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IX.
Der Aufbau der Comédie humaine

Am 5. Jänner 1842 erhielt Balzac einen schwarzgesiegelten Brief Evas, der ihm den Tod ihres Gatten Hanski mitteilte. Die Nachricht traf ihn vollkommen unvorbereitet. Kurz vorher hatte er der Freundin angekündigt, daß er Herrn von Hanski seinen Roman »Les paysans« zueignen werde. Nun aber das Schicksal ihr die Freiheit gegeben, will er noch im Jahr 1842 nach Rußland eilen; hat ihm Eva nicht ehedem das Trostwort zugerufen: »Gedulden Sie sich. Man liebt Sie ebensosehr wie Sie lieben? Ändern Sie sich nicht, denn man ändert sich nicht.« Niemals habe er unreine Wünsche nach Hanskis Ende aufkommen lassen, nur im Innersten sich gesehnt, dereinst, gleich dem ihnen beiden 1834 in Genf so rührend erschienenen greisen Musterehepaar Sismondi, in ferner Zukunft seine Tage mit der Geliebten als Philemon und Baucis beschließen zu dürfen. Ihr allein gehöre seit ihrer ersten Begegnung seine Liebe, sein Leben. Unwandelbar habe er an ihr festgehalten; der Gedanke an sie habe ihm die Kraft gegeben, seinen Namen groß und immer größer zu machen. Ihretwegen habe er das Äußerste versucht, Herkulesarbeiten zu bewältigen. In der Tat hatte er Eva nach dem Fehlschlag des Vautrin und der Katastrophe der Jardies anvertraut, daß er außerstande sei, das Übermaß seiner Widerwärtigkeiten zu ertragen; Selbstmordgedanken waren ihm aufgestiegen, andere Male war er nahe daran, Frankreich zu verlassen und unter fremdem Namen in Brasilien eine von der Literatur fernabführende Existenz zu beginnen. In solchen verzweifelten Stimmungen hatte der Zuspruch Evas Balzac beschwichtigt; er versprach ihr, nicht in die Fremde zu ziehen, bevor er sie noch einmal gesehen. Seine Auswandererpläne verflogen, sobald er wieder am Schreibtisch saß und mit alter Energie den Ansturm seiner Gläubiger abwehrte. Der Advokat der Stadt Paris, Gavault, bewog ihn, Les Jardies, wenngleich mit einem Schaden von 100 000 Franken, zu veräußern. Drei Verleger, Dubochet, Furne und Hetzel, vereinigten sich, seine bisher erschienenen Sittenstudien unter dem Generalnenner » La comédie humaine« in ein paar Dutzend Bänden herauszugeben und zu honorieren; für die Feuilletonromane verschiedener Zeitungen schrieb er 1841 dreißigtausend Zeilen, 1842 vierzigtausend Zeilen, die ihm durchschnittlich mit je 2-3 Franken bezahlt wurden und da das noch immer nicht genügte, außer der Tilgung seiner Wucherschulden seinen Hausgebrauch zu decken, schrieb er zwischendurch mehrere neue Stücke.

Das Odeontheater nahm trotz oder wegen des legendarischen Mißerfolges von Vautrin begierig »L'école des grands hommes« an, »eine immense Komödie, den Kampf eines genialen Mannes mit seinem Jahrhundert. Wenn ich Erfolg habe, reise ich; wenn ich durchfalle, muß ich vier Bände schreiben, um das Reisegeld zu verdienen. Aber ich habe noch ein anderes Stück im Vaudevilletheater«: Paméla Giraud, ein bürgerliches Schauspiel. »Die Schule der großen Männer« oder wie der Bühnentitel geändert lautete: » Les ressources de Quinola«, ein dramatisches Seitenstück zu Balzacs Roman »Les souffrances de l'inventeur«, führen im Spanien Philipps II. das auf eine geschichtliche Begebenheit zurückgehende Schicksal eines Erfinders vor, der im Hafen von Barcelona vor 200 000 Zuschauern ein dampfgetriebenes Schiff ausfahren und durch Unfall oder vorsätzlich versinken ließ. Balzac wählte für sein Drama die lockere Szenenreihe, wie sie Mérimée für die Komödien seiner Klara Gazul sich zurechtgemacht hatte. In dem packenden Prolog glückt es den Listen eines figaresken, für seinen genialen, lebensunkundigen Herrn begeisterten Faktotums Quinola dem Erfinder Fontanares eine Audienz zu erwirken; trotz des Einspruches des Großinquisitors läßt Philipp II. Fontanares aus dem Kerker holen, in den ihn Glaubenseifer geworfen, und seine Ideen entwickeln. Der König verheißt ihm, wenn seine Erfindung sich bewährt, das Goldene Vlies, die Grandenwürde als Herzog von Neptunado; sonst Kopf ab. Philipp befiehlt, Fontanares in Barcelona für seinen Versuch ein Schiff bereit zu halten; eine Großmut, die unmittelbar nach dem Untergang der Armada nicht unerklärlich ist. Fontanares hat trotzdem von Anfang mit Widersachern aller Art zu kämpfen: Geldmangel und Ränkeschmiede stellen sich ihm in den Weg. Sein Diener Quinola schlägt Wucherern und Satrapen ein Schnippchen; er verbündet sich mit Spießgesellen seiner pikarischen Vergangenheit, Dieben, wie Monopodio, die Spione des Vizekönigs geworden sind. Die schlimmsten Wirren verschulden indessen Liebeshändel. Fontanares ist das Herzblatt Marias, der Tochter eines schwerreichen Geizhalses, der zugleich der Sekretär des Gouverneurs ihrer Mitgift wegen nachstellt; die Mätresse des greisen Vizekönigs, eine Venetianerin, Marchesa Brancadori, wird ebenfalls von ungemessener Leidenschaft für den Erfinder erfaßt, der sie, sogar öffentlich, als Kurtisane beschimpft; je trotziger er sich versagt, desto begehrlicher wird sie; sie läßt alle Künste der Buhlerin und als die nicht wirken, alle Minen der Tücke springen, um Maria zuerst ins Kloster, dann in die Gewalt Sarpis zu bringen; sie hemmt überdies durch hinterlistige Geldgeber die Vollendung von Fontanares' Modell, das von unbezahlten Arbeitern und Wucherern als wertloses Eisen zerschlagen, auf offenem Markt feilgeboten wird. Quinola hat indessen insgeheim das Modell nachgemacht und in einem Kellerversteck geborgen, Fontanares kann ausfahren. Doch die Brancadori hat im Verein mit dem Großinquisitor, der durch die neue Erfindung die geistliche Macht gefährdet glaubt, inzwischen ausgestreut, daß nicht Fontanares, sondern ein geistloser Pedant das Dampfschiff ersonnen habe. Im Grimm über diesen Raub seines Erfinderruhmes, vergrämt durch den Tod seiner geliebten Maria gibt Fontanares das Signal, sein Schiff zu versenken. Der Großinquisitor ist hocherbaut, den Sieg des Dampfes im Zeitalter Calvins vereitelt zu haben und Fontanares flieht nach Frankreich, wo er als Gefährte der nicht von ihm lassenden Brancadori mit Quinolas Beistand, an der Wahrheit verzweifelnd, um sein Liebes- und Lebensglück betrogen, im Reich der hohen Politik sich nach allen Regeln der Perfidie betätigen will. Balzacs Drama ist vielfach ein Selbstbekenntnis, ein Wehruf und Rachegelübde des bös- und mutwillig von der Mitwelt mißhandelten Neuerers, der auf den Triumph des »Eisens über das Gold« baut und zuletzt nach allen Enttäuschungen frei nach Chamfort sagt: »il faut que le cœur se brise ou se bronze« – das Herz muß brechen vor Schmerz oder sich verhärten zu Erz. Soweit und in einer Fülle von Einzelfiguren, auch in der spanischen Zeitfarbe, in dem fanatisch-absolutistisch-ultramontanen Hintergrund weist das Drama bedeutende Vorzüge auf. Verwirrung bringt nur das Zuviel der Doppelintrigen, das Ränkespiel der Kurtisane, der Geldmagnaten und Schranzen, das die Grundmotive, die Martyrien des Erfinders verdunkelt.

Wesentlich anders und belangreicher als Vautrin, erlitten die Ressources de Quinola bei der Uraufführung dennoch das gleiche Schicksal eines riesigen Theaterskandals. An Torheiten hatte es Balzac schon bei der Vorlesung im Kreis der Schauspieler und bei der Besetzung der Rollen nicht fehlen lassen. Er kam in das Odeontheater mit dem unfertigen Manuskript und hielt nach dem vierten Akte vor der verblüfften Korona mit der Bemerkung inne, den Schlußakt könne er nur mündlich andeuten: eine Neuerung, die Mademoiselle Dorval, die weibliche Größe dieser Bühne, bestimmte, auf jede Mitwirkung in dieser Komödie zu verzichten. Noch toller war aber Balzacs Anlauf, den Verkauf sämtlicher Plätze selbst in die Hand zu nehmen: er setzte die Preise fest, erklärte es als eine Gunst, dieser »Solennität« zugezogen zu werden, zählte zuversichtlich auf das Erscheinen der Castries, der Rothschild, Aguados usw. in den »fashionabelsten« geschlossenen Logen. Die schönsten Frauen sollten in den offenen Logen paradieren. Der heikelste Punkt war aber: Ausschluß aller Berufsklatscher; die sonst den bezahlten Claqueuren angewiesenen Parterreplätze sollten für fünf Franken verkauft werden. So löblich Balzacs Beginnen war, dem Unfug der Lohnklatscher ein Ende zu machen, am Tag vor der Premiere paktierte der Direktor doch mit dem Hauptmann der Rotte, der trotzdem mit seinen »Bravi« Balzac sein ursprüngliches Unterfangen so wenig verzieh, wie die zuerst schnöde ausgeschlossene, dann doch zugelassene Journalistik. Am schlimmsten aber war, daß Balzac in einer Hauptfrage sich von dem Direktor überrumpeln, zur Wahl ganz unzulänglicher Darstellerinnen für die Brancadori und Marie bereden ließ: der unbemittelte Theaterleiter wäre nicht in der Lage gewesen, gute Kräfte zu bezahlen. Vergebens hatte Balzac Bekannten und Freunden gemeldet, daß neue Dekorationen und Kostüme mit einem Aufwand von 20 000 Franken ungeahnte Herrlichkeiten zeigen, daß Lamartine und Martinez de la Rosa zur Stelle sein würden: die meisten Sitze blieben unverkauft, der Saal war halb leer, die Stimmung von Anfang gereizt. Der Prolog ging gut vorüber: nur die Verleihung des Grandentitels »Neptunado« weckte heiteren Widerspruch; in den folgenden Aufzügen belustigten sich die Hörer immer ungebärdiger; die Lohnklatscher wurden niedergezischt; im Paradies und im Parterre wurden Tierstimmen Kikerikis und I-As nachgeahmt und mit wenigen Ausnahmen verhöhnten die Kritiker am nächsten Tag Stück und Autor. Den Mißerfolg im Schauspielhaus nahm Balzac so gleichmütig hin, daß man ihn lang nach Schluß der Vorstellung um halb ein Uhr nachts in einer Loge schlafend und schnarchend fand. Hinterdrein machte sich sein Groll hitziger Luft: er hatte den Saal für die Uraufführung mit 5000 Franken gemietet und keine 2500 eingenommen; vier Monate waren mit Vorbereitungen und Proben hingegangen, vier Monate, die ihm (wie er Eva klagte) mit anderen Arbeiten 15 000 eingebracht hätten, indessen ihm Quinola keine 5000 tragen werde: »man hat mich in allem betrogen, im Vertrag mit dem Theater und mit der Erfüllung dieses Vertrages.« Die Buchausgabe leitete er mit einer »engelsmilden«, stoff- und geistreichen Vorrede ein. Er gedenkt des Anteils, den Victor Hugo, der die Komödie zweimal ansah, Lamartine, Madame de Girardin und Gozlan den »Ressources de Quinola« bezeugt haben. Mit Recht bezeugt haben. Künstlerisch und biographisch gebührt dem Stück Beachtung: die Hilflosigkeit kindlich unerfahrener Phantasiemenschen findet überzeugende Bilder, Töne, Gleichnisse und das Bewußtsein der überlegenen Kraft läßt Fontanares den Sieg von einer einsichtigeren Nachwelt allerdings mit der bitteren Wendung erwarten: »Wenn Ihr das Gute schlecht vollbringt, vollbringt Ihr dafür jederzeit das Schlechte desto besser.«

Der Verlust seiner zweiten großen Theaterschlacht entmutigte Balzac nicht; seinem robusten Wesen hätte die Wehleidigkeit Grillparzers widerstrebt, der nach der üblen Aufnahme seines Lustspiels »Weh dem, der lügt« ein für allemal sich in den Schmollwinkel zurückgezogen hatte. Nach wie vor entwarf und schrieb er Stücke, für die er Mitarbeiter, Direktoren, Darsteller warb; bis an sein Lebensende sagte er sich, er werde sich allen Zweiflern zum Trotz als Dramatiker durchsetzen, wie er sich nach zehn harten Lehrjahren als Erzähler überragende Geltung, einen Weltnamen errungen hatte. Und da dieser rastlose Geist keinen Stillstand kannte, öffnete er sich und den Lesern unablässig neue Horizonte, mehrte er mit jahraus, jahrein hinzukommenden, immer umfassenderen Sittenschilderungen sein künstlerisches Verdienst und die Größe seines Lebenswerkes. Reichen Erntesegen brachten ihm also die letzten dreißiger und die ersten vierziger Jahre.

Die » Employés« (1836-1838) decken das Getriebe der damaligen französischen Bureaukratie auf, »eine Riesenmacht, von Zwergen gelenkt«. Ein staatsmännisch angelegter Subalternbeamter, Rabourdin, arbeitet ein bedeutendes Reformprojekt aus, das Verminderung der Beamtenzahl, Vereinfachung des Geschäftsganges, Auslese der Tüchtigsten bezweckt; seine geheimgehaltene Denkschrift geht unbefangen ins Gericht mit den allzuvielen Faulenzern und Müßiggängern des Ministeriums; ein Spion bemächtigt sich dieses Dokumentes, das er gehässig ausbeutet; ein Spottbild Rabourdins als Schlächter des Federviehs im bureaukratischen Geflügelhof geht um, das nicht nur seine Berufung auf einen erledigten höheren Posten unmöglich macht: ein tief unter der Mittelmäßigkeit stehender Schützling der Sakristeien läßt seine geizigen, kleinbürgerlichen Verwandten in dieser Krise Monstranzen stiften; zugleich wird ein verschuldeter Oberbeamter durch rechtzeitig aufgebotene Wucherer dermaßen bedrängt, daß Rabourdin verabschiedet, von allen fallen gelassen, ohne Dank und Auszeichnung seinen Platz diesem Dümmling einräumen, ein neues Dasein in der Industrie suchen muß. Rabourdin ist der Träger von Balzacs eigenen Einwürfen gegen die Vielschreiberei, den geschäftigen Müßiggang und die Vergeudung von Steuergeldern an die viel zu vielen und doch unterzahlten Stellenjäger, die er mit den wenigen, tätigen »Commis« des Ancien régime und den dazumal für das ganze österreichische Kriegsministerium ausreichenden 100 Beamten kontrastiert. Rabourdins Frau ist (wie die Employés zuerst betitelt waren) in Wirklichkeit une femme supérieure: tugendhaft, gesellschaftlich gewandt und, trotz aller lockenden Versuchungen, dem gealterten Präsidialisten Lupeaulx auch nicht um den Preis des Avancements ihres Mannes gefügig. Die Charakteristiken des Ministers und von Dutzenden Beamten aller Rangklassen sind humoristische Meisterstücke; stumpfe Idioten finden sich zusammen mit frechen frivolen Nichtstuern, die wie Bixiou (in dem man einen Doppelgänger des leibhaftigen Monnier finden wollte) in Vaudevilles, Spottreden und Karikaturen sich austoben. Mit gleicher Bosheit und Schärfe, die Wahrheit nicht ausschließt, porträtiert Balzac die Gegenspieler, den im Sumpf des engherzigsten, frömmlerischen, habgierigen Philisteriums gedeihenden Nebenbuhler Rabourdins; den schuftigen, von allen geächteten Spion; den durch Güte rührenden, biederen Hohlkopf Phellion, der Monniers Prudhomme an Gemeinplätzen überbietet. Unvergeßbar festgehalten ist die Moderatmosphäre der Kanzleien mit dem Wesen und Unwesen der Amtsdiener, und nur zu dauerhaft erscheint der auch außerhalb Frankreichs immer wiederkehrende Typus des Präsidialisten Lupeaulx, ein zynischer Lebemann und unzuverlässiger Oberstränkemeister, der mit jedem Wind segelt und mit Geist und List in jeder Niedertracht sich äußerlich salviert.

Heilung nicht bloß dieser, sondern aller Not und Verderbtheit wäre nach Balzac von geistlichen und weltlichen Erziehern der Massen zu holen: Zeuge dessen, wie zuvor der Landarzt, » Le curé de village« (1839); ein Dorfgeistlicher, der in Land und Volk Wunder zu wirken imstande wäre. Die Tochter blutarmer auvergnatischer Kesselflicker, Veronika Sauviat, die durch harte Arbeit und kluge Spekulationen Millionäre werden, ist der Abgott ihrer Eltern, die mit der Wahl des reichsten Mannes von Limoges zu ihrem Gatten ihr bestes zu tun glauben. Der Bankier Graslin, ein unschöner Geizhals, gewinnt aber nicht ihre Liebe; die fällt einem Arbeiter, Tascheron, zu, den ihr vormals ihr Vater als Schützling ans Herz legte. Tascheron verträgt auf die Dauer die Heimlichkeit ihres Verhältnisses nicht. Er will mit ihr fliehen. Die Mittel zur Reise nach Amerika soll ihm der Diebstahl des vergrabenen Goldes eines anderen Geizteufels verschaffen; bei seinem nächtlichen Raubversuch ertappt, tötet er den Bestohlenen und dessen Magd. Vor Gericht schweigt er über den Grund seines Verbrechens und wird zur Hinrichtung verurteilt. Madame Graslin, die guter Hoffnung ist, versucht vergebens den Staatsanwalt zu bewegen, die Anklage nicht auf vorsätzlichen Mord zu erheben und dadurch Tascheron vor dem Schafott zu bewahren. Der Verurteilte tobt im Gefängnis, jedem Zuspruch, jedem Beichtiger unzugänglich, bis der Geistliche seiner Heimatsgemeinde, einer weltverlassenen, verkommenen Pfarre, vom Bischof berufen wird. Dieser Landpfarrer, ein Seelenhirt, wie er sein soll, stimmt Tascheron um, der bekehrt und reumütig endet. Madame Graslin kauft nach dem Tod ihres Gatten die Wildnis, aus der Tascheron stammt, und verwandelt, beraten vor allem durch den Landpfarrer, der nicht nur ein Heiliger, sondern ein ideenreicher Kolonisator ist, diese Wüste in zukunftsreichen Fruchtboden. Gesegnet von ihren Schutzbefohlenen, ihrer Güte und Mildtätigkeit wegen angebetet, bewundert als Tugendmuster geht sie doch zugrund an ihrer Gewissensschuld. Tascherons Familie war nach Amerika ausgewandert, wo sie ein »Tascheronville« gründeten; die Schwester des Gerichteten hielt es aber dort nicht aus: ihre Heimkehr gab Madame Graslin den Todesstoß durch den Schreck beim Anblick der Trauernden, die Madame Graslins (und Tascherons) Söhnchen umarmte mit dem Schmerzensruf »Dear brother.« Sie sühnt, indem sie auf dem Totenbett das Geheimnis ihrer sündigen Liebe enthüllt (die aufregende Schilderung ihrer letzten Ölung hat vielleicht auf den gleichen Akt in Flauberts Madame Bovary gewirkt, der allerdings eine ähnliche Szene in Sainte-Beuves Volupté voranging). Zwischen Anfang und Abschluß des nicht vollkommen nach Balzacs Absichten zu Ende geführten Werkes liegen 7-8 Jahre, so daß Ungleichmäßigkeiten fühlbar werden. Die Charakteristik der alten Sauviats mit der Schilderung ihres Eisengeschäftes in Limoges ist ebenso einzig wie die Jugendgeschichte Veronikas, deren schuldloser Sinn durch »Paul et Virginie« entzündet wurde. Mächtig, wie die Fahrt des Abbé Rastignac zum Landpfarrer, wirkt Stimmung und Darstellung dieser Einöde, Landschaft und Menschenschlag. In allen Fährlichkeiten von Haupt- und Nebengestalten erscheint als Allheilmittel geläuterter Katholizismus. Wie im Landarzt der Wilderer durch Doktor Benassies politische Lehren auf die rechte Bahn geleitet wird, bewirkt im Landgeistlichen christliche Barmherzigkeit die Seelenrettung des entlassenen Galeerensträflings Farrabesche, der sonst die Wege Vautrins wandeln könnte; Farrabesche geriet unter die Chauffeurs, als er sich der Wehrpflicht unter Napoleon entzog; die Frevel seiner Bande brachten ihn auf die Galeere; sein Mißgeschick hinderte den Auswürfling, seine treue Landsmännin zu heiraten und ihren Bastard zu legitimieren. Madame Graslin im Bunde mit dem Idealgeistlichen Bonnet lassen das Paar der Heilslehren und Segnungen der Kirche und der Rechte des Staates teilhaftig werden. In seiner Abgeschiedenheit versteht der Landpfarrer nicht nur mit Worten rauhe verirrte Gemüter zu läutern; er weiß, wie Ödland urbar gemacht, berieselt, besiedelt werden könnte. Mit fachmännischen Helfern möchte er eigentlich ganz Frankreich nach seinen Methoden umgestalten. Verfehlt und für die Zukunft des Vaterlandes gefährlich dünken diesen Reformatoren die Neuerungen der Liberalen: Balzac hält Peyronnet und Karl X. für die berufenen Führer und Ärzte des kranken Frankreichs. Ebenso fragwürdig sind vehemente, vielleicht von seinem Schwager Surville und dessen traurigen Erfahrungen als Ingenieur herrührende Anklagen des verkehrten Systems der Ecole polytechnique, die Mittelmäßigkeiten züchte, Talente in unwürdigen Alltagsdiensten verkümmern lasse. Daß Balzac, wie sonst oft und überoft, dem Protestantismus Schuld an vielem Unheil gibt, ist im »Landpfarrer« so wenig am Ort, wie in der »Lilie im Tal« und der Verherrlichung der Bartholomäusnacht in »Katharina von Medici«. Die Entfaltung des hierarchischen Pompes bei Veronikas letzter Beichte und ihre Bestattung neben dem gerichteten Tascheron stimmt zu Balzacs steter Glorifikation der katholischen Kirche. Es hatte seinen guten Grund, daß Balzac diesen »Landpfarrer« in einem Huldigungsexemplar dem Herzog von Bordeaux (nachmals Graf Chambord) übermitteln ließ.

Und wie mit Beamtenschaft und Klerus befaßte er sich mit der Tonkunst: » Gambara« (1837) und » Massimilla Doni« (1839) bezeugen seine Liebe für die von ihm über alle anderen Künste gestellte Musik; er spielte als Knabe ein wenig Klavier, u. a. ein Salonstück des jungen Herold »Rousseaus Traum«; als Stammgast der Oper schwärmte er für die italienischen Sänger; Rossini war ihm engbefreundet; Liszts Spiel verglich er dem eines Dämons, zog ihm aber, wie Heine, Chopin vor. Der Gipfel aller Kunst war ihm Beethoven, der einzige, der ihm Eifersucht einflößte und höher stand als Mozart und Rossini. Das Finale der C-moll-Sinfonie entrückte ihn in überirdische Sphären: ein Zauberer hob ihn in eine Wunderwelt, inmitten der schönsten Paläste, die alle Herrlichkeiten aller Künste vereinigen: auf sein Geheiß öffnen sich Pforten, gleich den Toren des Florentiner Baptisteriums, Purpurvorhänge rauschen auf, Wohlgerüche verbreiten sich, Engel mit schimmernden Fittichen zeigen sich, Schönheiten ungeahnter Pracht steigen auf, die Feen der Phantasie. In Dichtung und Leben, auf den Höhepunkten des eigenen und des Geschickes von Lieblingsgestalten (so bei der Verklärung Cäsar Birotteaus) zieht ihm nichts Beseligenderes durch den Sinn, als Beethovens Fünfte Sinfonie.

In »Gambara« steht Meyerbeers dazumal neuer »Robert der Teufel«, in Massimilla Doni Rossinis Mosé im Mittelpunkt der Kunstgespräche. In das überschwengliche Lob der Meyerbeerschen Oper mischen sich einzelne Vorbehalte. In Rossinis Mosé, von dessen Aufführung im Fenicetheater zu Venedig berichtet wird, hört die Jugend- und Frauenwelt der dazumal unter österreichischer Herrschaft stehenden Märchenstadt den Weckruf der nationalen Befreiung, Gambara träumt eine Zukunftsmusik, ein Zukunftsinstrument (Panharmonium), eine Zukunftsoper Mahomet, deren freierfundenes Textbuch Balzac als schöpferischen Opernlibrettisten bewährt, grundstürzende Musiktheorien, in denen Weisheit und Narrheit sich so seltsam mischen, daß der Treubruch seiner Frau und sein jämmerliches Ende als Pariser Straßenmusikant nicht wunder nimmt. Massimilla Doni, eine keusche Florentinerin, entreißt ihren heißgeliebten, von einer feurigen, buhlerischen Primadonna umstrickten Prinzen Varese durch freiwillige, freudige Hingebung. Gewidmet ist Gambara einem deutschen Musikus Jacques Strunz zum Dank für den Beistand, den ihm dieser Fachmann durch sachkundigen Rat, Vorspielen der Partituren Rossinis und Meyerbeers, Aufschluß über manche Fragen der Theorie der Tonkunst gab. Auch sonst waren Deutsche Balzacs Gewährsmänner für musikalische Dinge. Alphonse Karr berichtet in seinen Denkwürdigkeiten mit Stolz, daß Balzac in einer seiner Geschichten Karrs Vater, einem deutschen Musiker, ein Löbelein geschenkt. Und eine der rührendsten Gestalten des Romanciers ist der französisch radebrechende Schmucke, der pudeltreue Klavierlehrer in der Novelle »Une fille d'Eve«, der für »Le cousin Pons« bis zum Tod ausharrende, selbstlose Lebens- und Musterfreund. Vielleicht klingen in diesen liebreichen Charakteristiken deutscher Musiker Erinnerungen an den Vater von Madame Berny, für Marie Antoinettes aus Wetzlar stammenden Lehrer des Harfenspiels Hinner nach.

Die feine Zeichnung der politischen und gesellschaftlichen Zustände in Massimilla Doni bewies, daß der kurze Aufenthalt Balzacs in der Lagunenstadt auch für die Kunst nicht verloren gewesen; an der Corinna der Staël, den venezianischen Geschichten der Sand und am allerwenigsten an Stendhals italienischen Romanen und Novellen soll und kann Massimilla Doni nicht gemessen werden. Wohlberaten hat es Balzac auch als Erzähler bei diesem einzigen Abstecher nach Hesperien bewenden lassen. Die französischen Frauenbilder, die er um dieselbe Zeit schuf, scheinen glaubhafter. Er selbst ergötzte sich an der Lügenbeichte seiner »Pariser Prinzessin: › Les secrets de la princesse de Cadignan‹ (1839): die hochaufgehäuften Lügen, durch die diese siebenunddreißigjährige Frau es fertig bringt, von ihrem vierzehnten Bewunderer«, es ist der Weise d'Arthez, »für ein heiliges, tugendhaftes, schamhaftes Mädchen gehalten zu werden. Frau von Girardin nannte sie Molières Célimène, wie sie Liebe girrt. Ein gleiches kommt in allen Landen und Zeiten vor: das Meisterstück war, all diese Lügen als notwendig, durch die Liebe gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Es ist einer der Krondiamanten Ihres Dieners.« Und diesem Bildnis einer ebenso verruchten als verführerischen Siegerin ist das Porträt » Une fille d'Eve« (1838) ebenbürtig: eine ebenso unverdorbene blutjunge Frau, die einen innerlich leeren, haltlosen Modeautor als ein Genie in ihr Herz schließt, für seine Scheinherrlichkeit als Zeitungsleiter mit Hilfe des arglosen Klavierlehrers. Schmucke die größten Geldopfer bringt, um glücklicherweise in zwölfter Stunde vor dem Äußersten bewahrt zu werden: der vermeintliche Vorkämpfer der Überzeugungstreue ist ein Schwächling wie Lucien de Rubempré; das Ideal ihrer schwärmerischen Neigung lebt von den nicht durchweg lauteren Einnahmen seiner Geliebten, einer vielerfahrenen Komödiantin.

Eine Galerie nach der Natur gemalter Frauenköpfe umschließt die Bandreihe » Beatrix«. Bei seinem Besuch in Nohant hatte ihm George Sand von den Liebeshändeln der Gräfin d'Agoult erzählt, der Lebensgefährtin Liszts, der Mutter Cosima Wagners, die als Schriftstellerin den Namen Daniel Stern führte und nachmals die Geliebte Emil de Girardins wurde: auf Anregung der Sand gab Balzac in Beatrix (1839: das Buch hieß ursprünglich »Les amours forcés«) einige Abenteuer der Gräfin d'Agoult zum besten, nicht als Schlüssel-, noch weniger als Steckbriefroman, doch immerhin so lebenskenntlich, daß Camille Maupin ein Bild der George Sand in voller Lebensgröße, Beatrix das der d'Agoult, Gustave Planche und Liszt unter den Decknamen Claude Vignon und Conti vor Augen stellt. Nicht bloß zum Dank für diesen Prachtstoff, vielmehr als Denkzeichen herzlicher Kameradschaft widmete Balzac der Sand die » Mémoires des deux jeunes mariées« (1871): den Briefwechsel zweier seit der Klosterschule miteinander befreundeter Aristokratinnen, von denen die eine in der Provinz eine Konvenienzehe eingeht, während die andere nur dem Zug ihres Herzens folgt und zuerst einen spanischen Sprachlehrer zum Mann ihrer Wahl ausersieht, der sich als Abkömmling der Herzoge von Soria entpuppt, dann den Dichter Gaston heiratet, von dem sie sich verraten glaubt: ein Wahn, um dessentwillen sie freiwillig vorzeitigen Tod sucht. In der Gegenüberstellung dieser beiden grundverschiedenen Frauennaturen, der Romantischen und der Nüchternen, bekennt sich Balzac entschieden zur Sache der Familie, die er als Fundament aller gesellschaftlichen Ordnung ansieht: im Widerspruch zu George Sand als Stimmführerin des unbedingten Rechtes der Selbstbestimmung des Weibes, der fessellosen Leidenschaft. Und nicht bloß im Hochadel und in Paris sucht er seine Urbilder: eine seiner gelungensten Frauengestalten ist » La vieille fille« (1836): die alte wider Willen, selbst in der Ehe, zur ewigen Jungfernschaft verdammte reiche Erbin; eine einfältige Alençoner Provinzialin und hirnlose Betschwester, die grundgut, nur urteilslos weder für einen alten galanten Legitimisten noch für einen genialen Jüngling, sondern nach allzu langem Zaudern für einen äußerlich als Kraftmensch erscheinenden Mitgiftjäger sich entscheidet, der nach der Julirevolution Maire und Führer der liberalen Bourgeoisie wird. Seine auf den Wink gehorchende Gattin tyrannisiert er dermaßen, daß sie nur einer vertrauten Bekannten gegenüber am Ende ihrer Tage schamhaft das Bekenntnis stammelt, sie würde wünschen, nicht als Jungfrau aus der Welt zu gehen.

Eine Märtyrerin ganz anderer Art ist das bretonische Waisenkind » Pierrette« (1840), ein liebliches, von einem Jugendgespielen und der Großmutter in der Heimat zärtlich gehegtes Geschöpf, das in die Fremde zu harten, engherzigen Verwandten kommt, die sie zu Magddiensten mißbrauchen, um ihr kleines Erbe bringen, mißhandeln und buchstäblich zu Tode peinigen. Richard Wagner nahm besonderen Anteil an Pierrette: er schätzte (wie mir Fürstin Marie Hohenlohe schrieb) Balzacs » Curé de village« ungemein hoch. Das »Nein« der Veronika in Erwiderung des sie beruhigenden Bischofs fand er prachtvoll und brach einmal über das andere in den bewundernden Ausruf aus: »was das doch für ein begabter Mensch gewesen ist«. Er rühmte die Abwesenheit alles Exklamativen in seinem Stil und hob unter besonderer Berufung auf Pierrette und ihr erbarmungsloses Schicksal die unvergleichliche Gabe des Dichters hervor, sich so in das Detail eines anscheinend unbedeutenden Wesens zu versetzen, und aus ihm heraus die Natur alles Menschenschicksals zu deuten.« Auch die literarischen Ambitionen von Provinzialinnen, die Balzac schon in der Gönnerin Lucien de Rubemprés, Madame de Bargeton, gestreift hatte, behandelte er in der » Muse du département« (1840). Ein halbes Menschenalter lang thront Dinah Piédefer als unberührte Gattin eines siechen, nur auf Mehrung seines Besitzes bedachten Monsieur de la Baudraye in Sancerre als unbestrittene, literarisch dilettierende Salonkönigin; als zwei aus Sancerre gebürtige Pariser Berühmtheiten, der Arzt Bianchon und der Journalist Lousteau, zufällig in ihren Heimatsort kommen, entdeckt der Doktor bald, aus welchem Punkt Dinah zu kurieren wäre, und die Witzfeuerwerke Lousteaus blenden sie so sehr, daß sie ihm nach Paris folgt und ein paar Jahre lang mit ihm die Süßigkeiten und Bitternisse verlotterter Zigeunerwirtschaft teilt. Ein ihr unversehens zufallendes Erbe bestimmt ihren vorurteilslosen Gemahl, sie zu bitten, zu ihm zurückzukehren: der Sohn ihres Ehebruchs ist ihm ein willkommener Stammhalter. Und auch als Lousteau, der im Elend ewiger Geldnot einen schmählichen Bittgang zu Dinah unternimmt, sie wiederum in einem jähen Tumult des Blutes zu einem kurz währenden Rückfall verleitet, läßt sie der duldsame Gatte gewähren und brüstet sich der neuen Frucht des Ehebruches als seines eigenen Fleisches und Blutes.

In der Provinz wächst auch › Ursule Mirouet‹ (1841) auf, das Kind eines Militärkapellmeisters, dessen sich ein greiser, begüterter, atheistischer Arzt, Minoret, nach dem Tod des Vaters als Vormund annimmt; er setzt sich in Némours zur Ruhe und hütet das ihm blutsverwandte Mädchen wie seinen Augapfel. Mit wenigen auserlesenen Freunden führt er mit Ursule ein idyllisches Leben, das durch ein übersinnliches Ereignis Minorets Bekehrung zum Kirchenglauben bewirkt: der Zweifler, der jahrzehntelang alle Anhänger Mesmers befehdet hat, wird durch (von Balzac als unwiderleglich angesehene) Fernwirkungen von der Unanfechtbarkeit des Magnetismus überzeugt und damit auch von Voltaire ab-, der reinen Religion zugewendet. Die Erbschleicher seiner Némourser Angehörigen schreiben diese Wandlung dem Einfluß der von ihr bestgehaßten Ursule zu. Das unschuldige Mädchen hat ihre Neigung einem Leichtfuß aus uraltem, bretonischem Geschlecht geschenkt, den Unbedacht in den Pariser Schuldturm gebracht hat. Dem inständigen Bitten Ursules gelingt es, Doktor Minoret zu bestimmen, für den jungen Portenduère, den Ursule noch nie gesprochen hat, als Befreier mit Vorschüssen einzugreifen. Minoret will Ursule sein Vermögen hinterlassen und jedem Erbstreit durch besondere Maßregeln vorbeugen. Seine Vorsicht wird zunichte durch den verbrecherischen Zugriff eines plumpen, schwer reichen Postmeisters seiner Familie, der Minorets geheime Anweisungen vernichtet und die zum besten Ursules verborgen gehaltenen Staatspapiere sich aneignet. Ursule wird, verarmt, von der Sippe Minorets aus seinem Haus vertrieben. Sie trägt ihr Geschick würdig, doch, obwohl Portenduère treu zu ihr hält, wäre ihre Zukunft aussichtslos, wenn nicht – wie für Doktor Minoret seinerzeit der Magnetismus – für sie selbst Geistererscheinungen Umschwung heraufführen würden. Im Traum sieht sie Doktor Minoret, der ihr bis ins kleinste die Missetaten des Postmeisters enthüllt, und da »der Finger Gottes« auch den einzigen Sohn des Postmeisters durch einen Wagenunfall umkommen läßt, wird Ursule Minoret Universalerbin, Vicomtesse von Portenduère, nach allem Unheil mit Seligkeiten und Glücksgütern aller Art belohnt. So meisterhaft der Werdegang Ursules entwickelt wird, so vortrefflich Nemours, Doktor Minoret, die Biedermänner seiner Spielpartie und die Meute der Erbschleicher gemalt sind: über die magnetischen Kuren und die Geistererscheinungen kommt der Unbefangene nicht weg.

Zwiespältigen Eindruck hinterlassen auch die Geschichten, in deren Mittelpunkt » Cathérine de Médicis« (1841) steht. Die historische Würdigung ihrer Persönlichkeit hat der Protestant Guizot unbefangen in dem Urteil zusammengefaßt: »Wenn man vom Standpunkt der Moral Katharina von Medici nicht streng genug richten kann, muß man doch inmitten so vieler Laster ihre Verdienste nicht übersehen: sie hatte Sinn für das Königtum und Frankreich; sie verteidigte gegen die Guisen und Spanier die Unabhängigkeit der Herrscher und des Landes, die sie weder den extremen Parteien noch dem Ausland ausliefern wollte.« Balzac stimmt dagegen einen vorbehaltlosen Panegyrikus an, den seine eigenen Angaben am grellsten widerlegen. In ihrer Herrschsucht nimmt sie kalten Blutes den Tod ihrer Söhne Franz II. und Karl IX. hin, sofern sie ihn nicht geradezu beschleunigt; im Streit gegen die Guisen ist ihr geheimes Einverständnis mit den Calvinern oder doch die Anbahnung derartiger Verbindungen recht. In Erreichung ihrer geduldig verfolgten Ziele meidet sie keine Scheußlichkeit. Ihre Schwiegertochter, Maria Stuart, ist ihr eine Schachfigur. Ihre Helfer und Berater sind Giftmischer, Astrologen, Alchimisten. Im » Secret des Ruggieri« (1836/37) prophezeien diese welschen Wahrsager Karl IX. frühen Tod; die vom König verhätschelte Favoritin, Maria Touchet, heiratet später, wie Balzac stolz hervorhebt, einen Balzac d'Entragues. Im » Martyre calviniste« (1841) läßt der Zunftoberste der Kürschner, der Katholik Lecamus, den Sohn insgeheim protestantisch erziehen, im Glauben, damit seine Zukunft zu sichern; als Abgesandter des protestantischen Führers Condé kommt dieser junge Lecamus nach Blois. Als Zwischenträger der ketzerischen Parteigänger und Heerführer ertappt, muß ihn die zur Heuchelei gezwungene Katharina für den Augenblick preisgeben; gefoltert, gibt der Standhafte Condés Geheimnis nicht preis und verdient damit die Gunst Katharinas, die sie erst nach dem Tod Heinrichs II. offenbaren kann: mit Karl IX. kommt sie zu seiner Verlobung in sein Elternhaus. Indessen die Navarreser Protestanten ihm mit Hohn heimzahlen (sie fordern den durch die Folter in allen Gliedmaßen Zerbrochenen auf, zu Pferd bei ihnen Kriegsdienst zu leisten), gewinnt ihn die Huld der Mediceerin dauernd dem Katholizismus. Lecamus steigt zu hohen Staatsämtern auf. Eng verflochten mit diesem Familienschicksal eines Bürgerhauses sind, nach Walter Scottschem Muster, die Welthändel. Die Guisen, der Balafré, wie der Kardinal; Condé, Amyot, Renaudin treten auf. Calvin, ein Pikarde, wie Peter der Einsiedler und Robespierre erscheint, in seiner Gicht, Armut, Heftigkeit und Gewalttätigkeit wie Cromwell in Scotts Woodstock und Luther in Freytags Ahnen, nur episodisch und doch sehr bedeutend; wenn so widerstreitende Worte zulässig sind, schildert ihn Balzac mit anerkennender Gehässigkeit im Verkehr mit Bèza und Renaudin, gegen Andersgesinnte grausamer als die Papisten dreinfahrend, zum Meuchelmord gegen den Balafré aufrufend. So frisch nach eigenen Jugend- und Lebenserinnerungen die Loireschlösser gemalt, so sorgsam Tallemant und Neuere, wie Thierry, zu Rate gezogen sind, mit Mérimées aus den Quellen geschöpfter »Chronique du règne de Charles IX« kann Balzacs Katharinenzyklus keinen Vergleich aushalten.

Ganz in seinem Element ist er dafür in der » Ténébreuse affaire« (1841), die in den Tagen um die Zeit der Schlacht von Marengo spielt: ein banger Augenblick, in dem Fouché, Sieyès und Talleyrand, ungewiß, wie die Würfel des Kriegsglückes fallen würden, für die Möglichkeit von Napoleons Niederlage nicht weniger bei den Bourbons vorbauen wollten, als für den Fall seines Sieges bei ihm. Den Mitwisser ihres Geheimnisses, den Senator Clement de Ris, ließ Fouché, als es sich um die Vernichtung belastender Korrespondenzen handelte, am lichten Tag von Verlarvten aufheben, in eine Kutsche setzen und wochenlang unauffindbar in einem Versteck absperren. Balzac hatte, wie zuvor erwähnt, von der Herzogin von Abrantès Näheres über diesen seinerzeit alle Welt aufregenden Streich erfahren und inzwischen den Sachverhalt noch genauer erforscht: manches war nach wie vor unaufgeklärt geblieben und es schien ihm ratsam, die Fabel frei umzubilden. An Stelle von Clement de Ris setzte er einen Emporkömmling Malin-Gondreville, der als Konventsmann und Freund von Fouché und Talleyrand von Stufe zu Stufe stieg und durch Kauf adeliger Güter sich bereicherte. Balzacs Roman verknüpft die »dunkle Begebenheit« mit einer aristokratischen Verschwörung gegen das Leben Napoleons; der Herd dieser Konspiration ist ein Schloß der Cinq-Cyran-Simeuse; der Verwalter ihrer Besitzungen ist ein »Judas« gescholtener Ausbund von Treue, der zur Schreckenszeit den Jakobinerklub von Arcis präsidierte, um desto unverdächtiger seiner früheren adeligen Herren sich annehmen zu können. Ein Todfeind des Güter erschleichenden Malin-Gondreville hat der verschlagene Tausendkünstler die geächteten Simeuses im unterirdischen Gewölbe einer Waldklosterruine zeitweilig verborgen. Als auf Geheiß Fouchés Malin-Gondreville entführt und gefangengehalten wird, läßt ihn der Polizist Corentin ebendorthin bringen. Dieser rachsüchtige Geheimagent Fouchés will zugleich sein Mütchen kühlen an der hochmütigen, schönen Legitimistin Gräfin Laurence von Cinq-Cyran, die bei der Hausdurchsuchung im Schlosse Simeuse Corentin mit der Reitpeitsche über die Hand schlug. Die Schuld des Brandes im Schlosse Malin-Gondreville, durch den die gefährlichen Papiere aus der Welt geschafft wurden, schiebt Corentin auf Michu und die Aristokraten. Michu wird hingerichtet, die beiden jungen Simeuse begnadigt Napoleon dazu, Kriegsdienst zu leisten, nachdem Laurence von Saint-Cyran im Lager von Jena Verzeihung von ihm erfleht hat. Napoleons Ruhe, Einfachheit und Größe im Schlachtengewühl ist mit sicheren Meisterzügen festgehalten. Als die Royalistin von der »Unschuld« der Opfer spricht, antwortet er: am nächsten Kampftag würden 30 000 und mehr ebenso Schuldloser, Genies, Ideologen fallen. Die »Ténébreuse affaire« ist ein mit seltener Kunst alle Mittel der Spannung gebrauchender Kriminalroman. Ein Kabinettsstück für sich sind die Gerichtsszenen mit den Reden der Anwälte, den Fälschungen der Aussagen und dem gemeingültigen Hinweis, daß überoft sieben Achtel der Tatsachen verdunkelt oder verschwiegen, Nebendinge vorangestellt, die Hauptfragen beiseite geschoben werden. Der geheime Konseil, den Sieyès, Talleyrand, Fouché vor Marengo halten, um in beiden Lagern gedeckt zu bleiben, offenbart die Reinekenaturen dieser weltgeschichtlichen Persönlichkeiten mit überlegenem Hohn: der Wahrhaftigkeit Carnots läßt auch Balzac bei diesem Anlaß Gerechtigkeit widerfahren. In einem denkwürdigen, in späteren Ausgaben leider weggelassenen Vorwort gibt er wichtige Aufschlüsse, die ihm ein Oberst Viriot und ein Parteigänger Frantz zur Ergänzung seiner Angaben nach dem ersten Abdruck der »Ténébreuse affaire« im Zeitungsfeuilleton zuteil werden ließen. Das Ganze wirkt wie eine Vorahnung der Dreyfusaffäre.

Spielt die »Ténébreuse affaire« in den Tagen Napoleons, so führt » La rabouilleuse« in die Kreise der nach seinem Sturz beruflos gewordenen Landsknechte. Zwei Brüder Bridau, von denen der eine, Joseph, ein großer Maler wird, indessen der verabschiedete napoleonische Offizier Philipp sich zum moralischen Ungeheuer auswächst, sollen um ihr Familienerbe gebracht werden. In Issoudun hält ein Landmädel, das als krebsfischendes Barfüßele, schön wie eine tizianische Venus, einen alten Geizkragen berückte, nach dessen Tod dessen halb idiotischen Sohn in ihren Fängen. Die tyrannische Mätresse wird selbst wiederum beherrscht von einem Abenteurer, Max, der gleichfalls in napoleonischen Feldzügen und hernach in englischer Gefangenschaft ein verwegener Tunichtgut geworden ist, der in Issoudun als Häuptling gleichgesinnter Faullenzer mit seinem Geheimbund der »Chevaliers de la désœuvrance« Schabernack über Schabernack zum Possen der Pfahlbürger ins Werk setzt. Durch ausgesuchte Frechheiten und Tücken reizt er einen spanischen Getreidehändler, dessen Karren er mit seinen Helfern auf die Höhe des Turmes von Issoudun zur Nachtzeit hebt, von wo er ihn herabschleudern und zu Scherben schmeißen und dessen Kornvorräte er durch boshaft in die Kirchenräume gesandte Mäuse halb aufzehren läßt; der Spanier nimmt mit Philipp Bridau zu gegebener Zeit Rache. Philipp Bridau wäre wie Max in Kriegszeiten vermutlich ein erfolgreicher Kommandant geworden, Schneid' und Tollkühnheit mit äußerster Bedenkenlosigkeit vereinigend. Im Frieden entfalten sich ihre verderblichen Instinkte gemeinschädlich. Max ist ein Müßiggänger, der sich von der Rabouilleuse aushalten läßt. Philipp wird Falschspieler, Defraudant, Dieb; er bestiehlt Bruder und Mutter und raubt seiner alten Tante, einer Lotterieschwester, ihren langersparten Notpfennig, mit dem sie endlich einen Terno machen würde, aus ihrem Strohsack, so daß die Verzweifelnde vom Schlag gerührt stirbt. Herzlos gegen die Mutter, will er ein Rubensbild entwenden, das sein Bruder kopieren sollte. Krankheit und Spitalsnot bringen ihn herab. Als Spion denunziert er politische antibourbonische Verschwörer, denen er sich zum Schein gesellt hat, um sie auszuspähen. Um sein Doppelspiel zu decken, interniert ihn die Staatspolizei in Issoudun. Dort nimmt er den Kampf gegen Max und die Rabouilleuse auf, schafft sich als dekorierter Exordonnanzoffizier Napoleons Respekt, ist als unerschrockener Haudegen im Duell gegen Max siegreich, zwingt die Rabouilleuse nach dem Tod des durch unmäßigen Liebesgenuß zugrundegerichteten Schwachkopfes, ihn zu heiraten, damit er ihr ganzes Erbe verprassen kann. Dann läßt er sie schmachvoll im Elend verkommen. Gegen Mutter und Bruder benimmt er sich, der nach Napoleons Tod zu den Bourbons übergeht, als Militär hohe Stellen erhält, Graf wird, auf den Sprung steht, eine vornehme Hochadelige zu heiraten, so nichtswürdig, daß der ihm halbverwandte Karikaturist und Schauspieler Bixiou sich bei der Aristokratenfamilie vermummt meldet und ihn unmöglich macht durch Erzählung seiner Schandtaten. Philipp endet in Algier in wüstem Kampf mit Arabern, die ihm buchstäblich den Kopf abschneiden: Erbe seiner Titel und Mittel wird sein Bruder Joseph. Unübertrefflich mit seltener (vom Freund der Carrauds, dem Altertumsforscher Pèréme gemehrter) Kenntnis der geschichtlichen Vergangenheit der Stadt ist Issoudun und Frapesle (Sitz und Gut von Zulma Carraud), die Klein- und Großbürgerschaft wie die Bauernschaft der Provinzstadt und ihrer Umgegend vergegenwärtigt. Philipp Bridau ist die Verkörperung des Radikalbösen, in seiner Sphäre ein Richard III.: jede Haupt- und Nebengestalt ist von einem Aug' ohnegleichen geschaut, von einer unfehlbar sicheren Hand geformt; der ganze Roman in seiner knappen Fassung ein Gipfel der Kunst Balzacs.

Überblickt man die Fülle der bisherigen und den Reichtum der im Lauf dieses letzten Halbdutzend von Jahren neu hinzugekommenen Schöpfungen Balzacs, dann ist es wohl zu verstehen, daß drei anschlägige Verleger, Dubochet, Furne, Hetzel, verbündet an eine Gesamtausgabe der Sittenstudien dachten, für die der Dichter auf den Rat aus Italien heimkehrender Freunde den Titel Comédie humaine wählte. Die Publikation sollte 500 Druckbogen, 20 Bände, eine Million Zeilen umfassen und, statt wie in Einzelausgaben 300, zusammen 80 Franken kosten. Die Arbeit, die Balzac auf sich nahm, der seinen alten Text Blatt um Blatt, Satz für Satz, ja Wort um Wort durchsah und beständig änderte, war um so gewaltiger, als er daneben immer neue Werke schaffen sollte. Die Verleger wünschten, daß er der Gesamtausgabe prologiere. Wunderlicherweise wollte er zuerst Davins Introduktionen wiederholen lassen. Dann dachte er daran, George Sand, die ihm für einen ohne ihr Vorwissen in ihrer Revue indépendante eingerückten Schmähartikel seiner »Ressources de Quinola« eine Genugtuung verheißen hatte, an seiner Statt sein Lebenswerk erklären zu lassen. Einsichtig bestimmte ihn der kluge Verleger Hetzel in einem launigen Brief vom Juni 1842, selbst das Wort zu nehmen: wenn er das nicht täte, wär' er ein Vater, der sein Kind verleugne. »Sprechen Sie so sachlich, so bescheiden als möglich: das ist der wahre Stolz, wenn man vollbracht hat, was Sie geleistet haben. Erzählen Sie ganz sachte. Stellen Sie sich vor, Sie wären alt, über sich selbst hinausgehoben. Reden Sie, wie einer Ihrer Helden und Sie werden etwas Nützliches, Unentbehrliches tun. Ans Werk, mein dicker Herr Papa; gestatten Sie einem mageren Verleger also zu ›Votre Grosseur‹ zu sprechen. Sie wissen, daß es in guter Absicht geschieht.« Balzac hörte auf Hetzel und schrieb nach seinem Wort unter Mühen, wie sie ihm ein rundes Buch gekostet hätte, sein einen Bogen starkes Avant-propos, das Vorwort zur ersten Gesamtausgabe der Comédie humaine.

Ouvertüren schreiben Tondichter meist, nachdem ihre Oper zu Ende komponiert, der Grundstock der Themen beisammen ist; so schlägt auch Balzacs Avant-propos Motive an, die leiser und lauter seit seinen Erstlingen in seinen Büchern und Manifesten anklingen. Anfangs war ihm die Idee der »Comédie humaine« wie ein Traum aufgestiegen, »wie eines der unmöglichen Projekte, die man liebkost und entschwinden läßt, eine Schimäre, die lächelt, ihr Frauenantlitz zeigt und alsbald mit ausgebreiteten Schwingen in einen phantastischen Himmel davonfliegt. Allein auch diese Schimäre, wieviel andere Schimären, ward Wirklichkeit, die tyrannisch Gebote auferlegte, die erfüllt werden mußten. Diese Grundidee ergab sich aus dem Vergleich von Tier- und Menschenwelt (humanité et animalité), aus seiner Parteinahme für Geoffroy Saint-Hilaire und dessen Lehre der Einheit der Urform.« »Es gibt nur ein Tier. Der Schöpfer hat sich nur einer und derselben Grundgestalt für alle organisierten Wesen bedient: doch seine äußere Form nimmt das Tier nach dem Milieu an, in dem es sich entwickelt. Die zoologischen Arten stammen aus diesen Unterschieden. Die Verkündung und Erweisung dieses Systems wird die ewige Ehre Geoffroy de Saint-Hilaires bleiben, der in dieser Frage Cuvier besiegte und dessen Triumph in dem letzten Artikel, den der große Goethe schrieb, willkommen geheißen wurde.« In diesem Punkte gleicht nach Balzac die Gesellschaft der Natur: sie schafft, je nach den Kreisen, in denen die Wirksamkeit der Menschen sich entwickelt, ebenso verschiedene Menschenarten, als es verschiedene Tierarten gibt. Soldaten, Arbeiter, Advokaten, Gelehrte, Staatsmänner, Kaufleute, Seefahrer, Dichter, Bettler, Priester unterscheiden sich genau so voneinander, wie Wölfe, Löwen, Raben, Haifische, Lämmer usw. Es gab somit und wird somit jederzeit soziale Arten geben, wie es Tierarten gibt. Und wenn Buffon ein großartiges Werk geschaffen hat, indem er versuchte, in einem Buch die gesamte Zoologie darzustellen, war nicht ein Werk gleichen Schlages für die Gesellschaft zu unternehmen? Die Grenzen einer solchen Natur- und Gesellschaftsgeschichte des Menschen waren aber unvergleichlich weiter zu stecken. Wenn Buffon den Löwen malt, tut er die Löwin mit wenigen Worten ab, während in der Gesellschaft in einer Wirtschaft zwei völlig ungleiche Wesen vorkommen können: die Gemahlin eines Prinzen ist oft nicht wert, das Weib eines Handwerkers zu sein, und die Frau eines Kaufmanns wäre bisweilen würdig die Gattin eines Fürsten zu sein. Die Beschreibung der sozialen Arten war darum, nur im Hinblick auf die beiden Geschlechter, doppelt so umfangreich als die der Tierarten. Zudem gäbe es unter den Tieren wenig Dramen, sie gehen schlankweg aufeinander los, während der Kampf unter den Menschen durch ihre geistigen Anlagen weit verwickelter ist. Buffon fand das Tierleben auch sonst ungemein einfach: das Tier hat weder Kunst noch Wissenschaft, indessen der Mensch nach einem noch zu erforschenden Gesetz bemüht ist, seine Sitten, seine Gedanken, sein Leben in allem, was er seinen Bedürfnissen dienstbar macht, zum Ausdruck zu bringen. So Interessantes emsige Zoographen Réaumur, Charles Bonnet, Haller usw. über das Tierleben zu berichten wissen, unserem Auge erscheinen die Gewohnheiten der Tiere jederzeit dieselben, während Kleidung, Sprechweise, Behausungen eines Fürsten, Bankiers, Geistlichen, Bettlers vollständig verschieden sind und mit den Zivilisationen wechseln. Das neuzuschaffende Werk hatte somit eine dreifache Form: die Männer; die Frauen; die Dinge, in denen sie ihre Sinnesweise verkörpern; endlich den Menschen und das Leben.

In den trockenen, abstoßenden Namens- und Sachregistern, die Historien genannt werden, fehlt für Ägypten, Persien, Griechenland, Rom die Sittengeschichte; Petronius' Gastmahl des Trimalchio reizt unsere Neugier mehr als sie dieselbe befriedigt; und der Abbé Barthélemy setzte sein Leben daran, um von den griechischen Sitten in seinem Anacharsis Kunde zu geben.

»Wie aber war das Schauspiel der 3-4000 eine Gesellschaft repräsentierender Persönlichkeiten anregend zu gestalten? Wie wollte man gleichzeitig dem Dichter, dem Denker, den Massen gefallen, die Poesie und Philosophie in packenden Gemälden verlangen? Ich sah zunächst kein Mittel, in solcher Art eine Geschichte des menschlichen Herzens zu schreiben: denn bis auf unsere Zeit hatten die berühmtesten Erzähler ihr Talent verschwendet, nur ein oder zwei typische Persönlichkeiten zu schaffen, nur eine Seite des Lebens zu malen. In solchen Gedanken las ich Walter Scott. Dieser moderne Finder (trouvère) verlieh einer bisher mit Unrecht sekundär genannten Gattung ein gigantisches Gepräge. Ist es in Wahrheit nicht schwieriger, mit Daphnis und Chloë, Roland, Amadis, Panurg, Don Quixote, Manon Lescaut, Clarisse, Lovelace, Robinson Krusoe, Gil Blas, Ossian, Julie d'Etanges, Onkel Tobias, Werther, René, Corinne, Adolph, Paul und Virginie, Jeannie Dean, Claverhouse, Ivanhoe, Manfred, Mignon Leben strotzende Wesen zu schaffen, als nahezu bei allen Nationen einförmige Vorgänge zu buchen, den Sinn abgetaner Gesetze zu ergründen, Irrlehren zu formulieren oder wie gewisse Metaphysiker (vielleicht zielt Balzac hier auf Hegel) zu erklären, was ist? Vor allem leben fast immer diese großen Persönlichkeiten der Dichtung nur unter der Bedingung, ein großes Bild ihrer Gegenwart zu geben: im innersten Schoß ihres Jahrhunderts gezeugt, rührt sich in ihrer Umhüllung das ganze menschliche Herz, birgt sich in ihnen eine ganze Philosophie. Walter Scott erhob den Roman zur philosophischen Bedeutung der Geschichte, diese Literatur, die von Jahrhundert zu Jahrhundert der poetischen Krone der Länder, in denen die Literatur gepflegt wird, unvergängliche Diamanten einfügt. Er verlieh dem Roman den Geist der alten Zeiten, vereinigte in ihm Drama, Dialog, Porträt, Landschaft, Beschreibung, ließ Wundersames und Wahrhaftigkeit zusammenwirken, dem Schwung der Poesie die Vertraulichkeit schlichter Alltagsrede zur Seite treten. Da er aber weniger ein System ersonnen, als seine Kunstübung im Feuer oder durch die Folgerichtigkeit seiner Arbeit gefunden, hatte er nicht daran gedacht, seine Kompositionen derart miteinander zu verbinden, daß sie eine vollständige Geschichte ausmachen, von der jedes Kapitel ein Roman, jeder Roman eine Epoche gewesen wäre. Indem ich diesen Mangel einer Verkettung, der den Schotten übrigens nicht weniger groß macht, bemerkte, sah ich zugleich das System, das mein Werk begünstigte, und die Möglichkeit seiner Ausführung. Obschon sozusagen geblendet durch die überraschende Fruchtbarkeit Scotts, der immer sich selbst gleich und immer originell ist, verzweifelte ich nicht, denn ich fand die Ursache dieses Talentes in der unendlichen Verschiedenheit der menschlichen Natur. Der Zufall ist der größte Romancier der Welt: um fruchtbar zu sein, muß man ihn nur studieren. Die französische Gesellschaft sollte der Geschichtschreiber und ich nur ihr Schriftführer sein. Indem ich das Inventar der Tugenden und Laster aufnahm, die wichtigsten Ereignisse der Gesellschaft wählte, Typen durch die Vereinigung mehrerer gleichartiger Charaktere bildete, konnte ich vielleicht dahin gelangen, die von so vielen Historikern vergessene Geschichte der Sitten zu schreiben. Mit viel Geduld und Mühe würde ich für das Frankreich des 19. Jahrhunderts ein Buch zustandebringen, das Rom, Athen, Tyrus, Memphis, Persien, Indien uns unglücklicherweise nicht hinterlassen haben und das nach dem Beispiel des Abbé Barthélemy der beherzte und zähe Monteil für das Mittelalter unter wenig anziehender Form versucht hatte. Diese Arbeit war noch nichts; mit solcher Bescheidung auf diese strenge Wiedergabe konnte ein Schriftsteller der mehr oder minder treue Maler menschlicher Typen, der Erzähler von Dramen des Privatlebens, der Nomenklator der Berufe, der Buchführer des Guten und Bösen werden. Mußte ich aber, um ein Lob zu verdienen, das jeder Künstler erstreben soll, nicht den Grund oder die Gründe dieser sozialen Wirkungen erforschen, den verborgenen Sinn dieser ungeheuren Ansammlung von Gestalten, Leidenschaften, Ereignissen aufspüren? Und tat es nicht not, nachdem ich diese soziale Triebkraft, ich sage nicht gefunden, doch gesucht, den natürlichen Prinzipien nachzugehen, zu sehen, worin die Gesellschaften von der ewigen Regel des Wahren und Schönen abirren oder ihr näherkommen? Trotz dieser Ausdehnung der Prämissen, die für sich allein ein Werk sein könnten, verlangte die Aufgabe eine Schlußfolgerung. Die Gesellschaft sollte beschrieben und zugleich die Ursache ihrer Bewegung aufgezeigt werden.«

Ein echter Schriftsteller, den Balzac auf gleiche, wenn nicht sogar auf höhere Stufe stellt als den Staatsmann, muß sich zu festen Grundsätzen bekennen; wie Bonald als oft angerufener Gewährsmann Balzacs verlangt, in Politik und Moral unumstößliche Meinungen haben, denn die Menschen bedürften keiner Lehrmeister des Zweifelns. Das ist nach Balzac die Richtschnur für den monarchischen Schriftsteller. Der Mensch ist weder gut noch böse. Er kommt zur Welt mit Instinkten und Fähigkeiten; die Gesellschaft – weit entfernt davon, ihn zu verderben, wie Rousseau behauptet hat – macht ihn besser; nur die Selbstsucht entwickelt auch seine schlechten Triebe. Dem gegenüber ist, wie Balzac im »Landarzt« als seiner Wahrheit letzten Schluß verkündigte, das Christentum, insbesondere der Katholizismus ein vollständiges System zur Niederhaltung der sträflichen Regungen im Menschen, das größte Element der sozialen Ordnung. Königtum und Katholizismus sind für Balzac verschwistert. Er schreibe im Licht zweier ewiger Wahrheiten – Religion und Monarchie.

Die Anklage, unmoralisch zu sein, weist er zurück. Sokrates und Christus wurden wegen Unmoral verfolgt im Namen der Gesellschaften, die sie umgestalteten oder umstürzten. Seine Fresken können schändliche und verbrecherische Gruppen nicht übergehen; die gewissenhaftesten Moralisten bezweifeln, daß in der Gesellschaft ebensoviel edle als arge Handlungen vorkommen; gleichwohl überwiegen in der »Comédie humaine« mehr tugendhafte als tadelnswerte Persönlichkeiten; Fehler und Missetaten erführen stets ihre menschliche oder göttliche, offene oder geheime Strafe. Darin sei der Erzähler freier als der Geschichtschreiber. Cromwell fand hienieden keine Züchtigung. Usurpatoren wie Hugo Capet und Wilhelm von Oranien beschließen ihre Tage im Naturlauf der Dinge, indessen Karl I. und Heinrich IV. ein gewaltsames Ende finden. Das Leben Katharinas II. und Friedrichs von Preußen verstoße gegen jede Art von Moral, die bürgerliche, wie gegen die für gekrönte Häupter, für Könige und Staatsmänner gäbe es ja nach Napoleons Wort eine kleine und eine große Moral. Auf diese schöne Reflexion seien die »Szenen des politischen Lebens« gegründet. Die Geschichte habe nicht, gleich dem Roman, das Gesetz, dem schönen Ideal nachzustreben; die Geschichte soll oder sollte sagen, wie es ist, während der Roman nach dem Wort von Madame Necker die bessere Welt sein soll. Trotzdem wäre der Roman nichts, wenn er, unbeschadet dieser erhabenen Lüge, nicht in allen Einzelheiten wahr wäre.

Törichterweise wirft Balzac in diesem Zusammenhange Scott vor, in seinen Frauenbildern unwahr gewesen zu sein. Schuld daran gibt er dem Protestantismus: der kenne für die sündige Frau kein Heil; der Katholizismus gönne ihr die Hoffnung auf Entsühnung. Auch anderer, früher geäußerter Lieblingsideen gedenkt Balzac in seinem Künstlermanifest. Er preist den Swedenborgianismus wiederum als christlichen Buddhismus, prophezeit dem Magnetismus, Gall und Lavater, daß sie, vorläufig angefeindet, wie anfangs Columbus und Galilei, glorreichen Siegen entgegengehen und verschweigt auch nicht seine Zugehörigkeit zur mystischen Jüngerschaft des Apostels Johannes.

Über die Gliederung seines Lebenswerkes, die Galerien der Szenen des Privat-, des Pariser, des politischen, des Land- und Soldatenlebens, die analytischen und philosophischen Studien sagt er nach den von ihm Felix Davin in die Feder diktierten, Abschnitt IV eingehender erwähnten »Introduktionen« wenig Neues. »Die Unermeßlichkeit eines Planes,« so heißt es zum Beschluß, »der zugleich die Geschichte und Kritik der Gesellschaft, die Analyse ihrer Übel und die Erörterung ihrer Prinzipien umfaßt, berechtigt mich, wie ich glaube, meinem Werk den Titel zu geben, unter dem es heute erscheint, ›Die menschliche Komödie‹. Ist er zu ehrgeizig? Ist er gerecht? Das wird, wenn das Gesamtwerk abgeschlossen sein wird, das Publikum entscheiden.«

Fast drei Menschenalter sind verflossen, seit Balzac der Mit- und Nachwelt das Endurteil über den Aufbau seiner »Comédie humaine« anheimstellte; sein vorzeitiger Tod hat ihm nicht vergönnt, sein Riesenwerk zum Abschluß zu bringen; ganze Flügel der von ihm wiederholt umgearbeiteten Grundrisse sind gar nicht begonnen worden und wie viel selbst in den frühesten, am weitesten gediehenen Substruktionen, Um- und Zubauten der »Comédie humaine« der Dichter zu ändern und zu ergänzen vorhatte, zeigt der »Katalog der Werke, welche die Comédie humaine enthalten wird«: ein Verzeichnis, das Balzac für eine in Aussicht genommene, zweite Ausgabe der Comédie humaine in 26 Bänden 1845 niederschrieb mit der Fertigung: »A Laurent Jan, le constructeur soussigné de Balzac.«

Katalog der Schriften, die La comédie humaine enthalten wird.

(Über 50 mit * bezeichnete der im ganzen aufgeführten 144 Werke sind nie geschrieben worden.)

Erste Abteilung: Sittenstudien. Zweite Abteilung: Philosophische Studien. Dritte Abteilung: Analytische Studien.

Erste Abteilung: Sittenstudien. Sechs Bücher, 1. Szenen des Privatlebens. 2. Szenen des Provinzlebens. 3. Szenen des Pariser Lebens. 4. Szenen des politischen Lebens. 5. Szenen des militärischen Lebens. 6. Szenen des Landlebens.

1. Szenen des Privatlebens. 4 Bände, 1. *Die Kinder. 2. *Ein Mädchenpensionat. 3. *Ein Gymnasialinternat. 4. Das Haus zur ballspielenden Katze. 5. Der Ball von Sceaux. 6. Memoiren von zwei Neuvermählten. 7. Die Börse. 8. Modeste Mignon. 9. Ein Debut im Leben. 10. Albert Savarus. 11. Vendetta. 12. Eine doppelte Familie. 13. Der Hausfriede. 14. Madame Firmiani. 15. Frauenstudie. 16. Die falsche Mätresse. 17. Eine Evastochter. 18. Oberst Chabert. 19. Die Botschaft. 20. Die Grenadière, 21. Die verlassene Frau. 22. Honorine. 23. Béatrix. 24. Gobseck. 25. Die Frau von dreißig Jahren. 26. Vater Goriot. 27. Peter Grassou. 28. Die Messe des Atheisten. 29. Die Entmündigung. 30. Der Ehekontrakt. 31. *Schwiegersöhne und Schwiegermütter. 32. Eine andere Frauenstudie.

2. Szenen des Provinzlebens. 4 Bände. 33. Die Lilie im Tale. 34. Ursule Mirouet. 35. Eugenie Grondet. 36. Die Ledigen. I. Pierrette. 37. II. Der Pfarrer von Tours. 38. III. Eine Junggesellenwirtschaft in der Provinz. Die Krebsfischerin. 39. Die Pariser in der Provinz. I. Der berühmte Gaudissart. 40. II. *Die Leute mit Runzeln, 41. III. Die Muse des Departements. 42. IV. *Eine Schauspielerin auf Reisen. 43. Die überlegene Frau. Die Beamten. 44. Die Rivalitäten. I. *Das Original. 45. II. *Die Erben Boirouge. 46. III. Die alte Jungfer. 47. Die Provinzialen in Paris. I. Das Kabinett der Altertümer. 48. II. *Jacques von Metz. 49. Verlorene Illusionen. I. Zwei Dichter. 50. II. Ein großer Mann der Provinz in Paris. 51. III. Die Leiden des Erfinders.

3. Szenen des Pariser Lebens. 4 Bände. 52. Die Geschichte der Dreizehn. I. Ferragus. 53. II. Die Herzogin von Langeais. 54. III. Das Mädchen mit den Goldaugen. 55. Die Beamten Irrig von Balzac wiederholt: siehe Nr. 43.. 56. Sarrasine. 57. Größe und Niedergang von Cäsar Birotteau. 58. Das Haus Nucingen. 59. Facino Cane. 60. Die Geheimnisse der Prinzessin von Cadignan. 61. Glanz und Elend der Kurtisanen. I. Wie die Dirnen lieben. 62. II. Wie hoch die Liebe den Greisen zu stehen kommt. 63. III. Wohin die bösen Wege führen. 64. IV. Die letzte Verkörperung Vautrins. 65. *Die Großen, das Hospital und das Volk. 66. Ein Prinz der Bohème. 67. Ernsthafte Komiker (Die Komödianten, ohne es zu wissen). 68. Proben französischer Plaudereien. 69. *Eine Pariser Vedute. 70. Die Kleinbürger. 71. *Unter Gelehrten. 72. *Das Theater, wie es ist. 73. Die Trostbrüderschaft (Die Kehrseite der zeitgenössischen Geschichte).

4. Szenen des politischen Lebens. 3 Bände. 74. Eine Episode der Schreckenszeit. 75. *Geschichte und Roman. 76. Eine dunkle Affäre. 77. *Die zwei Ehrgeizigen. 78. *Der Gesandtschaftsattaché. 79. *Wie man ein Ministerium bildet. 80. Der Abgeordnete von Arcis. 81. Z. Marcas.

5. Szenen des militärischen Lebens. 4 Bände. 82. *Die Soldaten der Republik (Drei Episoden). 83. *Der Beginn des Feldzuges. 84. *Die Vendéer. 85. Die Chouans. 86. *Die Franzosen in Ägypten. I. Erste Episode. 87. II. Der Prophet. 88. III. Der Pascha. 89. Eine Leidenschaft in der Wüste. 90. *Die rollende Armee. 91. *Die Konsulargarde. 92. *Vor Wien. I. *Ein Kampf. 93. II. *Das belagerte Heer. 94. III. *Die Ebene von Wagram. 95. *Der Gastwirt. 96. *Die Engländer in Spanien. 97. *Moskau. 98. *Die Schlacht von Dresden. 99. *Die Nachzügler. 100. *Die Parteigänger. 101. *Eine Kreuzer-Fahrt. 102. *Die Pontons. 103. *Die Kampagne in Frankreich, 104. *Das letzte Schlachtfeld. 105. *Der Emir. 106. *Die Penissière. 107. *Der algerische Korsar.

6. Szenen des Landlebens. 2 Bände. 108. Die Bauern. 109. Der Landarzt. 110. *Der Friedensrichter, 111. Der Landgeistliche. 112. *Die Umgebungen von Paris.

Zweite Abteilung: Philosophische Studien. 3 Bände. 113. *Der Phädon von heute. 114. Das Chagrinleder. 115. Jesus Christus in Flandern. 116. Der versöhnte Melmoth. 117. Massimilla Doni. 118. Das unbekannte Meisterwerk. 119. Gambara. 120. Balthasar Claes oder Die Suche nach dem Absoluten. 121. *Präsident Fritot. 122. *Der Philanthrop. 123. Das vermaledeite Kind. 124. Adieu. 125. Die Marana. 126. Der Requisitionär. 127. El verdugo. 128. Ein Drama am Meeresstrand. 129. Maître Cornelius. 130. Die rote Herberge. 131. Über Katharina von Médicis. I. Der kalvinistische Märtyrer. 132. II. Das Bekenntnis der Ruggieri. 133. III. Die beiden Träume. 134. *Der neue Abälard. 135. Das Elixier des langen Lebens. 136. *Leben und Abenteuer einer Idee. 137. Die Verbannten. 138. Louis Lambert. 139. Seraphita.

Dritte Abteilung: Analytische Studien. 2 Bände. 140. *Anatomie der Lehrkörper. 141. Die Physiologie der Ehe. 142. *Pathologie des sozialen Lebens. 143. *Monographie der Tugend. 144. *Philosophischer und politischer Dialog über die Vollkommenheit des 19. Jahrhunderts.

Auch für diese reichlich gemehrten Sittenstudien wäre der Generalnenner »La comédie humaine«, den Balzac, angeregt durch einen aus Italien heimkehrenden Bekannten, den Marquis de Beiloy, mit einem Streifblick auf die Divina commedia wählte, meines Dafürhaltens nicht zutreffend. An eine Parallele mit Dantes Divina commedia ist nicht zu denken. Eher an Rabelais' Weltspiegel, von dem de Thou sagte: »Scriptum edidit ingeniosum atque vitae regnique cunctos ordines quasi in scena sub fictis nominibus perduxit.« Oder an Shakespeares Vers: »Die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler.«

Am besten und bündigsten umschreibt aber Balzacs Lebenswerk ein Wort seines Mercadet: les romans sont devenus des sermons sociaux: die Romane sind soziale Predigten geworden. Instinktiv ist ihm diese neue Aufgabe in seinen Anfängen aufgedämmert, und mit wachsender Kraft und Einsicht hat er bewußt und unbewußt in lebendigem Anschauungsunterricht die Schichtung der zeitgenössischen Gesellschaft Frankreichs als Lehrmeister und Künstler ohnegleichen erforschen und begreifen lassen. Vorurteile für das Recht der Erstgeburt und gegen Protestantismus und Republik verschulden manchen Irrtum. Die Beschränkung auf zwei- bis dreitausend Personen als Träger der Gesellschaft mußte schon in den Tagen der Saint-Simonisten, Proudhons, Le Plays überraschen. Inzwischen hat sich diese Zahl in den Arbeiterbataillonen seines großen Schülers Zola, im Assommoir und Germinal, vertausend- und verhunderttausendfacht.

Dem Tiefblick, mit dem Balzac die Zusammenhänge der gesellschaftlichen Ordnung geahnt, dem Schöpfergeist, mit dem er diese Ideen dichterisch gestaltet, dem Beispiel, das er – es ist nicht zuviel gesagt – allen nachfolgenden bedeutenden Romanciers Frankreichs gegeben hat, tut das keinen Eintrag. Er durfte sich mit Recht einen Doktor der sozialen Wissenschaften nennen und ohne Überhebung sich berühmen, daß die »Comédie humaine« ihre eigene Geographie und Genealogie, ihr eigenes Wappenbuch, ihren Adel und ihre Bürgerschaft, ihre Handwerker und Bauern, ihre Politiker und Elegants, ihr Heerwesen, kurzum eine ganze Welt umfaßte. Den Halbbruder des Dichters hat Schiller den Romanschreiber genannt. Der Schöpfer der »Comédie humaine« ist darüber hinaus der Kulturhistoriker und Soziologe seiner Zeit und seiner Heimat, von dem Erzähler wie Flaubert, die Goncourt, Zola, Daudet, Maupassant ebenso willig gelernt haben, wie politische Denker vom Kaliber Taines und Sorels, ein Meister, bei dem auch die kommenden Geschlechter nicht auslernen werden.


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