und seiner Heirat mit der Prinzessin von Montpensier, das mit dem Wort schließen sollte: »Marie, zieh' mir die Stiefel aus.« Mit Arago plante er ein Drama »Les courtisans«. An Monnier wollte er sich wenden zur gemeinsamen Ausarbeitung einer Posse: »Prudhomme bigame«, die spaßhafte Schreckensnacht der von Monnier geschaffenen stehenden Figur des Pariser Einfaltspinsels, dessen Frau heimlich einen Maskenball mitmacht und an ihrer Statt eine Gliederpuppe in das Ehebett legt.

Keiner dieser Anläufe führte weiter. Erholung und Erhebung gewährten dem Vielgeplagten, Vielgetäuschten musikalische Musteraufführungen. Begeistert für die Tonkunst, die er über alle anderen Künste, mit Inbegriff der Poesie, stellte, schwärmte er für die Konzerte des Conservatoire, fühlte er sich insbesondere hingerissen durch Beethovens Fünfte Symphonie, die er wiederholt auch in seinen Schöpfungen hymnisch preist. Die Glanzzeit der Italienischen Oper mit der Grisi, mit Rubini, Tamburini und anderen weltberühmten Meistersängern machte er als vielberufener Obmann der »Cannophilen« mit seinem legendarischen Stock in der Loge der »Tiger« mit, zu denen auch der vertriebene Diamantenherzog von Braunschweig gehört. Seiner chronischen Geldklemme nicht achtend, will er diesen »Tigern« »ein ganz unvernünftig prunkvolles Diner geben. Es kommen Rossini und seine Olympia, die präsidieren wird, Nodier, Sandeau und ein gewisser Bohain«, der Begründer der »Europe littéraire«, »ein Mann von großer politischer Bedeutung, der ungerechterweise einen schlechten Ruf hat. Ich tische (wie er Eva schreibt) die vorzüglichsten Weine Europas auf, die größten Leckerbissen, die seltensten Blumen, kurzum, ich will mein Bestes geben«. Und dieses Diner machte (wie er Eva auf ihre Frage nach dem Ausgang meldete) »Furore. Rossini erklärte, er habe bei keinem Fürsten ähnliches gesehen, besser gegessen und getrunken. Es sprühte von Geist. Die schöne Olympia benahm sich anmutig und klug und war einfach vollkommen. Latour-Mézeray«, ein vielgewandter Zeitungsmann, »war der geistreichste von allen: er hat das Kreuzfeuer von Rossini, Nodier, Malitourne mit glänzenden Salven beantwortet. In diesem Feuerwerk war der Hausherr nur der bescheidene Anzünder, der die Lunten an den Feuerrädern ansteckte. Ecco.« Zweifellos bedurfte und verdiente Balzac nach den Kasteiungen in seiner einsiedlerischen Werkstatt ungewöhnliche Feste: den Haushalt seiner Finanzen verbesserten sie jedoch gewiß nicht, und in seiner Familie wie bei Frau Hanska begegneten sie unverhohlener Mißbilligung.

Es war nicht die einzige und lange nicht die stürmischste Beschwerde Evas. Ungemein eifersüchtig verhörte sie bei jedem Frauennamen, den Balzac gelegentlich erwähnte oder fremdes Gerede ihr zutrug, wie ein Strafrichter den jedesmal (nicht immer wahrheitsgemäß) seine Unschuld Beteuernden. Leichter fiel es ihm einmal, den armen Ehemann zu begütigen. Einer seiner Liebesbriefe, der Eva mit Du anredete, war in Herrn v. Hanskis Hände gefallen. In einem entschuldigenden Schreiben an den Gatten redete sich Balzac damit aus, daß die Frau Gräfin ausnehmendes Wohlgefallen an der Heldin der Chouans geäußert habe: im Vertrauen darauf hätte er sich erlaubt, einen im Spaß an eine imaginäre Doppelgängerin Marie de Verneuils gerichtete Epistel an Madame de Hanska gelangen zu lassen. Das Erstaunlichste an dieser des Erzählers der »Schwänkigen Geschichten« nicht würdigen Notlüge bleibt, daß Hr. v. Hanski sie gläubig hinnahm. Er pries Balzacs »Landarzt« als moralische Tat, machte dem Dichter Malachitvasen zum Geschenk und erinnerte sich oft und gern an seine Genfer Schnurren. Und nach wie vor liefen zwei Reihen von Balzacs Briefen an Eva nebeneinander her: sachlich kühle, dem Ehepaar geltende und jeden Zweifel ausschließende leidenschaftliche Ausbrüche, nur für die Geliebte bestimmte. Das Doppelspiel verletzt doppelt durch die Selbstverständlichkeit, mit der Balzac und Eva die Täuschung des Gatten betrachteten und behandelten.

Balzacs Bekenntnisse gehen schwunghaft an seine Beichtmutter weiter; wortkarger wird er nur, wenn, mit Hebbel zu reden, der Herrgott bei ihm einkehrt, wenn ihn ein Rausch des Schaffens überrascht und Motive finden läßt, die seiner Art und Kunst zum Sieg verhelfen, wie Eugenie Grandet, »Le Père Goriot« und die vom Juni bis September 1834 in hundert Nächten vollendete »Recherche de l'absolu«. Von keinem dieser drei Meisterromane macht er in den Briefen an Eva vor deren Ausgabe viel Aufhebens: der Recherche de l'absolu gedenkt er nur, um Ablaß für den Scherz zu erbitten, einen folgenreich in die Handlung eingreifenden polnischen Offizier Wierzchownia genannt zu haben: so hieß das Ukrainer Gut der Hanskis. Mit keiner Silbe deutet er an, wo er den Stoff aufgriff. Gautiers anekdotische Überlieferung, den Anstoß habe die Firma eines Ziegel- und Steinhändlers Lassolu gegeben, die auf die Planke des Zaunes gepinselt war, der Balzacs Gartenpavillon in der Rue Cassini umsäumte, ist nicht ernst zu nehmen. Ein Buch von solcher Bedeutung dankt seinen Ursprung keinem Zufall, es ist aus dem Innersten des Dichters geholt, der wesensverwandte Züge mit seinem Helden aufweist.

Balthasar Claës stammt aus einem Patriziergeschlecht der Niederlande. Sein Ahnherr, der als nackensteifer Widersacher Karl V. hingerichtet wurde, lebt im Gedächtnis seiner Landsleute als Freiheitsheld fort. Seine Nachkommen haben Ansehen und Reichtum des Hauses in Douai erhöht; mit seinen Sammlungen, Bilder- und Silberschätzen ist es ein von Balzac liebreich und treu gemaltes Muster flandrischer Gediegenheit und Behäbigkeit. In jungen Jahren hat Balthasar in der Pariser Gesellschaft verkehrt und aus Liebhaberei bei Lavoisier chemische Studien gemacht. Heimgekehrt wählt er keine der reichen, schönen Erbtöchter von Douai zur Frau: seine Neigung gewinnt ein verwachsenes, hinkendes Mädchen, Sproß einer spanischen Herzogsfamilie, Pepita, durch ihre Anspruchslosigkeit und Seelengüte. Jahrzehntelang krönt reinstes Glück die mit Kindern gesegnete Ehe. Pepitas Dankbarkeit und Zärtlichkeit für ihren edlen Gemahl ist ohne Grenzen, und als ihr unvermutet ansehnliche spanische Erbschaften zufallen, achten die beiden kaum auf diese Mehrung ihres Besitzes: ihnen genügt die Eintracht ihrer Herzen. Dieses Idyll wird jählings und für immer zerstört durch einen polnischen Offizier, der eines Nachts als Einquartierung in das Haus Claës kommt. Wierzchownia ist Soldat wider Willen, nur durch die Kriegsläufte zum Waffendienst gezwungen; seinem Beruf nach ist er Naturforscher, von dem Wahn erfüllt, aus Kohlen Diamanten kristallisieren zu können. In seinen Versuchen lahmgelegt, entwickelt er Balthasar mit hinreißender Beredsamkeit seine Lehren, die Möglichkeit, das Absolute, den Stein der Weisen zu finden. Von Stund an wird Claës ein anderer. Er nimmt seine chemischen Experimente auf, verbringt Tag und Nacht mit seinem gläubigen Faktotum im Laboratorium und verrennt sich mehr und mehr in die fixe Idee, daß ihm beschieden sein werde, was ungezählten Vorgängern früherer Jahrhunderte versagt geblieben: der Triumph der Alchimie. Was anfangs halb und halb Spiel war, wird bald Leidenschaft und endlich alles verzehrende Manie. Pepita und die Kinder lassen den Hausvater lange, allzu lange gewähren. Er opfert seinen Phantasmen seine und ihre Habe; Stück um Stück alten Hausrates verschwindet; die Gemälde, das Silber, die Tulpenzucht, Forst und Felder der Claës werden verkauft oder belastet. Noch härter trifft Pepita die Lieblosigkeit, mit der sich Balthasar den Seinigen entfremdet. Als endlich der drohende Zusammenbruch die Nachsichtige nötigt, Claës zu bitten, der Kinder willen Einhalt zu tun, verspricht er das, scheinbar ernüchtert. Stärker als alle Gelübde erweist sich aber der unbezwingliche Glaube des Forschers, auf dem rechten Weg zu einer welterleuchtenden Entdeckung zu sein. Rücksichtslos reißt er die Seinigen in ihr wirtschaftliches Verderben. Grausamer als durch die Wagestücke an seinem Feuerherd, als deren zufällige Zeugin seine Frau in Lebensgefahr kommt, wird Pepita durch Balthasars Unbelehrbarkeit und Unbekehrbarkeit getroffen. Sie erliegt ihrem Kummer. Ihre Tochter Margarete, der sie als Vermächtnis auftrug, mit aller dem Vater schuldigen Schonung die Zukunft der Geschwister zu retten, tritt Balthasar fester entgegen; doch auch ihr entwindet er durch die Drohung des Selbstmordes ihr Spargut. Als der letzte Heller nutzlos verschlungen und Balthasar gezwungen ist, in der Bretagne Steuerbeamter zu werden, brechen durch Margaretens Tatkraft bessere Zeiten für die Familie in Douai an. Nach seiner Heimkehr verfällt Claës indessen der alten krankhaft gesteigerten Passion, die ihn schließlich dermaßen herabkommen läßt, daß die Gassenjungen den kläglich verarmten Greis auf der Promenade als Hexenmeister höhnen und mit Kot bewerfen. Der Schimpf hat einen Schlaganfall zur Folge. Balthasar siecht scheinbar bewußtlos hin, bis er unmittelbar vor dem Tode den Ruf »Heureka!« ausstößt: der letzte Gedanke seines wirren Hirns gilt dem vermeintlichen Fund des Steins der Weisen, nicht dem Unheil, das er über sich und sein Haus gebracht.

Balthasars Lebenslauf könnte den Text einer Krankengeschichte, den Anlaß zu einer Strafpredigt, die Warnungstafel eines abschreckenden Beispiels geben: nichts von alledem bezweckt Balzacs »philosophische Studie«. »Ist das Genie«, so fragt der Dichter wohl auch im Hinblick auf sich selbst, »nicht ein beständiger Exzeß, der Zeit, Geld und Leib verzehrt und dem Hospital noch schneller zuführt als böse Leidenschaften, und doch scheinen die Menschen mehr Achtung für die Laster zu haben als für das Genie, denn sie weigern sich, ihm Kredit zu gewähren«: darunter dürfte Balzac ebensowohl Geld- als Glaubens- und Ruhmeskredit in der Gegenwart auf kommende Einlösung in der Zukunft verstehen. Balthasar zu verdammen, liegt Balzac fern, so warm er für Pepita fühlt. Er läßt uns den lauteren, alles hintansetzenden Forscherdrang begreifen, den Wagemut des Entdeckers, der das eigene Leben und die Existenz aller ihm Nahestehenden für nichts achtet, wenn es den höchsten Einsatz, die Aufdeckung der letzten Naturgeheimnisse gilt. Balthasar vertröstet sich von einem Fehlschlag zum andern mit der Zuversicht, am Ende recht zu behalten gegen alle kleinmütigen Zweifler. Daß er dann mit einem Zauberschlag alle Verluste wettmachen, alle Schulden tilgen, Weib und Kindern Diamanten und Goldbarren würde schenken können, ist ihm nicht die Hauptsache: das Ziel seines Strebens ist, die Wahrheit zu enträtseln, neue Wege zu erschließen, wie das nach ihm opferfrohen Pfadfindern gelang, die nicht immer Fachgelehrte waren, wie Zeppelin. Wer solche Gedankengänge nicht in der Recherche de l'absolu suchen will, kann es sich genügen lassen, den Künstler anzuerkennen: Balzac hat das Stadtbild von Douai, die Gestalten von Balthasar, Pepita, Margarete, das Faktotum Lemoulquinier mit ebenso sicherer Hand festgehalten wie den Kreis von Vater und Tochter Grandet in der Enge ihres Saumurer Hauses.

In rascher Folge hatten sich immer mehr, immer bedeutendere Schöpfungen Balzacs die Gunst immer weiterer Leserkreise erobert. Daß der Romancier in der aufsteigenden literarischen Bewegung der dreißiger Jahre in die vorderste Reihe der Jüngeren, daß er Hugo, Musset, Mérimée, Stendhal zur Seite getreten war, konnten auch widerwillige Berufsgenossen nicht leugnen; der seiner bissigen Urteile wegen gefürchtete Neidhart Latouche, der sich nach regem Verkehr mit dem Anfänger plötzlich und für immer mit Balzac entzweit hatte, sagte verdrießlich zu einem gemeinsamen Bekannten: mit seiner Zähigkeit wird er uns alle miteinander überleben und einscharren. Bei dem Anteil, den das Schaffen des Unermüdlichen in der Menge weckte, konnte es nicht ausbleiben, daß auch Kenner von Gewicht den Gründen dieses Erfolges nachgingen: Charles de Bernard, ein in der Freigrafschaft ansässiger begabter Erzähler, hatte die Peau de chagrin willkommen geheißen, Philarète Chasles als Herold derselben Dichtung seine Stimme erhoben. Als Balzac hernach die Sammlung seiner Szenen aus dem Privatleben vorbereitete, hielt er es für ratsam, zur Hebung des Absatzes Anzeigen zu veranlassen; zu seinem Ekel bemerkte ihm der Verleger daraufhin, daß jeder Feuilletonist auf seiner Preisliste stehe. Der Anwurf dürfte in solcher Allgemeinheit nicht einmal auf alle Mitarbeiter von kleineren Blättern zugetroffen sein, und in der Revue des deux mondes nahm ein Mann, dessen Unantastbarkeit außer Frage stand, La recherche de l'absolu zum Ausgangspunkt einer Balzacs ganze bisherige literarische Tätigkeit würdigenden Kritik: Sainte-Beuve. Persönlich hatten die beiden vorher nur wenig Beziehungen gehabt. Balzac sprach in seinen Pariser Briefen ziemlich kühl von Sainte-Beuves Gedichten, desto nachhaltigeren Eindruck hatte im folgenden Jahre der Roman des Kritikers »Volupté« auf ihn gemacht. Daß der literarische Fürsprecher der Neueren, der Freund von Hugo, Lamartine, George Sand, Masset, Mérimée, der Autor des »Gemäldes der französischen Literatur im 16. Jahrhundert«, berufen war, auch Balzacs Wirken zu richten, konnte kein Sachkundiger bestreiten. Sainte-Beuves Aufsatz vom 15. September 1834 war und bleibt in der Tat ein wohlüberlegtes und begründetes, in der Hauptsache unangreifbares Urteil. Der Kritiker zeigte in knappen Andeutungen, daß ihm die Anfänge Balzacs in Literatur und Leben genau bekannt waren: Latouche hatte manches von den abenteuerlichen Wegen und den wunderlichen Gefährten der »prähistorischen Zeit« des Romanciers berichtet, und Sainte-Beuve, von dem Renan einmal sagte, er habe alles gelesen, war gewissenhaft Balzacs Spuren von den Pseudonymen Jugendromanen bis zu den Schöpfungen der Reifezeit nachgegangen. In, den Kern der Sache treffenden, Bemerkungen kennzeichnete er Licht und Schatten seiner Frauenbilder, denen er großenteils seinen Erfolg zuschrieb, und ebenso richtig war der Hinweis, wie sehr Balzacs Methode, zum Schauplatz seiner Geschichten – außer Paris – abwechselnd immer andere Gegenden Frankreichs zu wählen, ihm Leser in den verschiedensten Provinzen zuführe. Louis Lambert erwähnt er achtungsvoll, Eugénie Grandet nennt er, von kleinen, leicht zu beseitigenden Schönheitsfehlern abgesehen, »fast ein Meisterwerk«, La recherche de l'absolu prüft er als Kunstrichter, der außerordentliche Vorzüge des Buches einsichtig rühmt und unverkennbare Unarten des Geistes und der Erotik Balzacs – die Alkovengeheimnisse Pepitas, die Freigebigkeit des Erzählers mit unversieglich rieselnden Millionen – mild ironisiert. Verglichen mit Sainte-Beuves vorangehenden Porträts der begabtesten jüngeren zeitgenössischen Autoren war sein Balzacbild ein den Maler und sein Modell ehrender Zuwachs seiner Galerie. Mehr Wohlwollen und weniger Neckerei des »Alchimisten des Romans«, der »seine Damen zu kleiden und zu entkleiden verstehe«, wäre vielleicht einer so bedeutenden Persönlichkeit gegenüber angezeigt gewesen. Allein der Mann der Verzückungen war Sainte-Beuve niemals, und Balzac hätte mit diesem Willkomm ebenso zufrieden sein können, wie das die Sand, Musset, Mérimée mit dem bedächtig zugewogenen Lob des geborenen Kritikers waren. Als Balzac das Heft der Revue mit Sainte-Beuves Artikel in die Hand bekam, war an Stelle des verreisten Malers Borget der von George Sand im Stich gelassene Literat Jules Sandeau sein Hausgenosse geworden, dem der Romancier großmütig in seinen Seelen- und Geldnöten Trost und Beistand gewährte. Wie Sandeau hinterdrein erzählte, las Balzac den Aufsatz laut vor, anfangs leidlich befriedigt, unempfindlich gegen leise Sticheleien, bis mit einem Male sein Zorn grimmig losbrach und sich in dem Racheschwur Luft machte: »Ich werde ihm diese meine Feder durch den Leib rennen.« Zum Glück gebrauchte Balzac bloß Raben- und Gänsekiele, die kein rechtes Mordwerkzeug abgeben. Sonst war der Romancier gleichmütiger gegen sachliche Besprechungen: im Gespräch und im vertraulichen Briefwechsel mit Madame de Berny und Zulma Carraud, nahm er rundweg verwerfende Kritiken nicht im geringsten übel; ältere und jüngere Berufsgenossen munterte er sogar auf, ihm kleine und große Fehler in seinen Manuskripten anzuzeichnen. Eine gewisse Herablassung in Sainte-Beuves Ton kann seinen Wutanfall schwerlich erklären. Wahrscheinlich verschuldete seine große Gereiztheit eine ganz kleine Fußnote Sainte-Beuves: Balzac mache den (auch anderen jungen Autoren vorgeworfenen) Unfug mit, seinem Namen ein ihm nicht zustehendes »de« als Adelsprädikat beizufügen. Sainte-Beuve, der selbst zur Beisetzung eines de berechtigt gewesen wäre, verschmähte das zeitlebens: Balzac hingegen, dessen Künstlerruhm mehr bedeutete als ein Wappen, war niemals in der Lage, für die von ihm in Anspruch genommene Verwandtschaft mit den Balzac d'Entragues irgendeinen, geschweige einen urkundlichen Beweis zu erbringen. Seine Eitelkeit, sich als Aristokrat aufzuspielen, war durch Sainte-Beuves Nadelstich schwer verletzt worden; vielleicht besorgte er auch, daß dieser Ausfall zu seiner Beschämung der Herzogin von Castries und Eva vor Augen kommen würde. Sein Drohwort, Sainte-Beuve mit der Feder zuleibe zu gehen, hat er in den nächsten Jahren nicht vergessen. Er schrieb »Lelys dans la vallée« im Glauben, Sainte-Beuves ähnliche Motive behandelnden Liebesroman dadurch zugrunde zu richten, und mit dem Scharfblick des Hasses spürte er 1840 im ersten neuerschienenen Band von Sainte-Beuves Monumentalwerk Port Royal allen Schwächen des Forschers und Stilisten in einer giftigen Anzeige seiner Revue de Paris nach: Gehässigkeiten, die Sainte-Beuve durch versteckte Anzüglichkeiten und offene Bosheiten bei passenden und unpassenden Anlässen heimzahlte, bis der Tod Balzacs versöhnend wirkte. Sainte-Beuve erschien beim Leichenbegängnis seines großen Feindes und widmete ihm einen Nachruf, der die Summe seiner Existenz mit einer Sachkenntnis zog, die Zeugnis dafür legte, mit welcher Aufmerksamkeit er jede Phase seiner Entwicklung verfolgt hatte. Wenige Freunde des Dichters, Victor Hugo, George Sand, Gautier, haben gleich dazumal, 1850, die Bedeutung von Balzacs Lebenswerk so richtig erkannt wie dieser frühere Widersacher; von wenigen künstlerisch begabten Kennern hätte Balzac bei Lebzeiten beherzigenswertere Winke empfangen können. Bei der Selbstherrlichkeit seiner Natur hätte sich Balzac durch freundschaftliche Beziehungen zu dem Kritiker allerdings nicht zu Wandlungen seiner Art und Kunst bestimmen lassen; Sainte-Beuve konnte und mochte ja nicht einmal seine Freunde Sand, Mérimée, Flaubert, Renan, Taine zu Veränderungen ihrer Arbeits- und Denkweise bewegen. Doch das häßliche Schauspiel einer aus persönlichen Reibungen erwachsenen Fehde wäre der Mit- und Nachwelt erspart geblieben: sie war um so überflüssiger, als Balzac das wirksamste Mittel hatte, seinen Gegner ins Unrecht zu setzen durch neue Taten, die dasselbe Jahr brachte: seinen offenen Brief an die französischen Schriftsteller, in dem er zur Selbsthilfe gegen belgischen Nachdruck und andere Mißstände aufrief und die Begründung einer Schriftsteller-Gesellschaft forderte; den Urentwurf seiner programmatischen Einleitung zur Gesamtausgabe seiner sozialen Studien und den im September 1834 begonnenen und beschlossenen Roman Le Père Goriot.

La recherche de l'absolu hatte den Dichter dermaßen überanstrengt, daß sein Arzt ihm strenge gebot, ausgiebigen Feierabend zu halten und sich auf dem Land monatelang auszuruhen. Balzac zog sich daraufhin wieder einmal nach Saché zurück, einem verfallenden Schloß am Indre, in einem der lieblichsten Täler der heimatlichen Touraine. Der Besitzer Herr v. Margonne, ein Fünfziger, mit Balzacs Familie altbefreundet, nach einer geheimnisvollen Andeutung Bellessorts »vielleicht allzusehr befreundet«, hatte Honoré als Kind auf den Knien geschaukelt; seine Frau nennt Balzac unduldsam, frömmlerisch und beschränkt, Margonne selbst ziemlich knickerig. Noch weniger als seine Gastfreunde fragten die Leute der Umgegend nach dem Romancier; Tours war nach seinem Wort die am wenigsten literarische Stadt Frankreichs, und er gelte in dieser geistigen Türkei gar nichts. Just diese Abgeschiedenheit tat ihm wohl. Er genoß volle Freiheit: »Nur da zu sein, macht ihn so zufrieden, wie den Mönch sein Kloster. Der Himmel ist so hell, der Eichenwald so schön, die Ruhe so grenzenlos. Ich gehe stets her, wenn ich über eine ernste Arbeit nachdenken will.« Statt der Verordnung des Arztes zu folgen, macht er sich auch diesmal in Saché sofort an ein neues Werk. Er schreibt Le Père Goriot, »eine meisterliche Arbeit«, wie er Eva meldet; »dieser Mann ist Vater, wie ein Heiliger und Märtyrer Christ ist«. Ein stärkerer Kontrast als Vater Grandet in seiner verhärteten Selbstsucht und dem »Christus der Vaterliebe« Goriot ist nicht denkbar. Der Nudelfabrikant Goriot, der es in den Stürmen der Revolution zum Millionär gebracht hat, ist ein kleinbürgerlicher König Lear. Er gibt sein ganzes Vermögen seinen maßlos geliebten Töchtern, der einen zur Aussteuer für einen Grafen, der anderen als Mitgift für einen baronisierten, aus dem Elsaß stammenden, jüdischen Börsenmann. Und die Komtesse Anastasia Restaud und die Baronin Delphine v. Nucingen sind ebenso falsch gegen ihren Vater, ebenso treulos gegen ihren Gatten wie Goneril und Regan, so daß der nach ungezählten Opfern auf dem Totenbett von ihnen verlassene, als Bettler sterbende Goriot sie verzweifelnd des Vatermordes zeiht – eine Anklage, die er im selben Atemzug seinen vergötterten Lieblingen abbittet.

Mit gleicher Gewalt wie Vater Grandet und Vater Goriot hat Balzac die Gestalt Vautrins geschaffen: ein Bagnosträfling, der freiwillig für einen Parteigänger des jungen Italien, der einmal gestrauchelt war, Schuld und Haft auf sich genommen, ein Urrebell, der aus Toulon entsprungen, als Vertrauensmann und Nothelfer der im Bagno verbrüderten Leidensgefährten dem Zugriff der Polizei ihre Gelder und Diebesbeuten entzieht. Ein satanischer Ankläger der geltenden Gesellschaftsordnung, der wie Karl Moor das Horn des Aufruhrs durch die ganze Natur bläst. Ein Verächter unserer nach seinen Sophismen das Unrecht gegen das gebeugte Recht der Unterdrückten schützenden Gesetze und Staatseinrichtungen. Ein Despot, der am liebsten als Sklavenhalter in Südamerika herrschen würde, vorläufig aber in Maskeraden aller Art die Polizei anführt, seine Schutzbefohlenen rettet und für seine Ideen Propaganda macht. Mit beredtem Zynismus beweist er jungen, schönen, seiner Perversität zusagenden Leuten die Unmöglichkeit, auf geradem Weg vorwärts zu kommen; er höhnt ihre Zaghaftigkeit, ihre Bedenken, durch Weiber, Mitgiftjägerei, Mordanschläge in Form von tückisch vorbereiteten Duellen zu Macht und Mammon und damit zu Herren der Gesellschaft sich aufzuschwingen. In den ersten Sätzen des Père Goriot schickt Balzac die Erklärung voraus, daß seine Tragödie nur im Kreis des Pariser Höllenpfuhls zwischen Montrouge und Montmartre gründlich begriffen werden könne. Die Glaubwürdigkeit und Gemeingültigkeit seiner Schilderung einer aus den Fugen gehenden Welt zu richten, hält schwer, solange man im Bann seiner Bildnerkraft steht. Staunenswert leibhaftig läßt er ein erbärmliches Pariser Kosthaus, die Pension Vauquer, aufsteigen mit ihren Mietern und Stammgästen, einer Galerie grundverschiedener Charakterköpfe: Grotesken, Auswürflinge, Spione, Männer und Weiber niedrigster Gesinnung neben ebenso lebenstreu wirkenden tröstlicheren Tischgästen: übermütigen, untadeligen Studenten und reinen Mädchenseelen. Sie alle möchte Vautrin in seine Fänge ziehen, und sein besonderes Augenmerk richtet der »Cromwell des Bagno« auf einen Jura treibenden Adeligen Rastignac, den Abkömmling einer alten, verarmten Familie. Anfangs weist Rastignac die schamlosen Argumente Vautrins ab. Doch nach kurzem schmerzlichen Kampf mit seinem besseren Selbst will der Ehrgeizige Karriere machen um jeden Preis, und in der Schule einer grundverderbten Welt, unter dem Eindruck des Sieges der Niedertracht in allen Höhen und Niederungen der Gesellschaft, in die seine Erlebnisse mit Vater Goriot und seinen Töchtern ihn blicken lassen, wirft er Gewissen und altüberkommene Ehrbegriffe als Plunder von sich. Am Grab Goriots, von den Höhen des Père Lachaise blickt er auf Paris, das er zum Zweikampf herausfordert. Als Menschenverächter betritt er am Scheideweg eine Bahn, die den rücksichtslosen Streber auf den Ministersitz, zur Pairie und zu den Töchtern der allerreichsten, allerverrufensten Finanzgrößen als hochwillkommenen Freier führen wird.

In Kunst und Leben hat man seit dem ersten Erscheinen dieser Figur Balzacs Rastignacs in allen Formaten wiederzufinden geglaubt: 1834 wurde sofort – mit Unrecht – Thiers als sein Urbild genannt; in Modezirkeln riefen sich in Scherz und Ernst junge Herren als Rastignacs an, und bis zur Stunde sagen Kenner der französischen Zustände Balzac nach, daß er mit dieser Gestalt einen der vom Naturforscher Agassiz so genannten prophetischen Typen geschaffen habe.

Fremdartiger als die Gäste der Pension Vauquer berühren die Herzoginnen und Gräfinnen des Faubourg Saint-Germain, die, fast durchweg perfiden Galans zu willen, angeblich – Père Goriot spielt in den Tagen der Restauration – die Fäden in Händen haben, um alle, Große und Kleine, den Hof und die Salonwelt nach ihrer Willkür tanzen zu lassen. Diese hochadeligen Damen sollen imstande sein, durch Empfehlungen, Ränke, Zulassung oder Abweisung millionschwerer Parvenüs, Begünstigung oder Verwerfung von Heiratsprojekten von heute auf morgen Günstlinge zu schwindelnden Höhen emporzuheben, Mißliebige für immer zu vernichten. Wären diese Spitzen der Gesellschaft wirklich durchweg so perfid und unberechenbar, wie sie im Père Goriot erscheinen, wären die Tiefen der Großstadt in der Tat so verpestet wie die Atmosphäre der Pension Vauquer, dann wäre Vautrins Verdammung dieser Zustände berechtigt, der Untergang dieser todesreifen Welt unaufhaltsam und der Brandredner des Bagno, der sich einen Rousseauaner nennt, hätte leichtes Spiel, als Werkmeister des Umsturzes neue Schreckenszeiten heraufzuführen. Daß – wie Goethe das in der Kritik der Peau de chagrin wünschte – in der Provinz gesundere, reinere Menschen gedeihen, daß die Massen in Genügsamkeit, Unterwürfigkeit oder Torheit noch andere Spielarten von Franzosen zeitigen als die Aristokraten und Streber, die Verbrecher und Märtyrer im Père Goriot, verschweigt übrigens Vautrin selbst nicht. Rastignacs Schwestern sind in der Enge und Dürftigkeit ihres südfranzösischen Landsitzes still zufrieden, selbstlos, zu jedem Opfer für den anspruchsvollen Bruder in Paris bereit. Das Idyll dieser liebenswürdigen Mädchen wirkt als Labsal – ein Augen- und Herzenstrost nach den Gruppen aus dem Pariser Tartarus.

In vierzig Tagen hatte Balzac für die Revue de Paris seinen Père Goriot fertiggebracht. Im Arbeitsfieber der sechs bis sieben Wochen, in denen er nur achtzig Stunden schlief, dachte er wenig an die Aufnahme, die dem Buch beschieden sein würde. »Père Goriot«, so heißt es in einem seiner Briefe, »ist ein schönes Werk, aber monströs traurig; man mußte, um vollständig zu sein, einen moralischen Unratskanal von Paris zeigen, und das wirkt wie eine widerwärtige Wunde.« Allein der sittliche Ernst, mit dem Balzac den Stoff angefaßt, die tragische Wucht und Ironie, mit der er den Vorwurf bewältigt hatte, ließ bei den Lesern solche Bedenken nicht aufkommen. Gleich nach dem Abdruck in der Revue war noch vor irgendeiner Verlagsanzeige eine Buchausgabe von 1200 Exemplaren vergriffen; zwei weitere folgten sofort, und Freund und Feind anerkannten einmütig, daß Goriot alle früheren Leistungen Balzacs übertreffe: »Meine erbittertsten Gegner beugen das Knie.« So willkommen dem Dichter dieser Erfolg war, zufrieden gab er sich damit nicht: »Einen Père Goriot schreibt man alle Tage, eine Seraphita nur einmal im Leben.« Und neben diesem Schmerzenskind Seraphita, die in überirdische Sphären gehobene Dichtung, die Eva gewidmet werden sollte, harrte noch eine lange, lange Reihe weiterer Schöpfungen nur der Zeit und Gelegenheit zur Niederschrift: der unverschuldete Bankrott des ehrenfesten Bruders von Abbé Birotteau, des Parfümeurs, dessen legendarische Rechtschaffenheit in einem heldenhaften Kampf jeden Makel tilgen wird; die kontrastierenden Eheschicksale zweier hochadeliger Neuvermählter, Schauspiele, Schnurren, Streitschriften, philosophische Abhandlungen. »Alles ist gewachsen, der Zirkus und der Athlet. Um aller Hindernisse Herr zu werden, muß ich die französischen Soldaten der ersten italienischen Feldzüge Napoleons nachahmen, niemals vor Unmöglichkeiten zurückweichen und in einem Sieg den Mut finden, den Feind am nächsten Tag wieder zu schlagen.« »Die rohe Kraft, die Könige schwinden hin. Es gibt geistige Welten und in ihnen können sich Pizarros, Corteze, Kolumbusse finden. Es wird Herrscher im Universalreich des Gedankens geben.«

In solcher Zuversicht ging Balzac an die Lösung einer Lebensaufgabe, deren Bedeutung und Größe sich ihm erst schrittweise enthüllt hatte. Rabelais' enzyklopädiche Weltsatire hatte ihn früh mit Bewunderung erfüllt, zur Nacheiferung gelockt. Die Peau de chagrin war, wie wir aus seinem Brief an Montalembert wissen, nur als erstes Glied eines Zyklus gedacht, der nach den Individuen die Völkergemeinschaft umspannen sollte. Seine Schwester berichtet, daß er in Jugendtagen vorhatte, im Geist Walter Scotts die Sittengeschichte der Franzosen in ihren Hauptphasen zu schreiben: »Die Chouans« waren eine Probe, Catharina von Medici die Fortsetzung dieses Planes, den er aufgab, um die Sitten seiner Epoche zu malen. Der Generalnenner dieser Werke lautete »Sittenstudien«; ihre einzelnen Reihen führten die Titel »Szenen des Privatlebens«. »Szenen des Landlebens.« »Szenen des Provinzlebens.« »Szenen des Pariser Lebens.« Da kam ihm, als er 1833 den »Landarzt« veröffentlichte, der Gedanke, all diese Gestalten zu vereinigen und eine vollständige Gesellschaft aus ihnen zu bilden. Der Tag, an dem er von dieser Idee erleuchtet wurde, war ein schöner Tag für ihn. Im Sturmschritt eilt er aus seiner Behausung in der Rue Cassini in die eine halbe Stunde weit gelegene Wohnung seiner Schwester im Faubourg-Poissonnière, schwenkt beim Eintritt wie ein Regimentstambour sein spanisches Rohr, auf dessen Knopf er den Wahlspruch eines Sultans hatte gravieren lassen: »Ich breche alle Hindernisse«, macht das Bumbum der Militärmusik und den Trommelwirbel des Tambours nach und ruft triumphierend: »Salutiert mir, denn ich bin gerade auf dem Weg, ein Genie zu werden.« Dann entwickelt er ihnen sein kühnes Unternehmen, das die Hörer nicht wenig erschreckt, denn so geräumig auch sein Schädel war, wieviel Zeit und Mühe würde es kosten, diesen Plan unter Dach und Fach zu bringen. Im nächsten Jahre spricht er Eva von demselben Vorhaben:

Seine sozialen Studien, deren drei Hauptabteilungen er 1838 abzuschließen hofft, sollen ein Denkmal seiner schönen Heimatsprache werden. »Die ›Sittenstudien‹ werden alle sozialen Auswirkungen darstellen, ohne daß irgendeine Physiognomie, irgendwelcher Frauen- oder Mannescharakter, irgendeine Lebensform, irgendein Beruf oder irgendeine soziale Zone, oder irgendein französisches Gebiet noch sonst irgend etwas Kindheit, Alter, Politik, Justiz, Krieg vergessen werden soll. Ist das geschehen, die Geschichte des menschlichen Herzens in jeder Faser aufgedeckt, die soziale Geschichte in all ihren Teilen vollendet, so ist damit die Grundlage gegeben. Es werden das keine willkürlich ersonnenen Tatsachen sein, nur das, was sich allerorten ereignet. Die zweite Schicht bilden dann die Philosophischen Studien, denn nach den Wirkungen kommen die Ursachen. In den Sittenstudien werde ich die Empfindungen und ihr Spiel, das Leben und sein Getriebe gemalt haben. In den Philosophischen Studien werde ich das Warum der Empfindungen, das Weshalb des Lebens erörtern: welche Region, welches die Bedingungen sind, außerhalb deren weder die Gesellschaft noch der Mensch bestehen kann; und nachdem ich die Gesellschaft durchmustert habe, um sie zu beschreiben, werde ich sie durchmustern, um sie zu richten. So sind in den Sittenstudien die Individualitäten typisiert, in den Philosophischen Studien die Typen individualisiert. Derart werd' ich überall Leben eingehaucht haben: dem Typus, indem ich ihn individualisiere, dem Individuum, indem ich es typisiere. Ich werde dem Einzelwesen den Gedanken, dem Gedanken das Leben des Individuums verliehen haben. Dann werden nach den Wirkungen und Ursachen die analytischen Studien kommen, zu denen die Physiologie der Ehe gehört, denn nach den Ursachen und Wirkungen muß man die Prinzipien erforschen. Die Sitten sind das Schauspiel, die Ursachen die Kulissen und Maschinerien, die Prinzipien der Autor. Doch in dem Maß, als das Gesamtwerk in Spiralen zu den Gipfeln des Gedankens aufsteigt, verengert und verdichtet es sich. Wenn für die Sittenstudien 24 Bände nötig sind, erfordern die Philosophischen Studien nur 15, die Analytischen Studien bloß 9. Also werden der Mensch, die Gesellschaft, die Menschheit ohne Wiederholungen beschrieben, gerichtet, analysiert werden in einem Werk, das gleichsam die Tausendundeine Nacht des Okzidents sein wird. Wenn alles abgeschlossen, die Fassade meiner Madeleinekirche geglättet, das Giebelfeld ausgemeißelt, mein Gerüste entfernt, die letzten Feilenstriche getan sein werden, werd' ich recht oder unrecht behalten. Und nachdem ich die Poesie, die Veranschaulichung eines ganzen Systems gegeben haben werde, will ich es wissenschaftlich begründen im Versuch über die menschlichen Kräfte. Und auf dem Unterbau dieses Palastes werde ich in kindlichem Mutwillen die ungeheure Arabeske der hundert Schwänkigen Geschichten gezogen haben. Glauben Sie noch, Madame, daß ich da viel Zeit zu Füßen einer Pariserin zu verlieren habe? Das also ist die Arbeit, das der Abgrund, das das Weib, das meine Nächte raubt und meine Tage verschlingt.«

Besser und bündiger als in diesem brieflichen Erguß vom Oktober 1834 an die ferne Freundin hat sich Balzac nie wieder ausgesprochen über die Gründe der Einreihung seiner Dichtungen in die drei Hauptgruppen Sittenstudien, Philosophische Studien, Analytische Studien. Wesentlich ergänzt und nicht immer vorteilhaft erweitert wurde dieses Programm gleich darauf durch zwei, viele Druckbogen starke »Introduktionen« zu neuen Gesamtausgaben der Sittenstudien und Philosophischen Studien. Als Verfasser dieser Einleitungen zeichnete ein junger Romanschriftsteller, der Autor des »Crapaud«, ein von Buchhändlern als Bearbeiter fremder Manuskripte u. a. der von Balzacs Verleger Werdet veröffentlichten »Soirées de Louis XVIII« bestellte Felix Davin, hinter dem als Spiritus rector Balzac stand. »Sie werden leicht erraten,« so schrieb er an Eva, »daß mich die Introduktionen mindestens ebensoviel Mühe gekostet haben wie Herrn Davin, denn ich mußte ihm immer wieder die Melodie vororgeln, ihn immer wieder korrigieren, bis er endlich meine Gedanken richtig zum Ausdruck brachte.«

Davin will die Wurzel von Balzacs Wesen und Wirken in seinem metaphysischen Trieb sehen. Schon auf der Schulbank habe er, wie sein Vendômer Gymnasialkollege, der Fichte- und Balancheforscher Barchou de Penhoën bezeugen könne, selbständige philosophische Ideen gehegt und gepflegt, und als ihm seine Familie die Wahl eines literarischen Lebensberufes durch eine Hungerkur verleiden wollte, habe Balzac unverzagt in den Jahren 1818, 1819, 1820 in der Bibliothek des Arsenals die philosophische und medizinische Literatur des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit gründlich durchforscht, um ein wissenschaftliches Werk vorzubereiten, das auf neuen Wegen zu neuen Zielen führen sollte. Von diesem Vorhaben durch arge Not abgedrängt, sei er zu Brotarbeiten gezwungen worden, die für die Kritik so wenig in Betracht kämen, wie für Louis Robert oder Delacroix ihre ersten kindlichen Zeichenversuche. Als er endlich unter vollem Namen mit einer Reihe von Dichtungen hervortrat, habe er zu seiner Überraschung gemerkt, daß er instinktiv an einem analytischen Werk schaffe, dessen Synthese er längst vorweggenommen habe durch sein philosophisches Denken. So seien seine Sittenstudien aus dem Nährboden seiner wissenschaftlichen Grundansichten erwachsen: er zeige die Auswirkungen gesellschaftlicher Ursachen gleichsam in einer Gemäldegalerie, deren sechs Hauptsäle Szenen des Privat-, des Provinz-, des Pariser, des politischen, des Soldaten- und des Landlebens vor Augen stellen. Jedem dieser Zyklen wird von Davin oder von seinem Souffleur Balzac eine besondere Nebenbedeutung gegeben: die »Scènes de la vie privée« malen Bilder schwärmerischer Frühzeit der Zwanziger, die »Scènes de la vie de province« Schicksale einer höheren Altersstufe, der dreißiger Jahre, in denen Berechnung an Stelle jugendlicher Hochherzigkeit trete. Die »Scènes de la vie parisienne« zeigen – nur im Rahmen einer Weltstadt vollkommen begreifliche – Katastrophen in der Phase des Klimakteriums, in der Krankheiten nicht weniger als die Körper die Gemüter heimsuchen. Aus dieser grundverdorbenen, weil (!) eminent zivilisierten Gesellschaft sollen die Szenen des politischen und militärischen Lebens zu furchtbaren Zusammenstößen der Massen in Frankreich und Europa führen. Ihren Kontrast bilden die »Scènes de la vie de campagne«, in denen durch Krieg, politische und Lebensstürme aller Art niedergebrochene Menschen ihr Dasein in ländlicher Abgeschiedenheit beschließen.

Davins Gliederung der Szenen des Privat-, Provinz- und Pariser Lebens nach Altersklassen ist eine müßige Spielerei; sie widerspricht dem Inhalt der meisten Geschichten, und Balzac selbst hat vor und nach dem Jahre 1834 viele seiner Novellen und Romane bald der einen, bald der anderen Reihe seiner Sittenstudien zugeteilt. Belangreicher ist Davins Hinweis auf Walter Scott als Vorbild der »Études des moeurs«. Was der Schotte für die Vergangenheit seiner Heimat, wolle Balzac für das zeitgenössische Frankreich leisten. Seine Aufgabe sei jedoch weit schwieriger. Scott hatte es mit geschichtlich abgeschlossenen Epochen, scharf geschiedenen Kasten, Sekten zu tun, Balzac müsse eine gärende Gegenwart behandeln, in der alle Schichten der Gesellschaft die früheren Standesunterschiede verschwinden lassen wollen. Scott habe nie daran gedacht, wie Balzac das unternahm, alle Einzelwerke in ein Ganzes zu verflechten und damit ein Speculum mundi aufzurichten. Ebenso fern sei es Scott gelegen, dem tieferen Sinn der von ihm berichteten Ereignisse nachzuspüren: Balzacs philosophische Studien würden dagegen die Ursachen der sozialen Zustände aufdecken und auf die Frage stoßen, ob und wie weit Rousseau recht hat mit seinem Satz: »L'homme qui pense, est un animal dépravé.« In dieser Untersuchung wandelt Davin, ohne diesen Vorgänger mit gebührendem Nachdruck zu nennen, auf den Bahnen von Philarète Chasles, der in der Würdigung des Chagrinleders und der anderen philosophischen Erzählungen als der Weisheit letzten Schluß Balzacs die pessimistische, weltschmerzlerische Meinung ansieht, daß die stärkste Ursache der Zersetzung der Gesellschaft und der Zerfahrenheit der Individuen die maß- und hemmungslose »Analyse« sei. Im Denkfluch, dessen verhängnisvolle Folge die Ideenwelt der Werke Byrons und Godwins beherrsche, erblickt Balzac – nach Chasles – den Urgrund des verheerten und zerstörten Geistes- und Gemütslebens der heutigen Menschheit. Und dennoch bekenne er sich nicht unbedingt zu Rousseaus Wort: daß der Mensch, der denkt, ein Entarteter sei. Nicht völlige Finsternis läßt er über die Wüste des Egoismus und Individualismus hereinbrechen; da und dort, zumal in der Legende »Jesus Christus in Flandern«, blitzen flüchtige Lichtstrahlen auf – ein Hoffnungsschimmer der Liebe und des Glaubens, der Davin ermutigte zu fragen, ob Balzac damit den Weg aus allem Erdenleid weisen wollte? Sichtlich bewegt antwortete der Dichter: das sei in der Tat seine Absicht. Wenn einmal seine Kathedrale vollendet dastehen werde, mögen an der Außenseite die menschlichen Leidenschaften in phantastischen Menschen- und fratzenhaften Tiergestalten sich drängen, indessen im Innern das Altarbild in hehrer Schönheit erglänzen werde.

Einzelheiten dieser in den Hauptzügen von Balzac gebilligten und herrührenden Introduktion zu rühmen oder zu rügen, wäre vorzeitig, da der Dichter 1834 kaum den vierten Teil seiner Lebensarbeit überschaute und acht Jahre hernach, als er die von Davin sogenannte »Trilogie« der Sitten-, Philosophischen und Analytischen Studien unter dem Gesamtnamen der Comédie humaine zusammenfaßte, in einem stoff- und gedankenreichen Vorwort, einem echten Künstlermanifest, viel tiefer eindringende Rechenschaft über seine Endabsichten gab. Was Balzac indessen bereits 1829 bis 1834 seit der Veröffentlichung der Chouans und der ersten Szenen aus dem Privatleben bis zur »Recherche de 1'absolu« und dem »Père Goriot« zuwege gebracht, war nach Gehalt und Gestalt so bedeutend, daß ihn Davin mit Recht preisen durfte als Frauenmaler, Landschafter, Kenner der verschiedensten Spielarten der Franzosen seiner Tage, als kraftvollen, zähen, von keinem Modedogma beirrten Vorkämpfer lebenstreuer Wiedergabe der Wirklichkeit, als Genie der Intuition. Als kühn vordringender Eroberer hatte er dem Roman neue Gebiete erschlossen, und in der Vollkraft des Mannesalters rüstete er zu weiterem Vordringen in ein Phantasiereich, dem er keine Grenzen setzte. So konnte, da Balzac 1834 sein letztes Wort noch lange nicht gesprochen hatte, erst der Ausgang lehren, ob er, wie Philipp von Mazedonien, die Erfüllung seiner Wünsche einem glücklicheren Nachfolger anheimstellen oder, wie Alexander der Große, die kaum errungene Vormacht einer Schar von Diadochen zur Teilung hinterlassen würde.


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