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IV.
Freundinnen

Nirgends weckten Balzacs Erstlinge stärkeren Widerhall als in der Frauenwelt seiner Zeit; er hatte sich in den Bildnissen der Modepuppe Foedora, der jungfräulichen, grenzenlos opferfähigen Pauline, der fessellos sinnlichen Kurtisanen Marie de Verneuil und Aquilina als geborener Frauenmaler erwiesen; in der »Ehestands-Physiologie« als unerschrockener Naturforscher moderner fauler Ehen durch Übertreibungen zum Widerspruch gereizt und in einer ununterbrochenen Folge neuer Geschichten, zumal in der »Femme de trente ans«, bisher vernachlässigte Romanheldinnen mit ihrer »zweiten und dritten Jugend« zu besonderen Ehren gebracht. So war es nicht erstaunlich, daß mehr als eine Dame den Mann, dessen Schriften sie so lebhaft beschäftigten, persönlich kennenlernen wollte. Und wiewohl seine geselligen Gaben noch nicht zu solcher Höhe gediehen waren, daß er wie späterhin (nach dem Zeugnis von Théophile Gautier) die berühmtesten Gesprächskünstler seiner Tage verdunkelte, machte sich seine Kraftnatur bald in jedem Kreise geltend. 1828 führte ihn Madame de Berny oder der um den Nachlaß André Cheniers und die Lehrjahre der George Sand verdiente H. de Latouche bei Sophie Gay ein: im Vergleich mit den im Haus dieser Schriftstellerin verkehrenden Berühmtheiten dazumal ein Niemand, gab er sich in seinem abgetragenen Anzug nichts weniger als weltläufig; doch währte es nicht lange, bis er seine Befangenheit ablegte und die Aufmerksamkeit von Gästen auf sich lenkte, die Menschen nicht bloß nach ihren Kleidern und Umgangsformen beurteilen. So gewann er die Sympathien der Herzogin von Abrantès, die Balzac nach der Veröffentlichung der Chouans bei Madame Récamier vorstellte: er war durch die Auszeichnung, von der Freundin Chateaubriands empfangen zu werden, dermaßen verklärt, daß Augenzeugen dieses Besuches, der Dichter Ballanche und der Literarhistoriker Ampère, gerührt durch den Ausdruck seiner kindlichen Freude, den Auftritt dauernd im Gedächtnis behielten. Noch stärkere, in der Comédie humaine tiefhaftende Spuren zurücklassende Eindrücke hatte Balzac der Herzogin und ihren unerschöpflichen Erinnerungen an ihre märchenhaft bewegten Schicksale zu danken. Auch die Abrantès hätte von den Wechselfällen ihres Lebens, wie Napoleon in St. Helena von dem seinigen, sagen können: »Quel roman que ma vie!« Sie rühmte sich, aus dem byzantinischen Kaisergeschlecht der Komnenen zu stammen. In Korsika geboren, war sie mit der Familie Bonaparte von Kind auf verbunden. Ihre Mutter soll Napoleons Hand, als der in jungen Jahren die Verwitwete heiraten wollte, ausgeschlagen haben. Trotzdem blieb er den korsischen Landsleuten dauernd zugetan. Als freigebiger Gönner sorgte er für die Vermählung der Haustochter mit Junot, der es zum Marschall, zum Sieger und Herzog von Abrantès und beinahe zum König von Portugal brachte; vorübergehende Trübungen der Beziehungen Junots und Napoleons taten der Stellung der Herzogin, die zeitweilig in der Hofgesellschaft eine außerordentliche Rolle spielte, keinen Eintrag. Die Untreue ihres Gatten ließ die Herzogin anderwärts Trost suchen: der damalige Botschafter Österreichs in Paris, Metternich, erfreute sich jeder Gunst der Herzogin, und er soll nicht der einzige gewesen sein, mit dem sie vor und nach dem Tode Junots kürzere oder längere Romane durchlebte. Balzac war zu Beginn seiner Bekanntschaft mit der Herzogin wie berauscht, einer Frau nahezukommen, die Napoleon in allen Stufenjahren seines Aufstiegs, im Hauskleid und im Strahlenglanz kaiserlicher Herrlichkeit gesehen hatte: der Gebieter einer Welt hatte die Abrantès wie eine Blutsverwandte vertraulich auf die Stirne geküßt, als kühne Gefährtin der kriegerischen und diplomatischen Feldzüge eines seiner hervorragenden Heerführer wiederholt mit Lob bedacht. Glaubwürdig wußte sie Begebenheiten und Charakterzüge zu berichten, die sonst nirgends aufbehalten worden wären, und nicht minder gut als den Kaiser hatte sie seine Familie, seinen Hofstaat, seine getreuen und falschen Anhänger, die frischgebackenen Barone, Grafen, Herzöge des Kaisertums und die scheinbar bekehrten, aus Ehrgeiz oder Habgier Napoleons Gnadensonne suchenden Royalisten beobachten können. Auch nach der Restauration der Bourbons wurden in ihrem Hause (wie man das einmal vom Salon der Staël gesagt hat) Parteigänger aller feindlichen Lager gleich rücksichtsvoll, wie nach der Schlacht die Verwundeten in einem Feldspital, aufgenommen und behandelt. Wie sie nicht müde wurde, von manchen Dingen, die kein anderer gesehen und gehört, Balzac zu erzählen, wurde er nicht müde, aus dem Quell dieser Erinnerungen Motive zu schöpfen: unumwunden hat er das für den Roman »Une ténébreuse affaire« zugegeben; von ihr erfuhr er Näheres über diesen rätselvollen Anschlag Fouchés, am hellichten Tage einen Senator durch gedungene Vermummte entführen und wochenlang in einem allen Häschern und Gerichten unerreichbaren Versteck gefangenhalten zu lassen. So reiche Frucht dieser bald über bloße Freundschaft mit der Herzogin hinausgreifende Bund Balzac aber auch trug, unbedankt blieb sie nicht; er widmete der Abrantès seine Novelle »La femme abandonnée«; er beriet auch die stets in Schulden steckende, verschwenderische Herzogin in ihren schriftstellerischen Versuchen und verhalf ihr für ihre stoffreichen achtzehnbändigen Denkwürdigkeiten zu einem ausgiebig zahlenden Verleger. Seine Schuld war es nicht, daß die niemals Rechnende diese 70 000 Franken vergeudete. Sie machte großes Haus und fühlte sich am wohlsten mit ihren Gästen in späten Nachtstunden, weil sie da weder Gläubiger noch Gerichtsvollzieher zu fürchten hatte. Sinnlos schaffte sie Putz und Tand aller Art an; mit ihrem in Geldsachen wennmöglich noch leichtfertigeren Sohne verpraßte sie höfische Pensionen und Schriftsteller-Honorare, bis sie zuletzt in bitterste Not geriet und, in ein Armenquartier verschlagen, von ihrem Sterbebett mit ansehen mußte, wie ihre letzten Habseligkeiten gepfändet und fortgetragen wurden.

Lange zuvor hatte Madame de Berny nicht allein wegen der tollen Mißwirtschaft der Herzogin Honoré vor ihr gewarnt. Die Treueste der Treuen hatte sich im Vorhinein darein ergeben, daß Balzac der Liebe jüngerer Frauen teilhaftig werden solle, ja müsse; sie klagte deshalb nicht, daß er sich der übrigens gleichfalls in höheren Semestern stehenden Abrantès zugewendet: eines der wenigen erhaltenen Brieffragmente der Berny verargt ihm nur, daß er ihr nicht, wie beide das vereinbart hatten, Einblick in seine ganze Korrespondenz und demzufolge auch in den Briefwechsel mit der Herzogin gewähre. Unverhohlen wirft sie ihm vor, daß er aus Eitelkeit von der Herzogin, hinter deren politischen Umtrieben sichtbar und unsichtbar ihr alter Liebhaber und Lehrmeister Metternich stehe, zum Parteigänger falscher Prinzipien sich bekehren lasse. Die Rückhaltlosigkeit dieser Warnung gereicht Madame de Berny zu gleichem Verdienst, wie Balzac die unwandelbare Ergebenheit, mit der er diese wie jede andere den Menschen und Schriftsteller treffende Rüge seiner mütterlichen Freundin hinnahm, die ihm einmal »eine Myriade von Launen« vorhielt. Er wußte, daß es auf Erden keine Seele besser mit ihm meine als die Berny, und er sollte in einer harten Leidensschule lernen, wie richtig sie seine Verblendung und die Beweggründe vieler sich an ihn herandrängenden Aristokratinnen beurteilt hatte. Unter den Dutzenden von Frauenbriefen, die Balzac durch Glossen zu seiner Ehestandsphilosophie bewiesen, wie eifrig er gelesen wurde, war auch ein nicht voll unterzeichneter von der sich nach seiner Gegenäußerung rasch demaskierenden Marquise de Castries.

Einem der ältesten, mit den Stuarts verschwägerten Adelsgeschlechter entsprossen, war die Marquise in ihrer Ehe so unbefriedigt gewesen, daß sie mit einem Sohn Metternichs, dem der Pariser Botschaft als Attaché zugeteilten Prinzen Victor Metternich, ein Liebesverhältnis einging, dem ein nachmals den Namen Baron Roger Aldenburg führender Sohn entstammte. Vergebens war ihr Gatte bereit gewesen, den Knaben als rechtbürtig anzuerkennen; die Marquise beharrte darauf, vor aller Welt den wirklichen Vater ihres Kindes zu nennen. Prinz Victor erlag frühzeitig einem Brustleiden, und die Marquise, späterhin Herzogin de Castries, stürzte auf einer Jagd vom Pferd; dabei verletzte sie ihre Rückenwirbel so schwer, daß sie sich fortan kaum bewegen und, nach Philarète Chasles' Wort »ein eleganter Kadaver«, ihre Bekannten nur auf einem Ruhebett ausgestreckt empfangen konnte. Dem Reiz ihrer durch ihr Leiden noch gehobenen Erscheinung kam ihre geistige Beweglichkeit gleich, so daß Musset und Sainte-Beuve ihrem Verlangen nach persönlichem Gedankenaustausch ebenso willig entgegenkamen wie Balzac, der sich leidenschaftlich in sie verliebte. Der Uhrmachersohn Rousseau bekannte, daß seine besondere Vorliebe Damen in seidenen Unterröcken gehöre; der Bauern-Enkel Balzac fühlte nicht anders; seine Bildnisse von Gräfinnen, Herzoginnen, Prinzessinnen, die Marquise d'Espard, die Vicomtesse de Beauséant, die Princesse de Cadignan und viele andere hochgeborene Damen der Comédie humaine geben Zeugnis für die Sorgfalt, mit der er die aparte Haltung, die ausgesuchte Eleganz der Kleidung, alle Besonderheiten des Wesens und Behabens dieser Größen der vornehmen Welt studiert hat. Der Glanz ihrer Lebensführung imponierte dem für die Kunstschätze ihrer Paläste Begeisterten, und für ihre von Kind auf gepflegten, höflichen und überhöflichen Manieren war Balzac nach seinem bisherigen Verkehr mit Kleinbürgern, Händlern, Bohemiens doppelt empfänglich. Tagtäglich sprach er bei der Castries vor, die sich stundenlang von diesem seltenen Gesellschafter unterhalten ließ; ihr Oheim, ein Legitimistenführer, der Herzog von Fitz-James, wollte Balzac, wie das auch Berryer tat, publizistisch und als Abgeordneten für die royalistische Partei gewinnen. Balzac wurde auch wirklich Mitarbeiter des konservativen »Renovateur« und hielt Umschau nach einem Sitz im Parlament: seine Versuche, in der Vendée und in Angoulême zu kandidieren, hatten aber keinen Erfolg. In verzeihlicher Torheit wollte er sich auch in Äußerlichkeiten dem Faubourg Saint-Germain anpassen: er hielt einen Groom, kutschierte, nicht immer sicher, einen mit dem Wappen der Balzac d'Entragues geschmückten Tilbury, ließ sich – obwohl vom großen Kenner und Schöpfer der Mode, Gavarni, lustig als Zerrbild jeder Eleganz verhöhnt – vom ersten Modeschneider Buisson einen hechtblauen Frack mit goldenen Knöpfen, vom berühmtesten Pariser Juwelier Froment Meurice einen sagenumsponnenen, mit einem edelsteinstrotzenden Knopf gekrönten Spazierstock anfertigen, mit dem er in der Oper in der Loge der Modelöwen paradierte.

Wiederum warnte Madame Berny weise, nur wiederum vergeblich: die Castries und ihre Verwandten würden ihn noch egoistischer ausnutzen, und diesmal sei die Sache ernster: »Unglücklicherweise ist Deine Eitelkeit beständig wach, und sie beeinflußt Dich um so stärker, weil Du ihre Stärke nicht kennst. Nicht eine Person dieser Kreise würde Dir 3-4000 Taler geben, wenn Du die benötigst. Diese Damen sind immer undankbar aus Prinzip, sie haben alle Fehler der Selbstsucht, alle Schlauheit und Verschlagenheit der Schwäche, eine Geringschätzung, die bis zur Verachtung geht, für alle, die anderen Blutes sind als sie. Trau ihnen nicht. Wie wirst Du Deine Seele rein erhalten inmitten so vieler Verderbtheit?« Honoré möge nicht auf ihr erstes Wort sklavisch ihrem Willen gefügig sein. Die Versicherung, die er der Berny gab, seine Ziele – er träumte von der Pairie und Ministerposten – nur als Mitglied der Kammer erreichen zu wollen, beruhigte sie ein wenig. Nie wird er wissen, bis zu welchem Grad sie ihren Stolz auf ihn gesetzt hat. Was sie sei, habe sie ihm zu danken. Sie war nur ein entwicklungsfähiger Keim, bis er sie mit seinen Strahlen belebte. Er gab ihr tausend vorher ungeahnte Genüsse, er lehrte sie fühlen, sehen; »jeden Abend ist der prachtvolle Sonnenuntergang, auf den sie aus ihrem Fenster blickt, ein Schauspiel, dessen ganze Schönheit zu fassen sie ihm zu danken hat«. Kein schärferer Gegensatz zu diesem Liebeserguß der Berny läßt sich denken, als die Frivolität, mit der die Castries den Dichter an ihren Triumphwagen spannte. Von Geld- und Schreibschulden gehetzt, fuhr er auf ihren Lockruf nach Aix-les-bains: er stürzt unterwegs von der Imperiale des Postwagens und kommt deshalb halb lahm in das savoyische Modebad. Trotz seiner Verwundung und obwohl er die halben Nächte und in mühsamen Tagewerken an seinem Roman »Der Land-Arzt« schaffen muß, verkürzt er der Herzogin von der Dämmerstunde bis nach Mitternacht die Langeweile durch die Feuerwerke seines Gespräches. Wagt er sich aber mit Erklärungen seiner Gefühle vor, dann hält sie Honoré hin. Gefallsüchtig muntert sie ihn eine Weile mit Neckereien auf, andere Male narrt sie ihn, und als er deutlicher wird, fertigt sie ihn so schnöde ab, daß ihm diese Kränkung jahrelang nachzitterndes Herzweh bereitete. Balzac hat an der Herzogin Künstlerrache genommen: in der Duchesse de Langeais, einer Novelle, die er verwegen der Castries vorlas, hat er streng wahrhaftig der Falschheit dieser modernen Celimene den Spiegel vorgehalten.

Zum Glück schenkte ihm das Geschick auch andersgesinnte Freundinnen, die zeitlebens treu an ihm festhielten: vor allem eine Jugendbekannte seiner Schwester, Zulma Tourangin, die den Artillerieoffizier Carraud heiratete. In der polytechnischen Schule war Hauptmann Carraud Studiengenosse von Balzacs Schwager, dem Ingenieur Surville, gewesen; später wurde Carraud Direktor der Militärschule von Saint-Cyr, und nach der Julirevolution, obwohl republikanisch gesinnt, durch Umtriebe als Legitimist verleumdet, als Leiter der Pulverfabrik nach Angoulême versetzt; die Carrauds besaßen dann auch ein Anwesen, Frapesle bei Issoudun. In jeder dieser Wohnstätten gewährte das Ehepaar Balzac Gastfreundschaft, wie sie kein Künstler bequemer wünschen kann. Er war willkommen, wann immer und solange er das wollte; ungestört durch irgendwelche Ansprüche seiner Wirte durfte Balzac dort, allen Gläubigern und Häschern entrückt, seinen Schöpfungen leben. Zulma, ein anmutiges Geschöpf, das durch leichtes Hinken nicht entstellt wurde, begegnete dem Dichter in frohen und schweren Stunden mit gleicher Güte. Als der Überanstrengte während der Arbeit an »Louis Lambert« zusammenbrach und in Besorgnis vor einem Ausbruch von Geisteskrankheit von der Lieblosigkeit sprach, mit der man Irrsinnige ihrem Schicksal überlasse, sagte Zulma: »Wenn Sie krank werden sollten, würde ich Sie pflegen.« Balzac hat das Wort nie vergessen. Als er, vom Tod gezeichnet, am Ende seiner Tage aus Rußland heimkehren und mit seiner Gattin sein Hotel in der Rue Beaujon beziehen sollte, schrieb er Zulma: für sie stände jederzeit ihr eigenes Gemach in seinem Haus bereit. Er war ihr nicht allein für Gastlichkeit und für ihre Hilfsbereitschaft als barmherzige Schwester verpflichtet: er zog Zulma vertraulich wiederholt für Heiratspläne zu Rate; freimütig rühmte und tadelte Zulma Carraud, ganz wie Madame Berny, Balzacs Arbeiten; als gute Republikanerin mißbilligte sie seine politischen An- und Absichten, und er schätzte ihre Ehrlichkeit und Klugheit so hoch, daß er ihre scharfen Zensuren seiner politischen und literarischen Irrungen nicht nur ohne Widerspruch hinnahm, sondern, im Vertrauen auf ihren sicheren Geschmack und Takt, Zulma häufig die Korrekturen seiner Fahnen und die Beantwortung verfänglicher, an ihn gerichteter Frauenbriefe überließ.

In schwärmerischer Bewunderung war ihm seit ihren Mädchentagen bis an ihr Lebensende die mit Emile de Girardin verheiratete Tochter von Sophie Gay, Delphine v. Girardin, zugetan, die als lyrische Dichterin, Erzählerin, Feuilletonistin, von der Rachel vielgespielte Dramatikerin verdiente Siege errang. Mit der Humoreske »La canne de Mr. de Balzac« brachte sie dem von ihr höchstgehaltenen Romancier eine liebenswürdige Huldigung dar, indem sie seinem Spazierstock die Zauberkraft vom Ring des Gyges und dem Friedhofszweig von Robert dem Teufel, dem Besitzer des magischen Stabes, Balzac, damit aber die Gabe der Allwissenheit und Allgegenwart zusprach. Mit der Höflichkeit des Herzens suchte sie, solange und soweit das nur anging, beschwichtigend zu versöhnen, wenn ihr Mann als brutaler Zeitungsgewaltiger Balzacs gerechten Unwillen erregte. Sie gab sich in ihrer satirischen Komödie »Die Schule des Journalisten« unverkennbar als Nachahmerin von Balzacs Typen der Pariser Zeitungsleute in der Peau de chagrin und den Illusions perdues, und sie fühlte sich, wie die Staël, nie voller in ihrem Element, als wenn sie die bedeutendsten Geister von Paris, Staatsmänner, Dichter, Künstler in ihrem Salon versammeln und das Stichwort bringen konnte zu einem Wettkampf des Witzes und Verstandes, der schwerlich in den Bureaux d'esprit des 18., geschweige den Preziösen des 17. Jahrhunderts seinesgleichen hatte. Victor Hugo, Lamartine, Sue, der ältere Dumas, Gautier, übersprudelten in Eingebungen des Augenblicks, die mancher ihrer lang ausgefeilten, für die Öffentlichkeit bestimmten Schöpfungen ebenbürtig waren: sie alle schlug Balzac als Improvisator und ganze Szenen mimender Tausendkünstler: der größte Romanschreiber Frankreichs wäre sein größter Schauspieler geworden, wenn er sich der Bühne zugewendet hätte – das behauptet wenigstens Gautier. Manchen Nachhall dieser Unterhaltungen im Kreise Delphine de Girardins vernehmen wir in den Zungengefechten und paradoxen Tischreden der Canalis, Blondet, Lousteau, Finot, Bixiou, Rastignac, Rubempré, der Sophisten und Bohemiens der Comédie humaine, deren leibhaftige Urbilder Schlüsselkundige längst erkannt und mit ihren deckenden Namen Lamartine, Jules Janin, Gustave Planche, Henri Monnier usw. belegt haben.

Zeitlebens andauernde Kameradschaft verknüpfte seit der Veröffentlichung seiner Erstlinge Balzac mit George Sand. Sie hatte sich durch Art und Kunst des Neulings dermaßen angesprochen gefühlt, daß sie ihn zu sich bat. Mit seinem dicken Bäuchlein stieg er zur Künstlerklause, die die aufstrebende, dazumal Männertracht tragende Schriftstellerin in einem fünften Stockwerk am Quai Saint-Michel innehatte. Schnaufend und ohne Atem zu schöpfen erzählte er, wie die George Sand in der »Histoire de ma vie« berichtet, unversieglich, am meisten von sich und seinen Plänen. Nur einmal pries er ihr Rabelais, den sie noch nicht kannte. Die Widersprüche seines Wesens beirrten sie wenig. Nach dem Erfolg der Peau de chagrin wollte er sein Quartier in der entlegenen Rue Cassini bei der Sternwarte verlassen, zog dann aber vor, seine dortigen Zimmer mit kostbaren Teppichen zu schmücken und in Marquisinnen-Boudoirs umzuwandeln. So luxuriöse Anwandlungen waren ihm Lebensbedürfnis: er versagte sich lieber Kaffee und Suppe als Silbergeräte und chinesisches Porzellan. Kindlich und kraftvoll, immer nach irgendeinem Tand lüstern, nie neidisch auf fremden Ruhm, aufrichtig bis zur Überbescheidenheit, dann wieder prahlerisch bis zur Großmäuligkeit, vertrauensselig gegen sich und andere, sehr gut und sehr verrückt, mit einem Heiligtum innerer Vernunft, in das er sich zurückzog, um sein Werk zu bemeistern, zynisch in der Keuschheit, vollberauscht, obwohl nur ein Wassertrinker, maßlos in der Arbeit und nüchtern in anderen Leidenschaften, positiv und romanesk in gleicher Übertreibung, leichtgläubig und skeptisch, voll Heimlichkeiten und Gegensätzen, so war Balzac, nach der Charakteristik der Sand, schon als junger Mann, unerklärlich für so manche durch das beharrliche Studium seiner eigenen Natur, die nicht allen so interessant schien, als sie das in Wirklichkeit war. Zu jener Zeit leugneten viele berufene Richter sein Genie oder glaubten es nicht zu so mächtiger Entfaltung berufen. Seine Selbstsicherheit focht das nicht an: er ging seinen eigenen Weg und trieb es auch im Alltagsleben wunderlich auf seine eigene Weise. Einmal lud er die Sand mit anderen zu Tisch: es gab nichts als Rindfleisch, Melonen, Champagner. Dann begleitete er die Gäste mit brennender Kerze bis zum Gitter des Luxemburg-Gartens. Trotz der Finsternis und Einsamkeit hatte er keine Angst: »Wenn mich Räuber oder Diebe auf dem Heimweg anfallen, werden sie mich für einen Narren ansehen und sich fürchten oder für einen Fürsten halten und davonlaufen.« Das Übermaß seiner tollen Launen ergoß er über die anderen, seine tiefe Weisheit behielt er dagegen für sich und sein eigenes Werk. Schon im Anbeginn der Laufbahn beider Genies brachten sie ihre grundverschiedenen Lebens- und Kunstabsichten zur Sprache. »Sie suchen den Menschen, wie er sein sollte,« sagte er der George Sand; »ich nehm' ihn, wie er ist. Wir haben beide recht. Beide Wege führen zum gleichen Ziel. Ich liebe gleichfalls die Ausnahmsgeschöpfe. Ich bin selbst eines, und ich bedarf ihrer, um meine gemeinen Kreaturen von ihnen abzuheben. Aber mich interessieren diese vulgären Geschöpfe mehr als Sie. Ich vergrößere, ich idealisiere sie in ihrer Dummheit und Häßlichkeit. Ich gebe ihren Auswüchsen erschreckende oder groteske Verhältnisse. Das könnten Sie nicht. Und Sie tun gut daran, Dinge und Wesen nicht ansehen zu wollen, die Sie wie ein Alp bedrücken würden. Idealisieren Sie die Hübschen und Schönen, das ist Frauenarbeit.« Sie nahm Balzac seine Offenheit nicht übel. Nur einen einzigen Zusammenstoß hatten die beiden, als ihr Balzac Musterstücke seiner »Contes drolatiques« trotz ihres Einspruches gegen diese gepfefferten Ausgelassenheiten vorlesen wollte: sie bezichtete ihn grober Schamlosigkeit und warf ihm das Buch fast ins Gesicht. Er schalt sie deshalb prüde und rief ihr beim Fortgehen auf der Stiege zu: »Sie sind blöde (une bête.)« Das Zorngewitter reinigte nur die Atmosphäre, Balzac besprach den ersten bedeutenden Roman der Sand in einer denkwürdigen Meisteranzeige, die beiden kamen sich jetzt erst recht nahe: so gutmütig und naiv war nach der Erklärung der Sand Balzac. Sie selbst aber, die Heine den ersten Dichter Frankreichs nannte, war so neidlos, daß sie, wie hernach Flaubert gegenüber, unbekümmert um die Grundverschiedenheit ihrer Kunstübung und Weltansicht, über seine Leistungen gerecht abschließende Urteile fällte. Sie folgte liebreich allen Phasen seines Schaffens und bekannte in ihren Denkwürdigkeiten, wieviel sie für ihr weiteres Wirken von Balzac als wegweisendem Muster gelernt hat, von diesem »Meister ohnegleichen in der Kunst, die moderne Gesellschaft und die Menschheit der Gegenwart zu malen – maître sans égal en l'art de peindre la société moderne et l'humanité actuelle«. Und Balzac, der sie mit ihrer Zustimmung in Hauptzügen lebenstreu als Camille Maupin in »Béatrix« auftreten ließ, ist in der Vertraulichkeit brieflicher Bekenntnisse dritten gegenüber ein unbefangener Richter ihrer künstlerischen Schwächen und Vorzüge; er nimmt vielfach Anstoß an verfehlten Tendenzen und unmöglichen Ausgängen ihrer Liebes- und sozialen Romane. Den »Teufelssumpf« und »Jeanne« rühmt er dagegen rundweg als Meisterwerke und ihren den seinigen weit übertreffenden mustergültigen Stil anerkennt er als Wundergabe der Natur.

Diesen namhaften Freundinnen gesellten sich im Lauf der Jahre immer mehr, sonst wenig oder gar nicht bekannte Verehrerinnen, deren Beichten, Anliegen, Beschwerden 1924 die »Cahiers balzaciens« als nicht uninteressante Zeiturkunden in Proben ausgehoben haben. Größere Genugtuung gewährte dem durch unbedingte Anerkennung zunächst wenig Verwöhnten ein seiner Schwester berichtetes Erlebnis in dem von Berühmtheiten aus aller Herren Länder vielbesuchten Salon Gérards; dort war Balzac ein stets willkommener Gast, der bei diesem Maler Größen aller Gebiete menschlichen Wissens und Schaffens, obenan Cuvier, Humboldt, Rossini, Thiers, traf. Als er nach längerer Abwesenheit wieder einmal vorsprach, sagte ihm der Hausherr, er sei seit Wochen sehr vermißt worden: drei deutsche Familien aus Wien, Frankfurt, Hamburg seien immer gekommen, nur um den in ihrer Heimat eifrig gelesenen Autor des Chagrinleders kennenzulernen; wenn er so fortfahre, werde er bald an der Spitze des literarischen Europas stehen. Ein Vorbote des Weltruhms, den Balzacs besonderer Verehrer Rossini gelegentlich lustig exemplifizierte, als ihn der Romancier um ein Autogramm für russische Freunde anging; der mit solchen Blättchen sparsame Tondichter willfahrte und versah die Sendung mit der wortkargen Adresse »Mr. de Balzac, Europa«: eine Zuschrift, die von der Post pünktlich bestellt wurde. Beflissen zog auch James Rothschild den vielgenannten Dichter in sein Haus, seit er dessen Bekanntschaft in Aix gemacht, und der österreichische Botschafter, Graf Apponyi, ließ sich angelegen sein, Balzac zu seinen großen Empfängen und kleinen Diners zu laden. Immer dringender umwarben auch Verleger und Zeitschriften den in die Mode gekommenen Autor: allein bei der damaligen unsicheren Lage des Buchhandels war ihre Zahlungsfähigkeit vielfach fragwürdig, so daß Balzac mit den meisten in ärgerliche Händel und zeitraubende Prozesse verwickelt wurde. Das stärkste Interesse an seinen Erfolgen nahmen aber die Wucherer, die ihm mit Wechselklagen zusetzten; die alten Rückstände des verunglückten Druckers waren durch neue Schulden, die Balzacs Passionen, den großen Herrn zu spielen, veranlaßt hatten, ansehnlich gewachsen; für kurze Gnadenfristen erpreßten ihm seine Gobsecks maßlose Zinsen; Gerichtsvollzieher spürten die verborgensten Schlupfwinkel auf, in die er flüchtete, um Pfändungen und der Schuldhaft zu entgehen. Im Fortgang seiner Lebensarbeit ließ er sich durch solche Heimsuchungen wenig stören: Zeuge dessen die künstlerischen Ernten der Jahre 1830 bis 1832.

Nur die Titel der von Balzac in diesen drei Jahren veröffentlichten Schriften füllen in Lovenjouls chronologischem Verzeichnis volle sechs enggedruckte Seiten. Wie die Felder, Wälder, Weinberge Frankreichs und seiner Kolonien jahraus, jahrein heimische und exotische Früchte bescheren, beschenkte Balzac die Leser mit grundverschiedenen Gaben seiner alte und neue Kulturen mit gleichem Glück pflegenden Schöpfernatur. Der Erzähler kennt das mittelalterliche und vorrevolutionäre, das Frankreich Napoleons und der Restauration in seinen Sitten, Zuständen, Typen durch und durch, und er wählt zu ihrer Vergegenwärtigung Farben, Formen, Töne, Sprachwendungen, die Balzac als Künstler und Geschichtskenner auf gleicher Höhe zeigen. Nur ein »catalogue raisonné«, der bisher leider fehlt, vermöchte jeder der kleineren und größeren Arbeiten Balzacs nach Verdienst gerecht zu werden: der Prüfung wert ist sein unscheinbarstes Blatt. An Mannigfaltigkeit läßt er es nicht fehlen. In das mittelalterliche Paris führt eine Dantegeschichte (»Les proscrits«); in das Tours Ludwig XI., den Balzac besser zu treffen glaubte als das Walter Scott in Quentin Durward gelang, »Maître Cornélius«; in die Feudalzeit das »Enfant maudit«, das Opfer eines herzoglichen Wüterichs, der aus Haß gegen seine zarte, zur Ehe mit ihm gezwungene Gattin seinen vermeintlich sträflicher Neigung entstammten Erstgeborenen verstößt und mit der Mutter zu Tode peinigt.

Weit stärker als diese früheren Jahrhunderte beschäftigen Balzac Menschen und Ereignisse der Zeiten seit 1789. Beim Gelage eines Krösus trifft Beaumarchais einen Provinzadvokaten und einen Arzt, die eine neue Bartholomäusnacht heraufkommen sehen, in Traumgesichten und ahnungsschweren Wechselreden den Ausbruch der Revolution vorwegnehmen; die unheimlichen Propheten führen die von Beaumarchais und den anderen Tischgästen, durchweg Leuten des ancien régime, nie zuvor vernommenen Namen Robespierre und Marat (»Les deux rêves«). Am Abend nach der Hinrichtung Ludwig XVI. läßt ein Unbekannter von einem eidverweigernden Priester in dessen sonst jedem Späher unzugänglichen Versteck eine Sühnmesse lesen; nach Jahr und Tag erkennt der Abbé in dem Fremden den Scharfrichter Sanson, der den König geköpft hat (»Un épisode sous la terreur«). Denselben Sanson stellt Balzac in den »Souvenirs d'un paria« Napoleon gegenüber; der Kaiser trifft bei einem nächtlichen Besuch der Baustelle des Temple de la gloire (der heutigen Madeleinekirche) zufällig einen seinem Fuhrwerk nachgehenden Greis, an der Stätte, an der Ludwig XVI. und Marie Antoinette verscharrt wurden. Ein Grauen faßt den Kaiser, als er dem scheuen, eines Mordanschlages gegen Napoleon verdächtigten Alten seinen Namen und seinen entsetzlichen Beruf abfragt; der Henker, der den Kaiser nicht kennt, werde, so sagt er, als das Gespräch weiter geht, seines Amtes gegen jeden anderen Herrscher wiederum walten, wenn ihm das vom Gericht befohlen würde. Leibhaftig erscheint Napoleon auch in »Vendetta«: korsische Landsleute, die Blutrache von Hof und Herd getrieben, suchen und finden seinen Schutz in Paris; nach Jahr und Tag verlieben und heiraten sich die Kinder der Erbfeinde; die Rachsucht des Vaters der jungen Frau kennt kein Erbarmen; er läßt sein eigenes Kind im Elend zugrunde gehen. Ein spanisches Gegenstück »El verdugo« zeigt eine noch unnatürlichere Verzerrung der eingebildeten Pflichten gegen die Familienehre: ein spanischer Grande köpft seinen Vater, zwei Brüder und zwei Schwestern, die sonst dem Scharfrichter durch den Spruch eines napoleonischen Kriegsgerichtes verfallen wären. Balzac hat diese Geschichte so wenig erfunden wie die vom »Colonel Chabert«. Dieser Oberst wird bei einem Reiterangriff in der Schlacht von Eylau unter die Hufe der Pferde getreten, scheintot begraben, nach namenlosen Schrecken gerettet, in Paris totgesagt, von einer nichtswürdigen Gemahlin bewußt preisgegeben, obwohl er heimkehrt und bei einem redlichen Anwalt Glauben und Beistand findet. Chabert erliegt unergründlicher menschlicher Bosheit. Anders eine Augenzeugin des Übergangs über die Beresina, Stephanie de Vaudières, die übermenschlichen Gewalten zum Opfer fällt; Balzacs Hand hat nicht gezittert, als er in »Adieu« zweimal das grausenhafte Schauspiel vor Augen führte: Stephanie verfiel angesichts des Entsetzlichen in jahrelangem Wahnsinn; ihr Anbeter versucht ein Äußerstes: er läßt vor der Irren am Ufer eines heimatlichen, gefrorenen Flüßchens noch einmal mit möglichster Treue das in Rußland geschaute Furchtbare vorbeiführen; die Unglückliche wird eine Minute lang ihrer Sinne mächtig; sie sieht sich wieder an der Beresina; sie ruft wie dazumal dem abstoßenden überlasteten Rettungsboot »Adieu!« zu und stürzt tot zusammen. Aus den Feldzügen in Deutschland und Welschland weiß Balzac gleichfalls Einziges zu erzählen: in einer Andernacher Herberge tötet und beraubt der Militärarzt Taillefer einen reichen, durchreisenden Kaufmann und lenkt den Verdacht auf den im selben Quartier mit ihm nächtigenden, nur einer Gedankensünde schuldigen Kameraden Magnan, der hingerichtet wird (»L'auberge rouge«). Und nach einer Mitteilung des Menageriebesitzers und Tierbändigers Martin hielt er das Abenteuer eines provençalischen Soldaten fest, der im ägyptischen Feldzug, von Arabern gefangen, auf seinem Fluchtversuch in der Wüste von Freund und Feind abgeschnitten in einer Grotte der Schlafgenosse eines Pantherweibchens wird, das der auf einen martervollen Ausgang Vorbereitete hilflos und ratlos allmählich durch Betasten und Streicheln seinen Liebkosungen zugänglich findet (»Une passion dans le désert«). Der oberste Kriegsherr dieser Truppen aus allen Völkerschaften und Landen erscheint aber triumphierend in der letzten Heerschau, die er vor seinem Aufbruch nach Deutschland in Paris hält, der »Femme de trente ans« (»Dernière revue de Napoléon«).

Balzac beschränkte sich nicht auf den Stoffkreis der Gegenwart und Geschichte: Phantasiestücke, in denen er sich geradezu auf englische und deutsche Vormänner berief, pflegte er mit Vorliebe. Die von Maturin geschaffene Gestalt Melmoths gefiel ihm so sehr, daß er sie in den Mittelpunkt einer frei erfundenen Geschichte »Melmoth reconcilié« stellte: ein defraudierender Kassierer tauscht, um straflos zu bleiben, seine Persönlichkeit und Seligkeit mit dem sonst der Hölle verfallenen Melmoth. Und in einer Don-Juan-Dichtung, »L'élixir de longue vie«, bekennt er, die Uridee von einem deutschen Erzähler (E. T. A. Hoffmann) übernommen zu haben. Don Juans Vater besitzt ein Leben verlängerndes Elixier; vor seinem Verscheiden vertraut er Don Juan sein Geheimnis; er legt dem Sohn ans Herz, ihn mit dem Zaubersaft zu neuem Leben zu erwecken; von vornherein entschlossen, diesen Wunsch nicht zu erfüllen, bestreicht Don Juan ein Auge des Verstorbenen nur, um die Kraft des Elixiers zu erproben; der Tote öffnet das Auge mit stummberedtem Blick, der Don Juan so wenig bewegt, daß er, vollbewußt, damit Vatermord zu begehen, dieses neuaufgelebte Auge ausschlägt. Fortan führt Don Juan ein Lotter- und Lüstlingsleben; er überbietet die aretinische Frechheit der Blasphemien seiner Parasiten und Dirnen bei Begegnungen mit Julius II., der in zügelloser Freigeisterei mit dem Gotteslästerer wetteifert. Alter und Krankheit beugen den Trotz des Balzacschen Don Juan nicht; er will nach seinem eigenen Ende wieder auferstehen. Der eigenen Niedertracht eingedenk, scheut er sich, seinem redlichen Sohn das Mysterium ganz zu enthüllen; er befiehlt ihm nur, nach seinem Ende im dunklen Gemach seinen Leichnam einzusalben; der Erbe will diesem Gebot genügen; als aber der Arm und Kopf des Kadavers jählings in Jünglingsfrische sich rühren, läßt der Sprößling Don Juans das Fläschchen entsetzt fallen; die Frommen sehen im Wiederaufleben von Don Juans Haupt ein Mirakel; die Kirche begeht die Einsegnung mit höchstem Pomp; Balzacs Don Juan, in seinem Nihilismus konsequenter als der Don Juan Tirso de Molinas, Molières und Mérimées, stößt hohnlachend die grausigsten Flüche aus; sein lebendiger Kopf löst sich vom abgestorbenen Rumpf und mit teuflischer Schadenfreude macht er dem pontifizierenden Priester den Garaus. Ein Gegenstück »Jésus Christ en Flandre« läßt die abgelebte Religion des Lippendienstes und selbstgerechter Werkheiligkeit jämmerlich versinken und die alte Kirche des Urchristentums durch schlichte, glaubensstarke Leute des gemeinen Volkes retten und verjüngen. Ein Selbstbekenntnis der eigenen Kunstübung, ein Credo gesunder Schöpferkraft und ein Warnungsruf wider krankhafte Überkünstelung ist »Le chef d'œuvre inconnu«. Ein überscharfer Kunstrichter, Frenhofer, der sich im Überarbeiten seiner Entwürfe nie genug tun kann und den tüchtigen, fertigen Meister Mabuse, der gläubig auf seine Ausstellungen hört, ebenso wie den als Lehrling beginnenden Poussin schnöde hofmeistert, verliert zuletzt die Fähigkeit, ein Ganzes zu bilden. Von dem Frauenbild, an dem er endlos malt, übermalt, weglöscht, zusetzt, gewahren die in seiner Werkstatt ringenden Maler statt der ihm vorschwebenden Mustergestalt nur einen allerdings unübertrefflich gezeichneten Fuß in einem wirren Durcheinander von Farbenflecken. Im Wahnsinn vernichtet Frenhofer zuletzt auch diese Spur seines Lebenswerkes.

An solcher künstlerischen Impotenz krankte Balzac niemals, so selbstquälerisch er auch jede Seite seiner Bücher in unablässigen Korrekturen änderte. Er kommandierte die Poesie zu jeder Stunde, schlagfertig in großen und kleinen, selbst handwerksmäßigen Aufgaben. Als Feuilletonist plauderte er von Handschuhen, Zigarren- und Champagnersorten, Theorien der Tafelfreuden, literarischen Moden: Bagatellen, die für die Sittenschilderungen späterer Hauptwerke nicht verloren waren. In gleichem Geist beschäftigte er sich mit wahlverwandten Karikaturisten, dem Soldaten- und Kinderzeichner Charlet, dem Parodisten der Philister, Henri Monnier, dem Kenner und Schöpfer der feinsten Abstufungen der Pariser Frauentrachten, Garvani. So gut dieser Zeichner, mit dem Balzac in der Zeitungsstube der »Mode« bekannt wurde, dem Dichter gefiel, so wenig sagte Balzac anfangs Gavarni zu, der den kleinen, feisten Kerl mit seinem unaufhörlichen Redefluß zuerst für einen Handlungsreisenden des Büchermarktes hielt. Keines dieser vom Tag geforderten Blätter und Blättchen ließ ihn die Sendung des Künstlers vergessen, wie er sie 1830 in drei Prachtaufsätzen der »Silhouette« verherrlicht hat: vielleicht ist das Genie eine Krankheit des Menschen, wie die Perle ein Leiden des Muscheltieres ist. Derselbe Mann, der zeitweilig keinen Pinselstrich machen, kein Tonklümpchen kneten, keine Zeile schreiben kann, wird plötzlich wie von einer glühenden Kohle berührt. Gedanken und Gestalten schießen in ihm auf. »Eine Vision, ebenso kurz wie das Leben und der Tod, tief wie ein Abgrund, erhaben wie Meeresrauschen; eine Pygmalions würdige Gruppe; ein Weib, dessen Besitz selbst Satan beseligen, eine Situation, die einen verscheidenden Hektiker hellauf lachen lassen würde; die Arbeit ruft; alle feurigen Öfen stehen in Glut; die Ekstase der Empfängnis verschleiert die kommenden Preß- und Drangwehen der Geburt. So ist der Künstler: das demütige Werkzeug eines despotischen Willens. Man hält ihn für den Freiesten der Freien, und er ist ein Sklave. Man sieht, wie er sich scheinbar dem Wirbel seiner Narrheiten und Vergnügungen überläßt, und er ist ohne Willen.«

Prophetisch hat Balzac in diesen Sätzen die Zukunft seines Loses vorausgesagt und in den allgemein gehaltenen Zügen jedes Künstlers sein Selbstporträt gegeben. Nur hat niemand, auch der Dichter selbst, dazumal nicht wissen können, daß seine Phantasie fast keine Pausen zulassen, daß unaufhörlich neue Pläne Gestaltung verlangen und verdienen würden. So verdoppelten und verdreifachten sich in den Jahren 1830 bis 1832 auch »die Szenen aus dem Privatleben«: darunter Treffer wie der »Curé de Tours«. Ein geistliches Ränkespiel, in dem der arglose Abbé Birotteau durch einen jahrelang scheinheilig, maßlose Hab- und Herrschsucht verbergenden Abbé Troubert, den Balzac einen Gregor VII. in seiner Sphäre nennt, um seine harmlosen Lebensfreuden gebracht wird. Troubert drängt Birotteau aus den von einem älteren Amtsbruder ererbten Wohnrechten, er eignet sich seinen Bilder- und Bücherbesitz an. Und da sich adelige Gönner Birotteaus als ihres ständigen Spielpartners annehmen, wird der wehrlose kleine Geistliche durch Trouberts geheime Verbindungen mit der allmächtigen Kongregation aus Amt und Würden in eine Strafpfarre und in den Tod gejagt, indessen Troubert einen Bischofssitz besteigt und triumphierend jeden Widerstand im Hochadel und im Militär, in der Bürgerschaft und in der Presse durch Einschüchterung unmöglich macht. Nach wenigen Gegenzügen Trouberts lassen alle Fürsprecher Birotteaus ihren Schützling feig fallen. Troubert ist mit ein paar Meisterstrichen ebenso sicher gezeichnet wie Gobseck, und man muß nicht, wie der Schreiber dieser Zeilen, in Birotteaus altem Quartier, in der Rue de Psallier und im Umkreis der Kathedrale von Tours sich umgesehen haben, um Balzac als Veduten- und Architekturmaler gerecht zu werden. Zu alledem gibt »Le curé de Tours« ein treues Zeitbild der politischen Zustände der Restauration, in der Frömmelei und Heuchelei das öffentliche und das Familienleben vergifteten. Den stärksten Erfolg unter den neuen »Scènes de la vie privée« hatten aber die fünf Bilder »La femme de trente ans:« die Gattin eines ebenso eleganten als oberflächlichen Reiteroffiziers, in dem manche den Gemahl der Herzogin von Abrantès erkennen wollten. Seine Nichtigkeit führt zu Ehekrisen der unverstandenen Frau, die vergebens Selbstüberwindung übt. Einer leidenschaftlichen Liebe widersteht sie nicht auf die Dauer. Ihre Schuld wird furchtbar gebüßt. Das Kind des Ehebruchs geht tragisch zugrunde. Ihre legitime Tochter rennt (in dem mißratensten, nach Balzacs schwer verständlicher Angabe durch Schillers Parricidaszene angeregten Kapitel der Femme de trente ans) mit einem Seeräuber auf und davon. Und der Lebensabend der gealterten Ehebrecherin wird verdunkelt durch die Verachtung, mit der ihre Sprößlinge sie an ihren Fehltritt erinnern. Die Frauenwelt hieß Balzac dankbar willkommen als Seelenkenner, der von den geheimsten Regungen der weiblichen Psyche mehr wisse als Beichtiger und Ärzte. Und auch nüchternere Kritiker, die mit Recht einzelne kolportagemäßige Unbegreiflichkeiten in den späteren Szenen der »Femme de trente ans« ablehnten, anerkannten, daß Balzac ein Neues und in den besten Szenen der Reihe durch außergewöhnliche Feinheit der Beobachtung und Darstellung der Wandlungen im Fühlen und Handeln seiner Heldin menschlich und künstlerisch Überzeugendes gegeben habe.

Balzac selbst lag unter den Leistungen dieser Jahre keine mehr am Herzen als »Louis Lambert«, die Lebensgeschichte eines genialen Jünglings, der geistig den Größten, einem Pascal, Laplace, Lavoisier ebenbürtig, seit seiner Frühzeit berufen erscheint, der Welt als Denker neue Wege zu weisen: er findet in dem jungen Balzac, der sein Gymnasialkollege gewesen sein will, einen enthusiastisch an seinen Lehren glaubenden Anhänger, und im ersten Mannesalter in einem edlen, begüterten, jüdischen Halbblut Pauline de Villenoix die Hingebung schrankenloser Liebe. Das Übermaß seiner geistigen Arbeit schlägt dann in stillen Wahnsinn um. Er hielt sich für impotent. Die sorgsamste Pflege seiner Braut, die Wiederbegegnung mit Balzac löst den Bann nicht. Er stirbt und hinterläßt als Vermächtnis wenige von Balzac als welterleuchtende Gedankenblitze angestaunte Orakelsprüche. Sahen und hörten wir im Raphael des Chagrinleders den Doppelgänger des zwanzigjährigen, in seiner Pariser Dachkammer hungernden und frierenden Balzac, so sehen wir in Louis Lambert den Doppelgänger des Vendômer Schulknaben, der, seines Genius bewußt, ohnmächtig Verkennung und Verfolgung dulden muß. Wie weit Honorés Erlebnisse sich im einzelnen mit Lamberts Selbstbekenntnissen berühren, ist schwer zu sagen. Offenbar sind die Vendômer Leiden die des phantasievollen, eigenrichtigen, der Schulzucht sich instinktiv widersetzenden Honoré. Ebenso die Lambert zugeschriebenen Fähigkeiten, im Traum vorahnend Bauten, Gegenden zu sehen oder greifbar, schaubar, Schlachten mit ihrem Kanonengebrüll und Reitergetrabe mitzuerleben. Ebenso sind Lamberts Theorien über den Willen, in denen man irrig Analogien mit Schopenhauer finden wollte, seine Ansichten über Mesmerismus, Galls Physiognomik Balzac eigentümlich, wie sein Glaube an Fernwirkung, den er durch geschichtlich überlieferte Züge bekannter Persönlichkeiten zu bekräftigen suchte. Die Liebesbriefe Lamberts decken sich vielfach mit Balzacs ganz kürzlich zum Vorschein gekommenen ersten Entwürfen seiner Liebeserklärungen an die Berny. Balzac nennt auch Lamberts Braut genau so, wie er die Berny bezeichnete, einen Swedenborgschen Engel, die Mittelstufe von Gottheit und Mensch. Nicht minder belangreich für Balzacs Denkart sind Lamberts Ansichten über das Wesen und die Entwicklung der Religionen. Ob Lambert tatsächlich irrsinnig wird oder nur durch gewollte Abschließung von den Mitlebenden die gemeine Wirklichkeit meidet, ist ebenso zweifelhaft, wie die ganze Existenz eines Lambert als Schulkamerad Honorés. Beruhigend für Leser, die aus dem philosophischen Gerede Lamberts nicht klug werden, ist, daß Balzac selbst diese Sätze nicht als der Weisheit letzten Schluß ansieht, nur als Prolegomena. Die Aphorismen Lamberts, die Balzac abschließend mitteilt, sind geständigermaßen Eigenbau unseres Romanciers: Fürst Felix Schwarzenberg, der Botschafter Österreichs in England, nachmals Minister des Auswärtigen, hielt Balzac in Heidelberg zum besten. Der Dichter wartete volle fünf Stunden auf eine vereinbarte Zusammenkunft mit dem Diplomaten, der es vorzog, sich indessen mit seiner Geliebten, der vielberufenen Lady Ellenborough, zu unterhalten. Balzac verübelte dem Fürsten seine Rücksichtslosigkeit dauernd. Wiederholt klagte er brieflich seinen Freundinnen, welchen Streich ihm Schwarzenberg gespielt habe. Getröstet fühlte er sich aber ausgiebig dadurch, daß ihm während seiner unfreiwilligen Einsamkeit die Louis Lambert zugeschriebenen Aphorismen einfielen. Am tröstlichsten aber bleibt, daß Balzac nicht wie die Schicksalsbrüder seiner Dichtung [zu denen auch der wesensverwandte Athanasius Grassin der »Vieille fille« gehört] trotz der Prüfungen seiner Hungerjahre und Finanzkatastrophen zugrunde ging und in den ärgsten geistigen Drangsalen der ihm aus eigenster Erfahrung bekannten verzweifelten Stimmungen und Selbstmordgelüste der nach seinem Urbild geformten Dulder Raphael und Lambert Herr wurde.

Wichtige Wendungen im Leben und Schaffen Balzacs brachte das Jahr 1833. Drei unter dem Gesamttitel »Histoire des treize« vereinigte Erzählungen waren sein Auftakt. Ihr Eingang gibt die Schilderung eines entlegenen Pariser Straßenzuges, deren gleichen von zahllosen Nachahmern niemals und nur von Balzac selbst durch spätere Meisterbilder wieder erreicht wurde. Die Geschichte von Ferragus, dem Haupt der Dévorants, einem Sträfling, dessen edelmütige Tochter sein Los verbergen muß und dadurch Unheil über ihren Gatten und Anbeter heraufbeschwört, wird ebenso wie die schon erwähnte, die Marquise de Castries porträtierende Duchesse de Langeais und die, homosexuelle Passionen kühn behandelnde, »Fille aux yeux d'or« verdorben durch die Rahmenerzählung: einer der Balzacschen seit den Romanen seiner Frühzeit und nach Gautiers und Gozlans schnurrigen Berichten auch in der Wirklichkeit gehätschelten Geheimbünde, deren Mitglieder einander in jeder Not und Gefahr beistehen sollen. Trotz [oder wegen] dieser unglaublichen Voraussetzung las indessen nach dem Zeugnis von Fitz-James Metternich die »Histoire des treize« mit atemloser Spannung, und die Herzogin von Berry war nahe daran, nach der Lektüre der Anfangskapitel Balzac aus ihrer Haft zu schreiben und neugierig nach dem Ausgang zu fragen.

Seine Hauptmühe war übrigens 1833 dem »Landarzt« zugewendet, einem Lebensbild, mit dem er den Montyonpreis zu erringen wünschte, in der Absicht, aus dem Ertrag der Krönung seines Tugendmusters, wunderlich genug, Rabelais ein Denkmal zu setzen; sein Vorhaben wurde dadurch zunichte, daß die Académie française dem Stiftsbrief zuwider den Geldpreis teilte. Daraufhin kündigte Balzac dem Sekretär der Akademie an, daß er sich jede derartige Teilzuwendung verbitte. Verdient hätte und Dank und Lob verdient bis zur Stunde der »Médecin de campagne«, der in der Dauphiné spielt. »Es ist (wie Balzac einer Freundin schrieb) die Geschichte eines Mannes, der einer verkannten Liebe treu bleibt, aber diese Liebe ist nur eine Episode. Anstatt sich zu töten, streift dieser Mann sein Leben wie ein Gewand von sich ab und fängt eine andere Existenz an. Anstatt Karthäuser zu werden, wird er die barmherzige Schwester eines Kantons, den er zivilisiert.« Entsagend und ausdauernd wird Doktor Benassies der Wund- und Seelenarzt des Landvolkes, der Wohltäter und Erzieher der Ärmsten, arbeitet er als gedankenreicher Reformator an einer vom Geist des Urchristentums beseelten Hebung und Läuterung der Massen, an der Zähmung ungebändigter Instinkte von Schmugglern und Wilddieben, die er pflichttreue Soldaten werden läßt. In Gesprächen mit einem seinen Beistand suchenden früheren Offizier Napoleons, dem Ortspfarrer und Friedensrichter entwickelt er diese Ideen, die er durch die Tat bewährt: er ist der Helfer der von allen verlassenen Stiefkinder des Geschicks, die Vorsehung und vielfach der Retter der Waisenkinder, Krüppel, sogar der Idioten dieses Bergvolkes. Ein Zwischenspiel ohnegleichen ist die Probe auf Bérangers Vers: »Noch lang wird man unter dem Strohdach von ihm reden.« Ein Tagewerker, der ehemals bei der Garde diente, erzählt in einer Scheune den atemlos aufhorchenden Bauern im Volkston Napoleons Taten, wie sie die Legende in der Phantasie der Massen ausschmückt. Das Wunderwerk sollte in keiner Napoleon-Anthologie fehlen. Hinterdrein behauptete der von Balzac jederzeit gerühmte Humorist, Zeichner und Mime Henri Monnier, daß er Balzac die Anregung zu dieser Episode gegeben, ja die ganze Szene auf seinen Wunsch vorgespielt habe. Die Balzac niemals zu Gehör gebrachte Anklage bedarf keiner Entkräftung. Wäre Monnier imstande gewesen, ein Meisterstück von solcher Bedeutung zu schaffen, dann hätte er ein gleiches vor- oder nachher zuwege bringen sollen. Monniers parodistische Verkörperung alberner Pariser Kleinbürger und Durchschnittsphilister hat Balzac ungemein belustigt: Monniers stehende Hauptfigur Prudhomme stellte er sogar in das Szenarium einer Posse, die die Dummen-Jungen-Streiche und Eheschicksale dieses feierlichen, sprichwörtlich gewordenen Einfaltspinsels auf die Bühne bringen sollte; er lud Monnier ein, an dieser nie geschriebenen Komödie »Prudhomme, der Bigamist« mitzuarbeiten. Im Phellion seiner »Employés« und der »Petits Bourgeois« hat er den von Monnier auf die Beine gestellten Typus erneuert und ohne Vergleich gesteigert: just, wie er im Bixiou der »Illusions perdues« Monnier selbst konterfeite und ihm dabei witzigere Reden und Einfälle in den Mund legte, als der Vater Prudhommes sie jemals ersonnen hätte. Zur Höhe der Geschichts- und Weltauffassung von Balzacs Landarzt konnte und sollte Monnier sich niemals aufschwingen. Eine Skizze, wie sie wenige Monate nach Abschluß des »Landarztes« Balzac in einer Nacht hinwarf, nur um, der Aufforderung des Verlegers entsprechend, die Bogenzahl eines durch die Wahl zu kleiner Buchstaben nicht ausgefüllten Bandes zu ergänzen, zeigt, wenn das nötig sein sollte, dem Stumpfsten, daß ein alle Register meisterndes Genie jeden Vergleich ausschließt mit einem winzigen, eines einzigen Tones mächtigen Talent: Balzacs Handlungsreisender »L'illustre Gaudissart« mit seiner Suada, die Pariser Putzmacherinnen ebenso betört wie die jeder seiner Schwindelwaren aufsitzenden Kunden aller französischen Provinzen, wird zunichte beim Zusammenstoß mit der Geriebenheit boshafter Färber und Winzer der Touraine. Gaudissart ist ebenso sprichwörtlich geworden wie Prudhomme. Beide verjüngen sich in unsterblicher Nachkommenschaft. Beide sind Hanswurste, die nie lustiger wirken als wenn sie auf den rechten Gegenspieler treffen: Prudhomme auf einen noch Dümmeren, Gaudissart auf einen noch Gewitzteren, der ihn – wie in Balzacs Skizze – zu einem Verrückten in den April schickt.

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Schloß Wierzchownia

Und derselbe Geist, der im September den »Landarzt« und im Dezember »Gaudissart« schuf, beschenkte in wenigen Herbstwochen desselben Jahres 1833 die Weltliteratur mit » Eugénie Grandet«. So heißt die Tochter eines Geizhalses, dessen Charaktergestalt dem Avare Molières an die Seite tritt, doch durch eine Fülle höchst individueller Züge vom Harpagon der Komödie sich unterscheidet, wie ein scharf bestimmtes Einzelwesen von einem Gattungsbegriff. Balzac soll als Urbild seines Grandet einen Faßbinder Niveleau gekannt haben, dessen Behausung mir in Saumur noch gezeigt wurde. Seinesgleichen, kleine Gewerbsleute, die in den Stürmen der Revolution sich schlau und zäh bereicherten, Nationalgüter zu Spottpreisen an sich brachten und durch schmutzige Spekulationen Millionäre wurden, gab es dazumal zu Dutzenden, und Balzac konnte seiner Schwester, die bei allen Lobsprüchen den Vorbehalt nicht unterdrückte, Balzac hätte Grandets Vermögen zu hoch gesteigert, wahrheitsgemäß entgegnen, der leibhaftige Niveleau sei noch reicher gewesen als Vater Grandet. Wie grimmig andere Genossen von Balzacs früheren Kompagniearbeiten mit solchen Geizteufeln ins Gericht gingen, zeigt eine grelle, nicht von ihm herrührende, nach Spanien verlegte Geschichte – in den 1832 von ihm mit Chasles und Rabou herausgegebenen »Contes bruns« – »La fosse de l'avare«. Zwei Totengräber sollen einen Geizhals nach seinem letzten Willen so tief als möglich einscharren. »Ich sah ihn auf dem Marktplatz einen heißhungrigen Blick auf alles Geld werfen, das dort im Umlauf war. Etwas Dämonisches ging von diesem Blick aus; mit Mut gepaart erzeugt Begehrlichkeit den Räuber, mit Feigheit vereint den Geizkragen.« Der »Avare« dieser Schauergeschichte hat nicht geheiratet; sein Gold, ungezählte Dollars, mußte ihm in den Sarg gelegt werden. Der Begrabene ist indessen nur scheintot. Aus dem Grab schreit er vergeblich: »Ach, ich ersticke, öffnet mir. Mein Gold …« Endlich zertrümmert er den Sargdeckel und erhebt sich mühsam: »Wo war ich und woher komme ich? Sie haben mich begraben. Das ist nicht mehr mein Sarg aus Eichenholz, für den ich einem Tischler 15 Taler gezahlt habe. Weh', ich bin verloren. Mein Gold ist gestohlen worden!« Mit diesem Schreckensruf flüchtet er im Leichentuch ins Dorf. Vater Grandet würde solches Unheil nicht treffen können. Das hätte und hat er bei Lebzeiten und darüber hinaus ebenso tyrannisch als weitblickend verhütet. Mit eherner Härte machte er Weib, Kind, Magd seinem Machtwillen, seiner jede menschliche Regung in seinem Innern niederzwingenden einzigen Leidenschaft dienstbar. Erfinderisch mehrt er seinen den Nächsten und Fernsten verborgenen Riesenbesitz an Gold, erfinderisch wehrt er der kleinsten Auslage, dem bescheidensten Anspruch besserer Lebenshaltung. Tote Raben empfiehlt er als schmackhaften Festbraten, das häßliche, derbknochige, grundgutmütige Lasttier, seine Hausmagd Nanon, beutet er scheinheilig aus; die Weinbauern der Gegend haut er so gewitzt übers Ohr wie die Bankgrößen von Saumur und Paris. Von dem einzigen, der ihn jemals übervorteilte, einem verschlagenen Juden, der sich beim Abschluß seines Handels als halbtauber Stotterer verstellte, hat er die gewinnbringende Praktik angenommen, gegebenenfalls Schwerhörigkeit und Stammeln vorzutäuschen. Der Bankrott seines Bruders, den er mühelos aufhalten könnte, läßt ihn ebenso unbewegt wie dessen Selbstmord: unter dem Anschein, der Familienehre willen die Schulden des Pariser Hauses zu ordnen, hungert er schadenfroh, ohne einen Heller auszugeben, die Gläubiger aus. In seiner Todeskrankheit ist es seine einzige Lust, seine Augen an Goldstücken zu weiden, mit denen seine halbgelähmte Hand spielt, und als der Priester dem Sterbenden das Kruzifix zum Kusse reicht, will er das goldglänzende Heilandsbild an sich reißen. Das einzige Kind dieses Satans ist eine der reinsten, rührendsten Gestalten aller Dichtung. Das weltfremde, freudenarme Mädchen wird durch den Besuch ihres hübschen, stutzerhaften Pariser Vetters aus der Dumpfheit ihres Daseins in eine Welt neuer Empfindungen gehoben; sie liebt Charles, der ahnungslos als Bote der Hiobspost seines Vaters in Saumur erscheint und findet den Mut, dem Verzweifelnden ohne Vorwissen des Vaters ihre Geburtstagstaler zur Fahrt nach Indien zu geben. Und sie verleugnet, als Vater Grandet bei der herkömmlichen Musterung ihrer Spargroschen zu spät von ihrer edelmütigen Anwandlung erfährt und in einem Tobsuchtsanfall ihre wenigen Habseligkeiten an sich nimmt, wie er zuvor der wehrlosen Mutter Geld und Gut abgezwungen, ihre Liebe nicht; sie beweist, heroisch dem Rechten dienend, ihre Wesensverwandtschaft mit dem Vater nur durch die Unbeugsamkeit, mit der sie seinen Strafmaßregeln, langwährendem strengen Hausarrest, seinen Bosheiten und Kränkungen Widerstand leistet. Geduldig harrt sie auf die Heimkehr Charles', in nie wankender Treue weist die ihrer Millionen willen von Mitgiftjägern Umworbene alle Freier ab, um zuletzt den Wortbruch ihres nichtigen Vetters zu erleben: Charles hat sich in der Fremde als Schmuggler und Sklavenhändler bereichert und auf der Heimfahrt voreilig mit einer häßlichen, armen Aristokratin verlobt, durch deren Familie er den Adel und parlamentarische Ehren zu erreichen hofft. Eugénie tilgt die weder von ihrem Vater noch von Charles beglichenen Ehrenschulden des bankrotten Pariser Hauses Grandet und geht auf Andringen der Saumurer Geistlichkeit eine Konvenienzehe mit einem nur dem Mammon, Titeln und Würden nachjagenden Gerichtspräsidenten ein, den sie überlebt, um als Wohltäterin großen Stils mit Werken der Barmherzigkeit zu enden: »Die Einfachheit ihres fast klösterlichen Lebens enthüllte« ihrem ersten Verlobten Charles »die reine Schönheit dieser Seelen, die nichts vom lauten Leben wußten und rührte ihn« bei seinem ersten und einzigen Besuch von Saumur »tief. Er hatte geglaubt, solche Tugenden seien in Frankreich unmöglich und nur in Deutschland zu finden, oder in den Märchen und Romanen August Lafontaines. Bald erschien ihm Eugénie als das gute Teil von Goethes Gretchen, doch ohne deren Schwäche.« Wir wissen aus vielen Zeugnissen, wie hoch Balzac von deutscher Art und Kunst dachte: selten hat er ihr liebreicher gehuldigt, als durch den Hinweis auf deutsche Züge in Eugénie Grandets Natur. Vorher und nachher gediehen Ausnahmsgeschöpfe ihres Schlages übrigens gewiß auch in Frankreich: so ist die Heldin der 21. Novelle des »Heptameron« ein von einem geizigen Vater gequältes Mädchen, das einem Bastard unwandelbar zugetan bleibt, bis dieser, scheinbar ebenso selbstlos wie die Jungfrau, notgedrungen nach Deutschland flieht und dort einen anderen Liebeshandel anknüpft. Glücklicher als Eugénie Grandet heiratet die Dame des »Heptameron« einen Würdigeren: die Charaktere des Vaters, der Treuliebenden und des haltlosen Liebhabers sind in Hauptzügen trotz der Unterschiede der Zeiten bei Balzac und im Heptameron einander vergleichbar. An unmittelbare Entlehnungen ist indessen weder bei der »Fosse de l'avare« noch bei der Novelle des »Heptameron« zu denken: unbewußte Anregungen mag Balzac vielleicht da oder dort empfangen haben. Als Ganzes ist Eugénie Grandet dem Dichter ureigen: das Buch ist von Anfang ein Ruhmestitel Balzacs geworden, dermaßen, daß er, im Vollgefühl beständig Neues, Gleichwertiges und selbst Bedeutenderes zu bringen, der auf Kosten anderer Schöpfungen wiederkehrenden Lobsprüche dieses einen Romans als seines Musterbuches bald überdrüssig wird. Das erste Blatt der Geschichte trägt die Inschrift: »Für Maria. Du, deren Bild die schönste Zierde dieser Arbeit ist, Dein Name sei hier wie im Haus ein geweihter Buchsbaumzweig. Man kennt nicht den Baum, von dem er stammt, doch der Glaube hat ihn geheiligt und fromme Hände ersetzen den welkenden durch neues Grün – zu Schutz und Segen dem Hause.« Die Freundin, der diese Widmung galt, scheint die Geliebte gewesen zu sein, die zu Balzac das rührende Wort sprach: »Liebe mich ein Jahr, ich will Dich ein Leben lang liebhaben.« Dem Bund mit Maria soll auch ein bald geschiedenes Töchterchen entsprossen sein. So verschwiegen Balzac über seine selbsterlebten Liebesromane war und so wunderlich er sich von seinen ersten Liebesbriefen an Madame Berny und späterhin an Eva Hanska, dann zu Berufsgenossen, Théophile Gautier, Léon Gozlan usw., über seine Enthaltsamkeit von Liebesgenüssen aussprach; so feierlich er monate- und jahrelange Keuschheit als Vorbedingung ungebrochener künstlerischer Schaffensfähigkeit ausrief; so mönchisch abgeschlossen er im Arbeitsdrang, in der ihm durch innerlichen Trieb und äußerliche Geldnot allzu häufig auferlegte Fronpflicht in zwölf- bis achtzehnstündigen Tagewerken und Nachtschichten an seinen Schreibtisch gebannt blieb – mündlicher und brieflicher Verkehr mit Freundinnen war ihm Lebensbedürfnis. Und mit niemandem pflegte er ausdauernder Briefwechsel als mit Madame de Berny, die letztwillig diese Korrespondenz vernichten ließ, und mit Eva Hanska, geborene Gräfin Rzewuska.

Einer verarmten Linie des in der polnischen Geschichte vielfach hervortretenden Grafengeschlechtes Rzewuski angehörig, war die 1805 Geborene achtzehnjährig einem mehr als doppelt so alten Großgrundbesitzer Hanski vermählt worden, der jahraus, jahrein sein Schloßgut Wierzchownia in der Ukraine bewohnte. Hanski war in Wien erzogen worden, nicht unbelesen, ein Enthusiast für italienische, besonders Rossinische Musik, erzreaktionär gesinnt, streng bis zur Härte gegen seine Leibeigenen und, so frei er seine junge schöne Frau gewähren ließ, gewiß nicht der Mann ihrer Wahl und ihres Herzens. Zur Bewirtschaftung der ausgedehnten Herrschaften Hanskis fehlte ihr Lust und Gelegenheit, für die landschaftlichen Reize des endlosen Weizenbodens ihres Besitzes hatte sie keine Empfänglichkeit, für die Poesie der Sonnenuntergänge auf der unabsehbaren Ebene, die das Töchterchen der späteren Lebensgefährtin Liszts, Fürstin Maria Hohenlohe-Wittgenstein, ihre Gutsnachbarin, träumen machte, keinen Sinn. Abgeschnitten von größerer Geselligkeit, war sie wesentlich angewiesen auf den Verkehr mit der Gouvernante des einzigen Mädchens, das ihr von fünf Kindern übriggeblieben war, einer Schweizerin aus Neuchâtel, Henriette Borel; mit ihr las sie begierig die neuesten französischen Bücher; Balzacs Frauenbilder in den Szenen aus dem Privatleben begeisterten sie, seine Ausfälle gegen ihr Geschlecht in der Peau de chagrin und der Psychologie des Ehestandes verdrossen sie ausnehmend, so daß sich immer stärker ihr Gelüst nach unmittelbarem Gedankenaustausch mit dem Schriftsteller regte. Dem Hexenmeister eigenhändig zu schreiben, ihren Namen und Wohnort zu verraten, schien ihr bedenklich. Da kam sie, vielleicht beraten von der Borel, auf den Ausweg, Balzac durch dessen Verleger Gosselin einen von der Borel kopierten Brief zu bestellen mit der geheimnisvollen Unterschrift: »L'Etrangère.« Als Balzac am 28. Februar 1838 die mysteriöse Zuschrift der »Fremden« erhielt, die mit ihren überschwenglichen Lobsprüchen ein Preislied war, dessengleichen er trotz leiser Einsprachen gegen Einzelheiten nicht alle Tage vernahm, war er ratlos, wie er der rätselhaften Fremden antworten könnte. In der ersten Aufwallung überströmenden Dankes wollte er deshalb den Band, den er just druckfertig machte, den letzten Abschnitt des Buches »La femme de trente ans« der Dame unter der Losung »Diis ignotis« widmen und als Erkennungszeichen das Siegel des an ihn gelangten Briefes in getreuer Nachbildung beisetzen lassen. Eine Absicht, von der ihn Madame Berny mit dem Einwand abbrachte, eine derartige Kundgebung könnte taktlos wirken, ja der »Fremden« sogar Verlegenheiten bereiten. Nun verstrichen Monate und Monate, von denen man nicht weiß, ob und wie sich Madame Hanska weiter vernehmen ließ. Eine entscheidende Wendung bewirkte ein dreiviertel Jahre nach dem ersten am 7. November 1832 Balzac zugekommener neuer Brief der Etrangère, der verzückt, um nicht zu sagen verstiegen, klang: »Ihr Genie scheint mir erhaben, aber es soll göttlich werden. Die Wahrheit allein soll Sie dahin führen. Ich sah Sie mit der Seele und sehe Sie voraus. Das ist mein einziges Talent. Es ist rein und gewaltig. Seine Quelle ist göttlich, seine Wahrheit heilig. Für Sie bin ich die Fremde und werde das mein Leben lang bleiben. Sie werden mich nie kennenlernen.« Daß es die Fremde nicht ganz ernst nahm mit diesem Versteckensspiel, bewies die verblüffende Schlußwendung ihrer Zeilen; Balzac möge den Empfang ihres Briefes in dem fast allein in Rußland zugelassenen Pariser Blatt, der ultra-konservativen »Quotidienne«, bescheinigen unter den Buchstaben »A l'E – h B.« Der Dichter ließ daraufhin in dieser Zeitung die Anzeige einrücken: »Mr. de B. hat die für ihn bestimmte Sendung erhalten. Erst jetzt kann er durch diese Zeilen davon Nachricht geben. Er bedauert, daß er nicht weiß, wohin er seine Antwort senden soll. A l'E – h de B« (die Initialen können ebensowohl Etrangère und Henri als Eva Hanska bedeuten). Seinem Verlangen wurde so weit willfahrt, daß ihm die Adresse einer Mittelsperson, vermutlich der Gouvernante Borel, bekanntgegeben wurde, unter der er der Etrangère schreiben könne. Noch hatte er keine Ahnung, wer die Fremde war, wie sie aussah und wie es um die Gaben ihres Geistes und Gemütes bestellt war, und doch richtet er sofort Liebeserklärungen an sie, girrt in Sehnsuchtsseufzern, versichert, in ihr die Verwirklichung seiner Träume, das weibliche Ideal errungen zu haben, das er von Jugend an vergeblich suchte und als einzigen Siegespreis seiner Künstlermühen und Studien erstrebte. Balzac selbst spricht in diesem ersten Brief an die Fremde von dem Frühlingssturm, den der Anruf der unbekannten Wahlverwandten in ihm weckte, als von einer »romantischen Episode«: den unbefangenen, zumal einen nüchternen Leser stellt sie vor Rätsel seines Wesens. Nicht leicht sind größere Gegensätze denkbar als zwischen diesen ungestümen, das Innerste, Persönlichste zur Sprache bringenden Ansprachen Balzacs an eine Wildfremde, und Wilhelm v. Humboldts väterliche Briefe an eine wohl der Welt, doch nicht ihm unbekannte Freundin und Prosper Mérimées weltmännische »Lettres à une inconnue«, die dem Dichter von Carmen wohlvertraut war. Die ungewöhnliche Beichte der Etrangère, die Balzac mit seiner noch ungewöhnlicheren Beichte erwiderte, kennen wir nur aus spärlich erhaltenen Bruchstücken, die Madame Hanska keineswegs, wie Balzac ihr nachrühmt, als eine zweite Madame de Sévigné oder Fénélon vergleichbare Stilistin erscheinen lassen. Und doch entzündete sich seine Phantasie an ihren Schmeichelreden, wie Märchenprinzen sich in Bilder verlieben, wie Brünhildens Freier sich durch Lieder für die ungeschaute, weltferne Jungfrau entflammen lassen. Die Briefe der Fremden gingen durch Balzacs Ohr in sein Herz trotz und vielleicht wegen mancher falscher Töne. Berührungspunkte fanden und mehrten sich im Verlauf der Korrespondenz. Als er hörte, daß sie von ihrer Mutter schlecht behandelt worden sei, bekannte und fühlte er sich als ihr Leidensgefährte. Nachhaltiger wirkte noch ein wundersames Zusammentreffen. In seinem zweiten Brief erzählt er ihr, daß er ein gänzlich evangelisches Werk vollende, das ihm wie eine dichterisch verklärte »Nachfolge Christi« vorkomme. Lange bevor diese Mitteilung die Fremde erreichen konnte, hat sie, eine feurige Katholikin, Balzac einen in grünes Maroquinleder gepreßten Prachtdruck der Imitatio Christi ins Haus geschickt. Und Balzac, der seit jeher an Fern Wirkungen glaubte, sah es als untrüglichen Beweis innerer Zusammengehörigkeit an, daß die Fremde zugleich mit und ganz unabhängig von ihm und seiner Wiedererweckung von Thomas a Kempis' Lebensregeln in seinem »Landarzt« an die Imitatio Christi gedacht hatte. In seiner Arbeitszelle, die er wochenlang wie eine Mönchsklausur verschlossen hält, um ungestört ein paar Riesenaufgaben fertig zu bringen, erscheint sie ihm wie eine Schutzheilige, zählt er sie »unter jene fast stets unglücklichen Übriggebliebenen eines auf der Erde verstreuten Volkes, die hienieden selten genug zu finden sind, von denen aber jeder Eine seine eigene Sprache, sein eigenes Gefühlsleben hat, das in nichts dem anderer Menschen ähnlich ist«. Im Glauben, in der Etrangère einem solchen Ausnahmswesen begegnet zu sein, veranlaßt er sie, regelmäßige Tagebücher zu führen und gegen die seinigen einzutauschen. Nun mußten alle für Balzac bestimmten Briefe und Aufzeichnungen der Fremden nach ihrem Geheiß vernichtet werden: seine (Bände füllenden) Briefe an Eva Hanska haben sich dagegen größtenteils erhalten, bewundernswerte Zeugnisse der Beharrlichkeit und Redseligkeit, mit der er ihr länger als ein halbes Menschenalter über sein Leben inmitten all seiner Geschäfte, Reisen, literarischen Leistungen Aufschluß gab; sie zeigen Balzac in seiner ganzen Selbsterkenntnis und Weisheit und dicht daneben in seiner ganzen Selbsttäuschung und Torheit, so daß sich die Widersprüche seines Wesens kaum irgendwo betrübender und belustigender offenbaren als in seinem Verhältnis zur Etrangère. Die erste Phase seines Briefwechsels reicht vom Beginn ihrer Korrespondenz bis zur ersten persönlichen Begegnung. In dieser kurzen Zeitspanne von zehn Monaten verherrlichen seine Hymnen die Etrangère, die er nicht besser kennt als Don Quixote die Dulcinea von Toboso. Von ihr möchte er durchaus nicht verkannt werden: darum verteidigt er sich angelegentlich gegen die Zumutung, verantwortlich gemacht zu werden für Meinungen und Taten leichtfertiger oder nichtsnutziger Träger seiner Fabeln. Was die Fremde in seinen Arbeiten als allzu grell abstößt, habe seinen Grund darin, daß er ein blasiertes Publikum scharf anpacken müsse, und da er alle Richtungen der Literatur durch sein Gesamtschaffen umfassen wolle, müsse er die Masse durch Masse zwingen und ein Monument aufrichten, das mehr durch Häufung des Materials als durch die Schönheit des Baues dauern solle. Diese pathetische Rechtfertigung und die Ankündigung neuer mächtiger Pläne – Balzac wollte in einem Roman »La bataille« das Auf und Ab der Schlacht von Eßling, alle Verschiebungen der Truppen, die Heere beider Lager, Napoleon beim Übersetzen der Donau schildern –, seine steten Umarbeitungen früherer Werke, des Chagrinleders und Louis Lamberts, beschäftigten die Fremde lange nicht so wie die ihre Eifersucht reizende Frage, wer die von ihm mit solcher Inbrunst gepriesene Dilecta und was an so vielen ihm nachgesagten Liebesabenteuern sei? Geduldig steht er in solchem Verhör Red' und Antwort. Die Dilecta sei seine mütterliche Freundin; ungemessene Arbeits- und Zahlungspflichten ließen ihm keine Muße zu Seitensprüngen; der Pariser Klatsch verdächtige ihn grundlos, weil er den Fluch der Berühmtheit zu tragen habe; mit der schönsten und verworfensten Kurtisane, dem Urbild von Vernets Judith, habe er verkehrt gleich den Herzögen von Duras und Fitz-James, weil sich in ihrem Haus, wie in der Allee der Champs-Elysées, viele Leute zufällig treffen können; er habe sie nach einem Zerwürfnis mit ihrem Geliebten Sue wieder versöhnt, später Rossini zuliebe, der diese Olympia (Pellissier) zur Mätresse nahm, mit ihr verkehrt; ihm selbst der die Etrangère über alles liebe, läge jede Untreue fern. Die Fremde läßt sich auch gern von anderen Berühmtheiten des Tages erzählen, und da Balzac so ziemlich alle Künstler und Literaten des letzten Jahrzehnts kennenlernte, weiß er ihr von George Sand, Victor Hugo, Janin, La Touche, Nodier und sonst noch vielen genug, nur wenig Erfreuliches zu berichten: als Mann von Mut und Ehre läßt er Scribe gelten, als Tugendspiegel rühmt er den Historiker Monteil, der eine Pension als ihm nicht gebührend ausschlug, die Brüder Johannot, die nur ihrer Zeichenkunst leben, und seinen Hausgenossen, den Maler August Borget, der nachmals von einer chinesischen Reise Bildertafeln heimbrachte, die Balzac in einer weit über den äußeren Anlaß hinausgreifenden Studie beredete. Von seinem eigenen Werdegang meldet er mancherlei: seine Beobachtungsgabe sei durch seinen Lebenslauf geweckt und geschärft worden; gegen seinen Willen in allen möglichen Berufen umhergeworfen, habe er derart eine große Vorschule gehabt; als er dann in den höheren Schichten der Gesellschaft verkehrte, habe er Leiden und Kränkungen erduldet, die seine Menschenkenntnis mehrten; so wurde alles von ihm betrachtet und zergliedert, die Gesellschaft in ihren Höhen und Tiefen, die Gesetze, die Religionen, die Geschichte und die Gegenwart. Nach solchen Aufschlüssen über die eigenen Geschicke will er, daß auch die Fremde den Schleier ein wenig lüfte. Er bittet sie um eine Sepiazeichnung ihres Zimmers, nennt, als er wenigstens ihren Vornamen erfragt hat, eine Hauptgestalt im Landarzt, die tugendstrenge, jungfräulich reine Tochter jansenistischer Eltern Eveline, und klagt endlich unumwunden: »Ihre Briefe entzücken mich; sie werden immer liebenswürdiger. Aber es ist eine Qual, sich zu lieben, ohne sich zu kennen.«

Und unversehens winkt die Erfüllung des vordem scheinbar Unerfüllbaren. Das Ehepaar Hanski hat mit Genehmigung des Zaren zeitweilig Rußland verlassen. Die Fremde kommt nach Österreich, sie bereist die Schweiz und läßt ihn hoffen, sie, die noch immer ihren Familiennamen verbirgt, in Neuchâtel ausfindig zu machen. Dieser Lockung vermag Balzac nicht ohne weiteres zu folgen. Ihm fehlte, wie so häufig oder eigentlich immer, Zeit und Geld. Doch, trotzdem er just in einen aufregenden Prozeß mit einem Verleger verwickelt ist, der ihn wegen eines ausständigen Manuskriptes belangt hat, und in ärgster Geldklemme steckt, macht er das Unmögliche in wenigen Wochen möglich, verdient in zehn Tagen mit im Nu geschriebenen Büchern 100 Louisdor und fährt, unter dem Vorwand, eine neuartige, Millionengewinne verheißende Papierfabrikation prüfen zu wollen, mit einem Buchdrucker nach Besançon. Angesichts ernster, arg bedrohter Vermögensinteressen seiner Mutter mußte er einen derartigen, triftig scheinenden Vorwand wählen, sonst würde man seine Reise für Verrücktheit ansehen. Von Besançon hat er nicht weit nach Neuchâtel, wo er nach vier im Postwagen schlaflos verbrachten Nächten am 26. September eintrifft. Nach seiner Ankunft meldet er, wohl wieder unter der Deckadresse der Gouvernante Borel, der Etrangère, daß er zwischen eins und vier auf die Vorstadtpromenade gehen werde: »Geben Sie mir um's Himmels willen Ihren Namen genau an.« Über die Erkennungsszene der beiden liegen widersprechende Berichte vor. Nach einer Version soll Madame Hanska mit einem französischen Roman in der Hand erschienen und durch den Anblick des kleinen, dicken, ganz und gar nicht eleganten Fremden so betroffen gewesen sein, daß sie kehrtmachen wollte. Seiner Schwester schrieb Balzac dagegen: »Alles, was immer dem eitlen Tier schmeicheln kann, das sich Mann nennt und dessen eitelste Spielart vielleicht ein Dichter ist, habe ich gefunden. Doch was red' ich von Eitelkeit! Ich bin einfach glücklich in Gedanken und vorerst noch in allen Ehren überglücklich. Die Hauptsache ist, daß wir siebenundzwanzig Jahre alt und bewundernswert schön sind, daß wir die prachtvollsten schwarzen Haare der Welt, die liebliche, entzückend feine Haut der Brünetten, kleine verliebte Hände und ein siebenundzwanzigjähriges Herz haben, das ganz unschuldig ist. Kurzum, sie ist eine richtige Madame de Lignolle«, eine Figur im Faublas, »und von solcher Unvorsichtigkeit, daß sie mir am liebsten vor aller Welt um den Hals fallen würde. Ich sage Dir nichts von dem kolossalen Reichtum. Was hat das auch schließlich im Vergleich mit einem Meisterwerk von Schönheit zu bedeuten? … Im Schatten einer großen Eiche haben wir uns den ersten verstohlenen Liebeskuß gegeben. Dann habe ich ihr geschworen, zu warten, und sie schwor mir, ihre Hand und ihr Herz für mich aufzuheben.« Dieser vertrauliche Brief epilogiert seinem fünftägigen Aufenthalt in Neuchâtel. Noch viel deutlicher ist sein unmittelbar nach seiner Heimkehr aus Paris an die nach Genf weitergereiste Madame Hanska gerichteter Brief, die ihm mit einer Liebespost zuvorgekommen ist. Er duzt sein »angebetetes Lieb« und ruft jubelnd: »Meine teuerste Eva, so liegt denn nun ein neues Leben, das wunderbar begonnen hat, vor mir. Ich habe Dich gesehen, habe mit Dir gesprochen, unsere Körper und unsere Seelen haben sich vereinigt … alle Begierden, die eine Frau, die liebt, entzünden will, habe ich durchgemacht, und schuld, daß ich Dir nicht sagte, mit welcher Glut ich mir gewünscht habe, daß Du einmal des Morgens zu mir kämest, war nur, weil ich mich zu ungeschickt einquartiert hatte. Es wäre gerade in diesem Hause gefährlich gewesen.« Aber in Genf will er für ihre Liebe Geist für zehn aufwenden. Er beherzigt ihren Befehl: »Du mußt Dir vierzehn Tage des Glückes in Genf erarbeiten« und schreitet an ein Unternehmen, das zur Voraussetzung hat, vorher 10 000 Taler zu verdienen. Er verkauft für 27 000 Franken zwölf Oktavbände großenteils noch gar nicht geschriebener »Sittenstudien des 19. Jahrhunderts«: »Seitdem Chateaubriand seine fünfundzwanzig Bände auf zehn Jahre für 200 000 Franken verkauft hat, ist kein ähnliches Geschäft mehr gemacht worden.« Nun heißt es aber, die Wechsel, die der Verlag Balzac an Zahlungsstatt gegeben hat, an Mann bringen, eine lange Reihe neuer Bücher schreiben, ältere Werke überarbeiten. Man glaubt, Kapitel der Boheme-, Wucherer- und Schwindlergeschichten Balzacs zu lesen, wenn seine Briefe an die Etrangère seine Hetzjagd nach Escompteuren dieser Wechsel schildern. Ein Geldgeber sagt ihm auf den Kopf zu: Nein! Denn wer bürge dafür, daß Balzac lange genug leben bleibe, um den Verleger rechtzeitig mit Manuskripten zu bezahlen. Rothschild, der ihn auf der Straße freundschaftlich bei der Hand faßt, um ihn zum Wagen seiner Frau zu führen, wagt er nicht, um Einlösung dieser Wechsel anzugehen. Buchstäblich ohne einen Heller Geld kommt er auf den rettenden Einfall, seinem Arzt, seinem Holzhändler, seinem Hauseigentümer, seinem Schneider, seinem Gewürzkrämer seine Schulden mit diesen Wechseln zu bezahlen: dabei hat ihm der eine und andere ein paar hundert Franken herauszugeben, so daß er nach Zahlung dieser dringendsten Rückstände und der Befriedigung anderer Gläubiger, obenan seiner Mutter und Schwester, 500 Franken übrig behält. Lange reichen die nicht. Wie der Spieler in Regnards Komödie nach argen Verlusten verschwört, jemals wieder eine Karte zu berühren und gleich darauf der Versuchung nicht widerstehen kann, sich abermals an den Spieltisch zu setzen, schlägt Balzac alle guten Vorsätze, Haus zu halten, sofort in den Wind, wenn seine Liebhabereien ihn verleiten, Gastereien zu geben, Antiquitäten zu kaufen, bis seine leeren Taschen ihn zwingen, seine wenigen Wertsachen, Silbergeschirr usw. in das Leihhaus zu tragen.

So muß er den Termin seiner Abreise nach Genf von Woche zu Woche verschieben, obwohl er achtzehn von vierundzwanzig Stunden jedes Tages am Schreibtisch sitzt und dabei ein paar Armstühle kaputt macht. Eugénie Grandet und andere von den Unversieglichen »Improvisationen« genannte bedeutende Schöpfungen müssen in die Druckerei, bevor die Verleger ihm Urlaub gönnen. Ihre Vorschüsse kann er nur mit fertigen Manuskripten einlösen, und Manuskripte gibt der gewissenhafte Künstler nicht aus der Hand, bevor sie seiner Selbstkritik standhalten. All das erfährt Eva durch seine Liebesbriefe, in denen stürmische Ausbrüche seiner Zärtlichkeit wunderlich genug mit Rechenexempeln und Finanzplänen wechseln, die seinen Geldnöten, wie er sich einredet, mit einem Schlag dauernd abhelfen werden. Eva bietet ihm einmal mitleidig Aushilfe an; ihre gute Absicht rührt ihn, er nimmt aber die kleine Gabe nicht an: »Sei tausendmal bedankt für Deinen Tropfen Wasser, er ist mir alles und nichts. Du siehst, was ein Tausender bedeutet, wenn man 10 000 im Monat nötig hat.« In Wirklichkeit sieht Eva seine Bedrängnis nicht oder sie will seine Not nicht sehen. Sie überhäuft ihn mit Vorwürfen, weil er zu lange auf seinen zweiten Besuch warten läßt. Sie erwidert seine feurigsten Liebeserklärungen mit Ausbrüchen von Eifersucht und kündigt (vielleicht in Anwandlungen von Reue) die Absicht an, in Fribourg zur Beichte zu gehen, ein Vorhaben, von dem sie Balzac, obwohl oder weil er 1824 seine unparteiische Geschichte der Jesuiten schrieb, eindringlich warnt, weil dort Jesuiten im Beichtstuhl sitzen. Verwundert hört er, daß sie die Contes drolatiques gelesen habe: die Entrüstung, mit der die emanzipierte George Sand den Zynismus dieser Gauloiserien abwies, hat die Polin nicht verspürt. Und Balzac hat bei allem Kult für »das Licht seiner Tage, die Leuchte seiner Nächte, seine Sehnsucht, sein Idol« ihre »ein bißchen breite Aussprache« so wenig überhört, als er ihren »gutherzigen und, erlaube mir zu sagen, mein lieber Engel, sinnlichen Mund« übersehen hat. Seine durch Überanstrengung hervorgerufenen Nervenschmerzen, die Drohungen der Ärzte, er werde sich durch seine Zwangsarbeit eine Gehirnentzündung zuziehen, fechten Eva nicht an; sie achtet nicht auf seine Vorstellung: »Ich muß, ehe ich abreisen kann, vier Bände im Druck fertig, fünf Zahlungstermine erstreckt, 8000 Franken bezahlt haben, und die vier Bände haben hundert Bogen oder hundertmal sechzehn Seiten, von denen jede drei- bis viermal durchgesehen werden muß, ohne die Manuskripte mitzuzählen.« Unbelehrbar und unbekehrbar verargt Eva dem Dichter jeden Tag der Verzögerung seiner Ankunft, immer neue vermeintliche Nebenbuhlerinnen nennt sie dem geduldig Erwidernden: »Mein schönes geheimes Leben tröstet mich für alles. Du würdest zittern, wenn Du all meine Sorgen kennen würdest, die ich, wie Napoleon, auf meinem Schlachtfeld vergesse. Wenn ich mich an meinen kleinen Tisch setze, dann lache ich, dann bin ich ruhig. Dieser kleine Tisch soll einmal meinem Liebling, meiner Eva, meiner Frau gehören.« Daß ihr Gatte noch lebt, bekümmert die beiden scheinbar gar nicht. Gelegentlich richtet Balzac an Madame Hanska einen zeremoniös förmlichen Brief, der Herrn v. Hanski, der keine Ahnung vom Liebeshandel der beiden hat, täuschen soll, ein andermal stiftet er mit einem verbindlichen Begleitschreiben dem arglosen Gatten ein Autogramm Rossinis.

Weihnachten 1833 stellt sich der Dichter endlich in Genf ein. Während seines sechswöchigen dortigen Aufenthaltes ist er tagtäglich Gast des Hauses Hanski, der fröhlichste Gesellschafter des von seiner Laune entzückten Gatten, bei Ausflügen zu den mutwilligsten Streichen aufgelegt: in der Villa Diodati tanzt er in dem großen Salon, in dem nach der Sage Lord Byron sich berauscht haben soll, einen tollen Galopp. In der Genfer Gelehrten- und Schriftstellerwelt, im Hause des Botanikers Candolle und des ehrwürdigen Historikers Sismondi wird er herzlich aufgenommen. In seiner stillen Herberge wird er jeder Gunst Evas teilhaftig. An Szenen läßt es Frau Hanska trotzdem oder eben darum doch nicht fehlen; das harmloseste Gespräch, das er in geselligem Kreise mit anderen Frauen führt, reizt Eva zu hitzigen Anklagen, und in einer tyrannischen Aufwallung mutet sie Balzac einmal zu, mit ihr in der Rue Cassini zu hausen oder Frankreich im Stich zu lassen und ihr überallhin zu folgen. Dabei denkt sie nie daran, ihren Mann, wie die Sand das getan, für immer zu verlassen. »Genius meines Lebens,« so entgegnet Balzac auf dieses Ansinnen, »nur meine Armut hindert mich. Ich gäbe gern um 2000 Dukaten mein Talent hin und wollte wie Dein Schatten nicht von Dir weichen. Willst Du zurück nach Wierzchownia? Ich zieh' Dir nach und bleib' mein Leben lang dort. Aber dazu bedarf es eines Vorwandes. Ich Unglücklicher«, der ein Ehrenmann und als solcher seiner Pflichten eingedenk war, »kann Paris nicht verlassen, ohne meine Verleger und meine Gläubiger befriedigt zu haben.« Im Taumel seines Liebesrausches vergaß er auch sonst nicht seiner Aufgaben. Nur seine Tagesstunden gehörten dem Haus Hanski in der Villa Mirabaud, von Mitternacht bis zum Mittag arbeitete er, just ebenso wie in Paris; aus seiner Herberge de l'Arc aux Eaux-vives datierte er das Vorwort zum dritten Zehnt der Contes drolatiques; in demselben Genfer Gasthof schrieb er an der Duchesse de Langeais; in Genf ließ er sich auch eine Schöpfung durch den Sinn ziehen, deren Widmung Eva zugedacht war: Seraphita. »Sie soll wie Fragoletta«, von Latouche, ein Roman, dessen Hauptgestalt ein Hermaphrodit war, »zwei Naturen in sich tragen, aber mit dem Unterschied, daß ich mir dieses Geschöpf als einen Engel vorstelle, der bei seiner letzten Wandlung seine irdische Hülle zerbricht, um gen Himmel zu fahren. Er wird von einem Mann und einer Frau geliebt, denen er, zum Himmel entschwebend, sagt, daß sie beide nur in die Liebe verliebt waren, die sie miteinander verband und die sie in ihm, dem reinen Engel, verkörpert sahen; er offenbart ihnen ihre gegenseitige Neigung und überläßt sie ihrer Liebe, während er selbst dem Erdenjammer entrückt wird.«

Jahre hindurch hat er seine besten Kräfte an dies mystisch umwitterte, von Swedenborgschen Schwärmereien erfüllte Werk gesetzt, zu dem Louis Lambert das Vorspiel sein sollte. Zu den Monumentalwerken Balzacs wurde und wird die nach der Vollendung der Geschichte in der Tat »einer Polin« zugeeignete Dichtung so wenig gezählt, wie zwei Bücher, die aus seinen frei umgestalteten Erlebnissen mit Eva Hanska erwuchsen: die selbstbiographisch gehaltene, auf den Schauplätzen der Anfänge seines Liebesromans mit der Polin, in Besançon, Genf und am Vierwaldstätter See, spielende Geschichte Albert Savarus. Und der auf einem Entwurf von Madame Hanska aufgebaute Roman Modeste Mignon, in dem ein schwärmerisch angelegtes Mädchen, ohne sich zu nennen, einen Briefwechsel mit einem berühmten Poeten anknüpft, der die Beantwortung dieser Episteln seinem Sekretär überläßt, der zuletzt wirklich das Fräulein als Braut heimführt. Keines dieser auf den Verkehr mit der Fremden zurückgehenden Werke hat dem Dichter Balzac besonderes Glück gebracht. Und ob die Verflechtung der Lebensschicksale der beiden dem Menschen Balzac zum Heil ausschlug, bleibt eine schwer lösbare Frage für seine Biographen. In Genf versicherte er sie seiner leidenschaftlichen Liebe: sie sei Anfang und Ende seines Trachtens: »Du wirst die junge Dilecta sein, und schon nenne ich Dich die Praedilecta.« Das war voreilig. Dem Überschwenglichen sollte durch zweifellose Erfahrungen im Laufe der Zeit offenbar werden, daß seiner ersten Freundin keine zweite gleichkam an selbstloser Hingebung, und daß insbesondere Eva Hanska die letzte war, die verdient hätte, Madame de Berny an die Seite gestellt zu werden.


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