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VII.
Die Iliade der Korruption

Das Ungeziefer der Literatur (la vermine de la littérature) hat Voltaire unzählige Male »les folliculaires« gescholten, die Stechfliegen, die dem Überempfindlichen das Leben verleideten. Blättler und Mächler nennt Goethe dieselbe Sippe, kleine Leute, die für wenig Groschen viel Gift ausgießen über Gerechte und Ungerechte. Napoleon legte diesen Gesellen, die während der Revolution ihre Stimmen lauter, drohender und gefährlicher denn je zuvor erhoben hatten, durch seine tyrannischen Gebote Schweigen auf. Unter der Restauration wagten sich allen Preßquälereien zum Trotz Spötter und Schreier, Märtyrer und Streber in der Öffentlichkeit hervor und übten im Bunde mit der Opposition der Kammer entscheidenden Einfluß auf die öffentliche Meinung aus. Große Publizisten vom Schlage Chateaubriands und Benjamin Constants, erbarmungslose Pamphletisten von der Überlegenheit Paul Louis Couriers, Führer der neuen Richtungen in Staat, Kunst und Kirche, der »National« unter der Leitung von Thiers, Mignet, Armand Carrel und der Kreis des »Globe« wühlten weit über die Grenzen Frankreichs hinaus die Geister auf. Nach der Julirevolution wurde Selbstlosigkeit unter den Stimmführern der Presse seltener und seltener. Der Journalismus, so hieß es alsbald, führt, vorausgesetzt, daß man ihn im Stiche läßt, zu allen Posten und Ämtern. Stellenjäger und Industrieritter bemächtigten sich alter und gründeten neue Blätter. Flinke, begabte, skrupellose Geschäftsmänner, wie Dutacq und Emile de Girardin, eroberten durch die Herabsetzung des Abonnementspreises auf die Hälfte Leserkreise, wie sie in solcher Ausdehnung bis dahin noch keiner Zeitung beschieden waren: ihr Einfall war auf die Steigerung des Inseratengeschäftes gebaut; und dieses bedenkliche Beispiel wurde notgedrungen von den meisten anderen Journalen nachgeahmt. Und die von jedem redlichen, frühzeitig auch von Sainte-Beuve beklagte »Industrialisierung der Literatur« wurde nicht nur für die Presse unheilvoll. Die Publizistik sank vielfach zu einem gewerbemäßigen Betrieb herab; die Käuflichkeit der Unternehmer und Mitarbeiter griff immer mehr um sich; der Zweikampf, in dem Armand Carrel durch einen Pistolenschuß Emile de Girardins getötet wurde, gab Abenteurern der Feder ein bis auf die jüngste Zeit befolgtes Beispiel, unbequeme Sittenrichter sich vom Halse zu schaffen. Der anrüchige Zeitungseigentümer in Augiers »Unverschämten«, Vernouillet, und der journalistische Klopffechter in Maupassants »Bei-Ami« nehmen sich in ihrem schmutzigen Handwerk nur soweit als möglich vor dem Zuchtpolizeigericht in acht; sonst arbeiten sie mit Einschüchterungen und Erpressungen, äußerstenfalls gegen nicht zu überhörende Ankläger ihrer Schwindeleien mit mehr oder weniger ernstgemeinten Duellen.

Auch an dem Zusammenbruch seiner »Chronique parisienne« wollte Balzac dieser Umwälzung im Zeitungswesen alle Schuld zuschreiben: im Augenblick ihres größten Erfolges (so sagt er Eva) mußte er an die Liquidation schreiten, denn wir konnten nicht den Kampf mit den Blättern aufnehmen, die täglich erschienen und 40 Franken kosteten, während wir für 64 Franken nur zweimal wöchentlich zur Stelle waren. Um zuzuwarten hätten wir 50 000 Franken gebraucht, die uns in der gegenwärtigen Lage der Presse niemand für eine literarisch ernste Zeitschrift vorstrecken wollte. Die Katastrophe bedeutete für Balzac einen Verlust von 40 000 Franken. Zu dieser Not kam eine andere: die Inhaberin des Verlages seiner Sittenstudien, Madame Béchet, hatte sich verheiratet, und ihr neuer Gatte, Jacquillart, nötigte sie, Balzac, der ihr von kontraktlich zugesagten zwölf Bänden zehn geliefert hatte, gerichtlich auf die noch außenstehenden zwei Bände zu belangen und für jeden Tag Säumnis 50 Franken einzuklagen; ein Rückstand, der bereits mit zwei Monaten bemessen wurde. So blieb ihm nur übrig, wiederum in die Arbeitsstille der Touraine zu flüchten, wo er in acht Tagen den Plan des Romans »Illusions perdues« entwarf und dessen erstes Drittel fertigbrachte: »mit Anspannung all meiner Kräfte. Ich schrieb täglich fünfzehn Stunden, ich stand mit Sonnenaufgang auf und nahm bis zur abendlichen Essensstunde nur selten Kaffee«, »Nach einem Diner, das dann natürlich ausgiebiger war, erhielt ich einen Brief, der mir die Vorfälle mit der ›Chronique‹ meldete. Ich gehe mit Herrn und Frau v. Margonne in den Park und stürze, niedergeworfen durch einen Blutandrang zum Kopf, am Fuß eines Baumes zusammen. Ich konnte kein Wort mehr schreiben. Ich sah all meine Angelegenheiten verloren. Ich sagte mir, daß mir nur übrigbleibe, nach Wierzchownia zu gehen, und mich dort verborgen zu halten, bis ich genug Geld und Arbeiten gesammelt haben würde, um eines Tages heimkommen und all meine Schulden zahlen zu können.« Seine Tatkraft bemeisterte diese rasch vorübergehende Anwandlung. Er blieb in der Heimat, fand – nicht bei den Reichen und Großen seines Kreises, sondern bei schlichten Leuten aus dem Volke, einem Kanzleibeamten, dem er zufällig seine Not schilderte – für den Augenblick genügende – aus freien Stücken gewährte – Aushilfe und stellte die beiden ersten Bände der »Illusions perdues« rechtzeitig Madame Béchet zur Verfügung: eines der mächtigsten seiner Werke, das er im Widmungsbrief an Victor Hugo mit Recht ebensosehr eine Tat des Mutes, als eine durch und durch wahre Geschichte nennen durfte. Eine Abrechnung mit der Korruption der Zeit, ein Beichtspiegel der Verderbnis der Presse. Wenige seiner Zeitgenossen haben früher und tiefer diese Schäden durchschaut.

Sainte-Beuve nennt in seinen Tagebuchaufzeichnungen »Notes et pensées« Balzac den Romancier, der die Korruption seiner Zeit am besten kannte: ein Zugeständnis, dem er den Zusatz folgen ließ: »Balzac war sogar der Mann, aus eigenem einiges hinzuzufügen«. Eine Glosse, die nicht etwa bedeutet, daß Balzac sich jemals irgendeiner Korruption schuldig gemacht habe: der Kritiker, der selbst scharf ins Gericht ging mit dem verheerend um sich greifenden Schachergeist der meisten Schriftsteller seiner Tage, hielt nur Einzelheiten in Balzacs Schilderungen für willkürliche Zutaten. In seiner persönlichen Lebensführung hat er treu festgehalten an dem Gebot: »mein Name ist Honoré; ich will ihn stets mit Fug und Recht tragen«. Ungebeugt durch die Fehlschläge seiner Frühzeit, in den ärgsten seelischen und materiellen Heimsuchungen behandelte er seine Lebensaufgabe als heilige Sendung. Keine Anfechtung des Geschickes, keine Anfeindung der Kritik brachte ihn von dem selbstgewählten Weg ab. Seiner Schöpferkraft bewußt, strebte er das Höchste an, war er gewillt, es den Größten gleichzutun. In der Stetigkeit seiner Arbeit, in der Unerschöpflichkeit seiner Eingebungen als Mann und Künstler ein Starker und Ganzer sah er streng auf die Halben und Schwachen, die aus Genuß- oder Gewinnsucht ihr Ich verleugneten, ihren Geist, ihren Witz, ihre Beredsamkeit gegen ihre Überzeugung gebrauchten, die Pariser Zeitungswelt, wie Balzac in einem Jugendroman eine Piratenhöhle genannt, in eine Brigandinopolis verwandelten. Gegen diese Macht sich aufzulehnen, war 1835 ein größeres Wagnis, als ein Jahrhundert vorher die Mißbräuche des Klerus, den Übermut der Großen zu verspotten. Dazumal stand der beste gebildetste Leserkreis, Adel und Bürgerschaft hinter den literarischen Widersachern des Stellenkaufes, der Willkür der Justiz, des Geistesdruckes der Zensur. Unter dem Julikönigtum sah die Opposition nur die Vorteile, nicht die Gebrechen der Presse: den Ehrgeizigen war sie das Sprungbrett zu Macht und Reichtum, gläubigen Abonnenten ein Orakel. Anfänger lockte es, sich gedruckt und beachtet zu sehen. Es fehlte dem journalistischen Nachwuchs auch nicht an Talenten, desto mehr an Charakteren. Auf diesen Zwiespalt im Wesen der Jugend jener Tage hatte Balzac schon in einer Reihe früherer Sittenbilder aus anderen Kreisen hingewiesen.

Der Neffe des alten Grandet, der in Paris als reicher Bürgerssohn ein Leben des Müßigganges geführt hat, unterhielt, dem Gebot der Mode gemäß, einen Liebeshandel mit einer Dame der Gesellschaft. Als er im Hause seines Onkels in Saumur plötzlich den Bankrott und Selbstmord seines Vaters erfährt, schreibt er, der sich jenseits des Meeres eine neue Existenz schaffen will, der Weltdame einen Abschiedsbrief, der, scheinbar in den rührendsten Tönen gehalten, feiner Aufmerkenden seine Selbstsucht und Herzenskälte nicht verbergen kann: »er war ein Pariser Kind, durch die Pariser Lebenspraxis, ja durch seine Geliebte selbst gewohnt, alles zu berechnen, schon ein Greis unter der Maske eines jungen Mannes. Er hatte die abschreckende Erziehung einer Welt empfangen, in der in einer Abendgesellschaft in Worten und Gedanken mehr Verbrechen begangen werden als die Justiz im Laufe einer Geschworenensession bestraft, wo Witzworte die größten Ideen morden, wo man nur dann als überlegen gilt, wenn man die Dinge im rechten Licht sieht, und im rechten Licht sehen, heißt nichts glauben, weder an Empfindungen noch an Menschen, noch an Ereignisse. Da muß man jeden Morgen den Geldbeutel eines Freundes abwiegen, sich politisch über alles wegsetzen, was geschieht, vorbedacht nichts bewundern, weder Kunstwerke noch gute Taten, und als Beweggrund für alles nur das persönliche Interesse zur Richtschnur nehmen.« Ein Zwanzigjähriger, der in der schwersten Krise seines Daseins unter der Herrschaft solcher Instinkte steht, wird in der Ferne, um Millionär zu werden, unter fremdem Namen Riesenschmuggel und Sklavenhandel treiben. Und heimgekehrt seiner opferfrohen Kusine die Treue brechen, die Gläubiger seines Vaters, denen sichere volle Zahlung verheißen wurde, hohnlachend vor die Türe setzen, einem Adelsprädikat zuliebe jede Niedrigkeit begehen, eine Ehe mit einer häßlichen Aristokratin aus einem herabgekommenen Geschlecht schließen, im Wahn, auf diese Weise Pair zu werden.

Nicht viel anders als das Bürgerskind Grandet sucht der Sproß eines verarmten südfranzösischen Geschlechtes Rastignac seinen Aufstieg aus jämmerlichster Dürftigkeit zur höchsten Stufe gesellschaftlicher Stellung. Er hört die für Strebernaturen unwiderlegliche Predigt eines zynischen Lehrmeisters: »Das Problem, an dessen Lösung gegenwärtig fünfzigtausend junge Leute arbeiten, die sich in derselben Lage befinden wie Sie, ist: Emporkommen um jeden Preis. Wie gelange ich schnell zu Geld? Machen Sie sich nun eine Vorstellung, mit welcher Erbitterung der Kampf geführt wird und wie groß Ihr Einsatz sein muß? Sie müssen sich gegenseitig auffressen wie Spinnen in einem Topf, denn 50 000 gute Posten gibt es nicht. Wissen Sie, wie man hier seinen Weg macht? Mit dem Glanz des Genies oder der Geschicklichkeit der Korruption. In diese Menschenmasse muß man einschlagen wie eine Kanonenkugel oder sich einschleichen wie eine Seuche. Die Korruption ist an der Arbeit, das Genie ist selten. So ist die Korruption die Waffe der Mittelmäßigkeit. Überall werden Sie ihre Spitze fühlen. Sie werden Frauen begegnen, deren Männer 6000 Franken Einkommen haben und die für ihre Toilette allein 10 000 ausgeben, Angestellte treffen, die 1260 Franken verdienen und Landgüter kaufen.« Genau so wie »der Cromwell des Bagno« rät eine Königin des Faubourg St-Germain ihrem Verwandten Rastignac: »Behandeln Sie die Welt, wie sie verdient, behandelt zu werden. Sie sollen Erfolg haben, ich werde Ihnen helfen. Sie werden erfahren, wie weit die weibliche Korruption und die männliche Eitelkeit geht. Je kühler Sie rechnen, desto schneller werden Sie vorwärtskommen. Sie werden es in Paris zu nichts bringen, wenn Sie nicht eine Frau finden, die sich für Sie interessiert. Sie muß jung, reich und elegant sein. Sollten Sie aber ein echtes Gefühl haben, so verbergen Sie es wie einen Schatz, zeigen Sie ihn niemandem. Es wäre Ihr Verderben. Sie werden erfahren, daß die Welt nur ein Nebeneinander ist von Opfern und Spitzbuben.« Noch immer zaudert Rastignac, bis ihm die Wirklichkeit Paris wie einen Ozean von Jauche zeigt und furchtbare Beispiele vatermörderischer Gewissenlosigkeit ihn vermögen, den Kampf mit allen Mitteln aufzunehmen. Er wird der Galan einer Bankiersfrau, deren Kredit ihm zu Reichtum, Ansehen, Ministerrang verhilft. Er lernt allmählich die ganze Gesellschaft verachten. Er sieht die Welt als Vereinigung aller Verderbtheit und Gaunerei an. Wenn er auch Ausnahmen zugab, verurteilte er doch die Masse: er glaubte an keine Tugend, nur an Verhältnisse, in denen der Mensch tugendhaft ist. Diese Erkenntnis war das Ergebnis eines Augenblicks; er erwarb sie auf den Höhen des Père Lachaise, als er einem armen ehrenhaften Mann dorthin das letzte Geleite gab, dem Vater seiner Delphine von Nucingen, der die redlichsten Empfindungen gehabt und von Töchtern und Schwiegersöhnen verlassen war. Er beschloß mit dieser Welt zu spielen und im vollen Ornat der Rechtschaffenheit zu heucheln. Er wird eine Größe des Julikönigtums, ein siegreicher Heerführer der Korruption, der für Worte wie Tugend, Gesinnung oder gar für Anwandlungen von Redlichkeit nur Hohn und Mißachtung gegen die Einfalt ihrer Apostel übrig hat.

In der Schule des Lebens gehärtete bedenkenfreie Leute wie Charles Grandet und Rastignac vollziehen wie der schnellste Teufel in Lessings Faust im Nu den Übergang vom Guten zum Bösen und triumphieren durch entschlossenes Paktieren mit der Verworfenheit ihrer Umgebung. Ein weichmütiger Poet wie Lucien de Rubempré geht zugrunde an seinem Selbstverrat. Die Tragödie seines Geschickes wächst aus einem lieblichen Idyll. Der Lebenslauf des bildschönen Dichters führt von Angoulème nach Paris, das Balzac wie Blücher von der Höhe des Montmartre einem Giftgeschwür vergleicht, das Frankreich heilloser verseucht und ärger schädigt, als wenn man die Weltstadt, wie das ein russischer Heerführer wollte, anzünden und vom Erdboden vertilgen würde. Luciens Vater Chardon war ein begabter Chemiker, der seines Unterhaltes willen Apotheker werden mußte. Er stirbt vorzeitig und läßt seine Witwe, eine geborene Adelige, de Rubempré, mit zwei Kindern in Armut zurück. Unverzagt wird die Mutter Hebamme, die Schwester Eva Büglerin, um Lucien die Mittel zum Studium zu verschaffen. Luciens Jugendkamerad, David Séchard, der Sohn eines ebenso geizigen als ungebildeten Druckers, Séchard, kehrt nach seiner Lehrzeit aus Paris heim; ein genialer Erfinder, den – wie Balzac selbst – jahrelang das Problem beschäftigt, aus Pflanzenfasern billiges Zeitungspapier herzustellen. David Séchard, der bei Didot in Paris sich fachmännisch ausgebildet hat, übernimmt die Druckerei seines hartherzigen, geldgierigen Vaters um einen wucherisch bemessenen Kaufschilling. In Luciens Schwester Eva – nach Balzacs Urteil der reinsten aller von ihm geschaffenen Frauengestalten – findet David, wie viele Erfinder im Alltagsleben ein weltunkundiger Träumer, die treueste für den Gatten wie für den Bruder zu jedem Opfer bereite Lebensgefährtin. Luciens künstlerische Anlagen bahnen ihm den Zugang zur Oberstadt von Angoulême, deren hochnäsige Junkerkreise sich sonst starr abschließen von den Kleinbürgern, Winzern und Gewerbsleuten der Unterstadt. Seine Gedichte wecken den Anteil der einflußreichsten schöngeistigen Aristokratin Madame de Bargeton, die dem Adonis ihre Gunst zuwendet und selbst den Bischof für sein Talent interessiert. Neider Luciens, besonders ein streberischer Steuerdirektor, Chatelet, der Madame de Bargetons Einfluß und Sympathie gewinnen will, bringen die Dame ins Gerede. Durch dreiste Spionage werden sie Zeugen einer an sich unschuldigen, doch durch böse Zungen als so verfänglich verdächtigten Szene, daß Herr v. Bargeton, ein plumper, stumpfer Landedelmann, seiner Standespflichten eingedenk einen unvorsichtigen Klätscher zum Zweikampf fordert. Herr v. Bargeton bleibt im Duell Sieger, zieht sich aber danach auf einen andern Landsitz zurück, indessen Madame Bargeton den jungen Poeten bestimmt, mit ihr nach dem Ziel ihrer Sehnsucht, Paris, zu ziehen. Eine Reise, die Lucien nur durch die großmütige Selbstverleugnung der Seinigen ermöglicht wird. Ihr Traum, mit dem Dichter in der Hauptstadt stilles Liebesglück zu genießen, wird bald zunichte. Der enttäuschte, eifersüchtige Chatelet warnt sie als Weltmann vor den Folgen ihrer Übereilung. Und ihre Schutzpatronin, die Marquise d'Espard – dieselbe gewissenlose Salonkönigin, die in der »Entmündigung« ihren edlen Gatten mit allen Ränken der Verleumdung unter Kuratel stellen lassen möchte –, hat leichtes Spiel im Verein mit den Elegants ihres Kreises, Lucien zum Spottbild eines Dandys zu verzerren; sein Besuch in der Oper als Logengast der Marquise mißglückt. Durch Chatelet erfahren die Modedamen und Modeherrn bald, daß der angebliche Aristokrat de Rubempré der Sohn eines Apothekers und einer Hebamme, der Bruder einer Wäscherin ist. So rasch und hoch Madame de Bargeton den jungen Poeten gehoben hat, so schnell und tief läßt sie ihn fallen. Sie gibt ihm den Laufpaß und übersieht ihn geflissentlich schnöde, als sie mit Madame d'Espard in einer Prachtkarosse in den Champs-Elysées an ihm vorüberfährt. Auf das bitterste gekränkt, durch seine unüberlegten Auslagen um seinen von David und Eva mühsam, als Jahresvorschuß gewährten Zehrpfennig gebracht, muß Lucien, der sich zuerst als Musterkavalier gebärden wollte, im lateinischen Viertel ein klägliches Studentenleben beginnen. In dieser Leidensschule regt sich in Lucien frische Arbeitslust. Er treibt in der Bibliothèque St-Geneviève ausgiebige Forschungen für einen historischen Roman »Der Bogenschütze Karls IX.«, feilt an seinen Sonetten, spart sich die Bissen vom Munde zu seltenen, begeistert genossenen Theatergängen und macht als Stammgast der sagenumsponnenen, auch von Musset in Mimi Pinson verewigten, wohlfeilen, altväterisch gediegenen Garküche von Flicoteaux folgenreiche Bekanntschaften. Wie in der Pension Vauquer neben Vater Goriot, Vautrin und Rastignac Gerechte und Ungerechte, schwärmerische Musensöhne mit verdächtigem Gelichter sich zusammenfinden, kehren bei Flicoteaux Prachtmenschen, selbstlos dem Edelsten nachstrebende Forscher, wie d'Arthez, zu jedem Martyrium bereite Bekenner republikanischer Gesinnung, wie Michel Chrestien, eine Korona untadeliger aufstrebender Künstler, Juristen, Mediziner, Philosophen neben zweideutigen kleinen Literaten ein. Lucien schließt sich dem Kreis von d'Arthez an; er erkennt den Wert dieser vorbildlichen Naturen, die seine Schöpfungen überprüfen und verbessern. Die Sorge um das tägliche Brot zwingt Lucien, sich um die Verwertung seiner Manuskripte zu bemühen. Die Verleger, an die er sich wendet, sind vermutlich dieselben, die seinerzeit der junge namenlose Balzac kennenlernte. Keine Satire kann das Treiben dieser Schacherer überbieten. Als Lucien im Laden eines Buchhändlers mit seinen Gedichten vorspricht, hört er hinter einem Verschlag harrend zufällig, wie ein paar Winkelverleger zum Schaden von Autoren und Druckern sich verschwören, um Lagervorräte zu Schleuderpreisen an sich zu bringen. Ihm selbst weist man die Tür als einem Frevler, der nicht nur so vermessen ist, Verse zu schreiben, sondern andern zumutet, sie zu lesen. Verleger, denen er seinen »Bogenschützen Karls IX.« anbietet, zeigen sich, da Walter Scott just Modeartikel ist, eher geneigt, sein Manuskript zu drucken: das Honorargebot des ersten Buchhändlers ist aber so erbärmlich, daß Lucien entrüstet nein sagt; hinterdrein muß er, da die anderen Verleger noch schmählicher knausern, kleinmütig zum ersten zurückkehren, obwohl ihm der beim jähen Fortgehen ankündigte, er werde bei seinem sicher vorausgesehenen zweiten Besuch weniger zahlen. Lebenstreu wird weiter berichtet, wie ein Verleger Lucien in seiner Dachstube aufsucht und angesichts der von Stockwerk zu Stockwerk immer ärger zum Vorschein kommenden Armseligkeit seiner Herberge monologisierend zum Schluß kommt, in der kahlen Kammer des obersten Geschosses nur ein Viertel von dem zu bieten, was er unterwegs als Entgelt festgesetzt hatte.

Diese trostlosen Erfahrungen bringen Lucien auf den Gedanken, es mit dem Journalismus zu versuchen: ein Vorhaben, das d'Arthez und dessen Getreue Lucien mit der idealistischen Begründung ausreden, er würde dadurch seine künstlerische Aufgabe gefährden. Mit gleicher Entschiedenheit rät ihm ein ebenso begabter als windiger Journalist, den er gleichfalls in der Garküche getroffen, als Erzrealist von jeder literarischen Laufbahn ab. Lucien liest Lousteau (dessen Urbild Jules Janin gewesen sein soll) im Luxemburggarten seine Sonette vor. Lousteau hört lange schweigend zu, bis er endlich auf Luciens Drängen mit der Meinung herausrückt, er täte besser, seine schadhaften Stiefel mit Tinte zu schwärzen, um Wichse zu sparen und aus seinen Gänsekielen Zahnstocher zu schnitzen; dann möge er sich um eine Stelle als Schreiber, Handelsgehilfe oder Soldat umsehen. »Sie haben das Zeug für drei Dichter, aber bis Sie durchgedrungen sind, haben Sie sechsmal Zeit, Hungers zu sterben.« »Ich bin wie Sie hierhergekommen, das Herz voll Illusionen, voll Liebe zur Kunst, voll Begierde nach Ruhm. Ich fand die Wirklichkeit des Handwerkes, den Widerstand der Verleger, die Kümmerlichkeit des Lebens. Wie ich werden Sie erfahren, daß hinter den schönen Kulissen Menschen, Leidenschaften, Bedürfnisse ihr Wesen treiben. Sie werden notgedrungen in schlimme Kämpfe verwickelt werden, Werk steht gegen Werk, Mann gegen Mann, Partei gegen Partei und man muß systematisch kämpfen. Noch ist es Zeit, verzichten Sie auf den Wunsch, den Fuß auf die erste Stufe des Thrones zu setzen. Tun Sie das, so entehren Sie sich nicht, wie ich des Unterhaltes willen.« Lousteau kam als Dramatiker nicht auf: die Schauspieler beugen sich nur dem, der ihre Eigenliebe bedroht. »Wenn Sie die Macht haben, das Gerücht zu verbreiten, daß der erste Liebhaber an Asthma, die erste Liebhaberin an einer ekelhaften Krankheit leidet, werden Sie morgen gespielt.« Als Lousteau daran war, Hungers zu sterben, nachdem er (wie Balzac) anonyme Romane geschrieben und hunderterlei andere literarische Versuche gemacht, wurde ihm der Journalismus als einziger rettender Ausweg bezeichnet. Sechs Monate lang diente er als überzähliger Volontär, gescholten, weil er angeblich die Leser abstieß. Nun berichtete er fast unentgeltlich über Boulevardtheater in einer Zeitung, unter dem Chefredakteur Finot (dem man Ähnlichkeiten mit Girardin nachsagte), einem ebenso rücksichtslosen als unliterarischen Burschen: »Ich lebe vom Verkauf der Freikarten, die mir die Direktoren dieser Theater geben und vom Verkauf von Rezensionsexemplaren. Und schließlich, wenn Finot mit meinen Leistungen zufrieden ist, rechne ich mit den Tributen der Kaufleute, für oder gegen die er mir zu schreiben erlaubt, Firmen von Abführ- oder Schönheitsmitteln zahlen mir für einen witzigen Artikel 20-30 Franken. Ich muß Buchhändler schikanieren, die dem Blatt zu wenig Exemplare schicken: das Blatt bekommt zwei, die Finot verkauft, ich ebensoviel. Ein Buchhändler, der mit solchen Belegexemplaren kargt, ist geliefert, auch wenn er ein Meisterwerk verlegt. Das duftet nicht gut, nicht wahr? Aber ich lebe von diesem Gewerbe, wie hundert andere. Glauben Sie nicht, daß die politische Well viel schöner ist als die literarische. Hier wie dort ist alles Korruption. Jeder ist verdorben oder verdirbt jemand. Meine Einkünfte richten sich nach meinen Rezensionen. Ist sie feurig, fließt vom Verleger Geld zu, dann halt' ich meine Freunde frei. Wenn stille Zeit ist im Buchhandel, dann speis' ich in Flicoteaux' Garküche. Die Schauspielerinnen zahlen ebenfalls für gute Besprechungen, doch die klügsten bezahlen strenge Rezensenten. Totgeschwiegen werden ist am meisten gefürchtet: Polemik ist das tägliche Brot für Berühmtheiten. Als Wegelagerer im Reich der Unternehmer, der Verleger und Theaterleute verdiene ich 50 Taler im Monat, kann für 500 Franken einen Roman verkaufen und beginne als jemand zu gelten, den man fürchten muß. Wenn ich statt bei meiner Florine auf Kosten eines Drogenhändlers, der sie aushält, zu leben, in meinen eigenen Möbeln sitzen und in einer großen Zeitung das Feuilleton in die Hand bekommen werde, an diesem Tage wird Florine eine große Schauspielerin und was mich betrifft, kann ich noch alles werden, Minister oder Ehrenmann. Und ich war gut, ich war reinen Herzens. Meine Geliebte ist eine Schauspielerin vom Panorama dramatique und doch träumte ich von Freundschaft mit den hervorragendsten Damen der großen Welt«. »In der Literatur sind die Eigentümer der Zeitung Unternehmer, wir sind die Handlanger. Wenn ich Sie ansehe, sehe ich mich selbst, wie ich war und ich bin sicher, daß Sie in 1-2 Jahren sein werden, wie ich bin.«

Als Lucien widerspricht mit dem stolzen Ausruf: er würde kämpfen, erwiderte Lousteau – »ein aussichtsloser Kampf. Heut macht Sie Ihr Gewissen noch streng, morgen aber wird es sich vor denen krümmen, die Ihnen den Erfolg entwinden, denn glauben Sie mir, der Schriftsteller, der Mode ist, wird härter und hochfahrender gegen den Nachwuchs, als der blutsaugerischste Verleger.« Unbeirrt durch all diese Warnungen beharrt Lucien auf seinem Vorhaben mit der Losung: »Ich werde mich durchsetzen.« »Gut«, entgegnet Lousteau. »Noch ein Christ, der in die Arena hinabsteigt, um sich den Bestien auszuliefern.« Und nun will sich Lousteau in dem Neuling einen Gefolgsmann sichern; er baut auf kommende Gegendienste Luciens und bietet dem nicht zu Witzigenden an, ihn noch an demselben Tag einem der maßgebenden Verleger Dauriac vorzustellen und nach einer Uraufführung im Panorama dramatique bei seiner Mätresse Florine soupieren zu lassen, wo er seinen Chefredakteur Finot kennenlernen soll. Dauriacs Laden ist im Palais Royal: auf dem Weg dahin passiert Lucien in den Holzgalerien den von Balzac in einem seiner großartigsten, figuren- und farbenreichsten Gemälde vergegenwärtigten Hauptmarkt der Pariser Prostitution – das Gegenstück zum Zeitungsmarkt, wie Lousteau ihn beschrieb, unter dem schimmernden Firnis lockender Reize Feilheit und Fäulnis da wie dort.

Im Verlagskontor Dauriacs, der aussieht wie ein römischer Prokonsul und mit den seiner Gnade bedürftigen Literaten ebenso hoffärtig umspringt, sieht Lucien erstaunt, wie namhafte Modeschriftsteller vor einflußreichen Kritikern katzbuckeln. Verlagsanträge fertigt Dauriac mit der ziffermäßigen Angabe ab, daß ihm elfhundert Manuskripte angeboten seien; Verse weist er nun gar mit einem Kalauer als Würmer (vers) zurück.

Eine Schicksalswende, wie sie Janin wirklich erlebte, beschert Lucien ein ihm zufällig übertragenes Theaterreferat; Lousteau muß unversehens als Berichterstatter in der Comédie française aushelfen; an seiner Statt hat Lucien im Panorama dramatique einzuspringen. Sein übermütig improvisiertes Feuilleton hat einen Riesenerfolg. Eine der Hauptdarstellerinnen, die Mätresse eines alten Kaufmannes, verliebt sich rasend in seine Schönheit, er wird im Handumdrehen Mode, durch seine Machtstellung nun von Verlegern ebenso sehr gesucht, wie ehedem gemieden. Eine Weile hat er hübsche Einnahmen. Er läßt es sich wohl sein und denkt nicht viel darüber nach, daß er, von Coralie verhätschelt, als ihr Hausgenosse sein Lotterleben bloß auf Kosten ihres nur seiner Zahlungsfähigkeit willen zugelassenen betagten Anbeters führen kann. Als es dann zum Bruch zwischen Coralie und dem zum besten gehaltenen Alten kommt und die Zeitungshonorare und die Theatergage für den Aufwand der beiden nicht mehr ausreichen, versteht sich Lucien ohne langes Besinnen zur Gewissenlosigkeit und Gewalttätigkeit Lousteaus. In demselben Maß, in dem er moralisch sinkt, steigt seine Macht als Häuptling der frechsten Freibeuter. Mit mörderischem Witz rächt er sich nun an Madame de Bargeton und Herrn Chatelet, die den gefährlichen Gegner auf das beflissenste zu versöhnen suchen. Als Kaufpreis wird ihm die königliche Anerkennung seiner Adelsansprüche verheißen. Einem solchen Angebot widersteht seine Eitelkeit nicht, auf der Stelle geht er als Überläufer aus dem klassizistisch-liberalen in das romantisch-klerikal-absolutistische Zeitungslager über. In den Händen seines früheren Chefs sind aber Manuskripte von Artikeln zurückgeblieben, in denen er ehedem seine neuen Parteigenossen angriff: da er Geld braucht, läßt er, der fälligen Honorare wegen, diese Invektiven, allerdings nicht unter seinem Namen, veröffentlichen. Diese Zweizüngigkeit wird von seinen alten und neuen Feinden den Ministern hinterbracht, seine eigene Handschrift zeugt gegen ihn und statt der verhofften Erhebung in den Grafenstand erfährt er die schwerste Demütigung. Als Achselträger wird er mit Schimpf und Schande vom Hof für alle Zukunft verjagt.

Es ist nicht das einzige Unheil, das seine Gesinnungslosigkeit auf ihn herabbeschworen. Er hat ein endlich ausgegebenes Hauptwerk von d'Arthez mit Bewunderung gelesen: seine Brotgeber zwingen ihn aber, gegen seine Überzeugung das Buch in einem Schmähartikel anzugreifen. (Ein Zwischenfall, der sein Vorbild in einer bösartigen Kritik Jules Janins hatte, der dem Verfasser des von ihm grausam getadelten Buches, Felix Pyat, zuvor brieflich Lobeserhebungen hatte zukommen lassen.) Michel de Chrestien, ein fanatischer Anhänger d'Arthez, rächt diese Gesinnungslumperei: er insultiert und speit Lucien auf offener Straße an. Der Beleidigte muß sich daraufhin schlagen. Schwer verwundet, wird Lucien in seinem Leiden von Coralie gepflegt, die hernach selbst tödlich erkrankt. Ihr gemeinsames Elend führt zu vollkommener Verarmung. Keine Erniedrigung bleibt Lucien erspart; er macht Bettelgänge zu dem alten Sünder, von dem sie beide zehrten; er fälscht Wechsel auf seinen durch Schulden selbst drangsalierten Schwager Séchard in Angoulême. Und trotz alledem ist durch die frühere liederliche Wirtschaft die Not in dem ganz ausgepfändeten Hausstand beim Tod Coralies so groß, daß der Trostlose – wie das Balzac in Briefen an Eva von einem Chansonnier wahrheitsgetreu berichtete – an ihrem Sterbebett Gassenhauer dichten muß, um die Kosten für Sarg und Bahrtuch zu verdienen. Geistig und leiblich völlig herabgekommen, bleibt ihm nur übrig, zu Fuß nach Angoulème zurückzuwandern – die Wegzehrung verschafft ihm der Hurenlohn, den ihm Coraliens treue Magd nach einem Gang auf die Straße heimbringt. Als blinder Passagier fährt er nachts eine Strecke mit, auf ein paar an eine Postkutsche geschnallten Heubündeln. Morgens sieht er, daß die Fahrgäste zwei Neuvermählte, Madame de Bargeton und der zum Präfekten ernannte Chatelet waren.

Der Kelch der Schande ist noch nicht geleert. Gleichzeitig mit der Iliade der Korruption in Paris begibt sich eine Iliade der Korruption in Angoulème: ein Minenkrieg, den die verschmitzten habgierigen Inhaber der Hauptdruckerei Cointet gegen den ganz in seine Erfinderexperimente versonnenen und versponnenen David Séchard führten. Sie kennen seine Geldnot, die der Geizteufel Vater Séchard, die Anleihen und falschen Wechsel Luciens dergestalt verschärften, daß er vor dem Schuldgefängnis fliehen, ein Versteck suchen muß. Indessen nur ein biederer Deutscher, Kolb, als Hüter der Druckerei mit einer Magd bei Luciens Mutter und Schwester ausharrt, liegt ein von den Cointets bestochener, nichtsnutziger Gehilfe Davids, Cériset, auf der Lauer, um Davids Erfindergeheimnis und Unterschlupf zu erspähen. Diesem Pariser Früchtel, dessen sich David, übel beraten, angenommen hat, schließt sich ein falscher Jugendfreund Luciens an, ein häßlicher unbemittelter Provinzadvokat, der reich heiraten und Staatsanwalt werden will: Ziele, die er durch die Bundesgenossenschaft mit dem Ehepaar Bargeton-Chatelet und den Druckern Cointet erreichen will und wird.

So wohlbekannt Balzac aller Unfug des Pariser Zeitungswesens seiner Tage war, so wohlvertraut waren ihm alle Ränke der Rechtsverdreher, alle Räubereien der »Escompteure«, alle Verkehrtheiten pedantischer Legalität, die das Los David Séchards besiegelten. »Die Leiden des Erfinders«, den der Staat durch Steuerdruck und Prozeßkosten zugrunde richtet, statt ihn durch ausgiebigen moralischen und materiellen Beistand zu fördern, verfolgt Balzac in den »Illusions perdues« bis in alle Heimlichkeiten. Durch die Anschläge spitzbübischer, nur auf den eigenen Vorteil bedachter, ideenloser Konkurrenten wird David Séchard um den Sieg seiner Mühen betrogen: seine geniale Entdeckung fällt den Cointets in den Schoß; gleichmütig überläßt er ihnen die einträgliche Ernte seiner Saat; ihm genügt es, daß sein Gedanke triumphiert; in ländlicher Abgeschiedenheit freut er sich seines durch schweres Martyrium teuer erkauften Familienfriedens mit Eva.

Lucien, der sich in ungestüm aufwallender Verzweiflung als Urheber alles über die Seinigen verhängten Unglücks ansieht, flieht aus Angoulême, um sich unterwegs in einem Teiche zu ertränken. Ein mit der Post vorüberfahrender Kanonikus verhindert diesen Selbstmord. Er fordert Lucien auf, sein Sekretär zu werden und entwickelt mit dem Zynismus Vautrins – dieser »Cromwell des Bagno« hat sich wirklich just in die Maske eines spanischen geistlichen Diplomaten Abbé Carlos Herrera gesteckt – seinem jüngsten Schützling dieselben Theorien, die er seinerzeit Rastignac in der Pension Vauquer gepredigt hat: »Schleichen Sie sich in die Welt von Paris ein. Warten Sie auf Beute und Zufall. Halten Sie sich nicht bei der Ehre auf, denn wir gehorchen alle irgendeinem Laster, irgendeiner Notdurft; aber gehorchen Sie dem obersten Gesetz, der Verschwiegenheit.« »Sie erschrecken mich, Ehrwürden: mir scheint das die Theorie der großen Landstraße zu sein.« »Sie haben recht. Aber sie kommt nicht von mir. Es ist die Denkweise aller Emporkömmlinge, des Hauses Österreich, des Hauses Frankreich. Sie sind in der Lage der Medici, Richelieus, Napoleons im Anfang ihres Ehrgeizes, die alle den Preis für ihre Zukunft zahlten, Undank, Verrat, Widersprüche der heftigsten Art. Wer alles haben will, muß alles wagen. Streiten Sie über die Spielregeln, wenn Sie sich an den Spieltisch setzen? Die Regeln sind gegeben, Sie nehmen sie an.« Als geheimer Sendbote zwischen Ludwig XVIII. und Ferdinand VII., als Ordensmitglied der Jesuiten fragt er Lucien, ob der ihm unbedingt zu Willen sein möchte. Dann verbürgt er ihm, daß er binnen drei Monaten Marquis von Rubempré sein, eine der reichsten Töchter des Faubourg St-Germain heiraten und auf der Pairsbank Platz nehmen werde. Lucien gibt sich dem geheimnisvollen Priester gefangen, der mit ihm, wie die auf Tod und Leben verbündeten Helden von Otways gerettetem Venedig eins sein will. Sein Handgeld sind 15 000 Franken, die er sofort den Seinigen nach Angoulême schickt. Was Vautrin zu Lucien zieht, ist der Trieb der tiefen Freundschaft »von Mann zu Mann, so daß eine Frau wenig für sie bedeutet. Der Mensch hat ein Grauen vor der Einsamkeit. Hätte ohne dieses Bedürfnis Satan Genossen finden können? Es ist da ein ganzes Epos zu schreiben, ein Vorspiel zum ›Verlorenen Paradies‹, das ja nichts anderes ist, als der Heldengesang des Aufruhrs.« »Die Iliade der Korruption« meinte Lucien.

Die »Illusions perdues« sind nur eins der vielen Kapitel dieser Iliade der Korruption: im »Cabinet des antiques« schildert Balzac ziemlich analog, wie der einzige männliche Sproß eines uralten hochadeligen Geschlechtes, ein Schwächling, dem es an Halt fehlt, ehrlos wird. Daheim wuchs er im Wahn auf, als Erbe eines so erlauchten Namens jedem Gelüst folgen zu dürfen. Aus seiner Heimat im Süden kommt er nach Paris. Dort verstricken ihn Liebeshändel mit der Herzogin von Maufrigneuse, Leichtlebigkeit, große Passionen in Schulden ohne Ende. Er plündert gewissenlos die Seinigen, Vater, Tante, einen seiner Familie hundetreu ergebenen Verwalter und sinkt schließlich zum Urkundenfälscher herab.

Andere Iliaden der Korruption bestehen viele Schicksalsschwestern der »Comédie humaine«: »nach Shakespeare, der uns in der Kleopatra, die ich einst eine Reine entretenue genannt habe, ein tiefsinniges Beispiel solcher Frauengestalten aufgezeichnet hat, ist« – nach Heine – »gewiß unser Freund Honoré de Balzac derjenige, der sie mit der größten Treue geschildert hat. Er beschreibt sie, wie ein Naturforscher irgendeine Tierart oder ein Pathologe eine Krankheit beschreibt, ohne moralisierenden Zweck, ohne Vorliebe noch Abscheu. Es ist ihm gewiß nie eingefallen, solche Phänomene zu verschönen, oder gar zu rehabilitieren, was die Kunst ebenso verböte als die Sittlichkeit.« Vor den Ungeheuerlichkeiten dieser Wirklichkeiten graute es bisweilen Balzac selbst. »Wissen Sie,« so sagt der Anwalt im Oberst Chabert, »daß es in unserer Gesellschaft drei Menschen gibt, die die Welt nicht achten können, den Priester, den Arzt, den Mann des Rechtes? Alle drei tragen schwarze Kleider, vielleicht weil sie um alle Tugenden und Illusionen trauern. Der Unglücklichste von den dreien ist der Anwalt. Wenn der Mensch den Priester aufsucht, treibt ihn die Reue, der Gewissensbiß, der Glaube. Das macht ihn groß, es tröstet die Seele des Vermittlers, dessen Aufgabe nicht frei ist von einem gewissen Genuß; er reinigt, er macht gut, er versöhnt. Aber wir Anwälte, wir sehen nur, wie sich überall dieselben schlechten Empfindungen wiederholen.« »Ich kann Ihnen nicht alles aufzählen, was ich erlebt habe. Ich habe Verbrechen gesehen, denen gegenüber die Rechtsprechung ohnmächtig ist. Kurz, alle Greuel, die die Romandichter zu erfinden glauben, bleiben immer noch zurück hinter der Wahrheit.«

Das gilt schwerlich vom Abschluß der »Illusions perdues«: in starken Abständen folgte 1838 der erste und 1847 der letzte Teil der »Splendeurs et misères des courtisanes«. Nun trug Balzac auch sonst häufig Pläne längere Zeit in seinem Kopf: so ansehnliche Zwischenräume waren jedoch selten, und unverkennbar zeigen sich in der »Dernière incarnation de Vautrin« Spuren von Erschöpfung: das Eisen war (wie Balzac gelegentlich sagt) müde geworden. Als Maschinist greift in ungezählten Verkleidungen Vautrin ein, der Lucien vor physischem Selbstmord bewahrt, dagegen aber zur sklavischen Unterjochung unter seine schimpflichen Ratschläge, wenn nicht gar zu seinem Lustknaben erniedrigt hat. Lucien fügt sich dem Verbrecher, den Balzac keine Phantasiefigur nennt, vielmehr in eine Reihe mit dem falschen Grafen von Sankt Helena stellt, Cogniard, der vier Jahre im Bagno war, unter falschem Namen Oberstleutnant wurde, die Geliebte eines Emigrierten heiratete, und nur auf die Denunziation eines früheren Strafgenossen, der ihn bei einer Revue sah und erkannte, wieder in das Bagno, diesmal auf Lebenszeit, zurückkehren mußte. Vautrin, der Bankier der Bagnosträflinge, verwendet die verhehlten, gestohlenen und geraubten Gelder seiner Schutzbefohlenen, dieses unsauberste aller Fideikommisse, zur Bestreitung von Luciens Aufwand. Die Antinous-Schönheit seines Schützlings macht ihn zum Liebling von Buhlerinnen aller Stände. Wie er in den Illusions perdues das Herzblatt von Madame de Bargeton und der Kurtisane Coralie gewesen, ist er nun der Günstling der Herzogin v. Maufrigneuse wie der Gräfin v. Sérizy und der Abgott von Esther, einer Halbjüdin, der Nichte des Wucherers Gobseck, die als Straßenläuferin niedrigster Klasse beginnt und hernach als größte Pariser Schönheit vom Finanzmagnaten Nucingen mit Palais, Kutschen, Millionen umworben wird.

Esther hat Lucien beim Besuch eines kleinen Boulevardtheaters kennengelernt und sich für Zeit und Ewigkeit dermaßen in ihn verliebt, daß sie, wie vordem Coralie, willenlos seinen Winken gehorcht. Vautrin war Zeuge, wie Esther auf einem Opernball durch höhnische Lebemänner an ihre schmähliche Vergangenheit gemahnt wurde und in ihrer Verzweiflung Hand an sich legen wollte. In seiner geistlichen Tracht predigt er ihr Einkehr, Buße, Läuterung und bringt sie – so schrankenlos ist sein Einfluß – in eine vornehme Klosterschule, wo sie sich bilden soll. Lang hält es ihr redseliges Blut dort nicht aus. Sie kehrt nach Paris zurück, wo sie auf Vautrin-Herreras Geheiß jahrelang so verborgen hausen muß, daß sie nur nachts in die Wälder um die Weltstadt ausfahren darf. Lucien genießt ihre grenzenlose ausschließliche Zärtlichkeit.

Vautrin sorgt für seinen Luxus, verschafft ihm ein Adelsprädikat und baut fest darauf, daß ihm eine gleichfalls sterblich in ihn verliebte Herzogstochter von Grandlieu mit ihrer Hand das Marquisdiplom reichen wird. Die Machtfülle Vautrins ist unerschöpflich: entlassene Sträflinge beiderlei Geschlechts gehorsamen ihm, wie Sklaven einem orientalischen Tyrannen; die Kupplerinnen seiner eigenen Sippe, u. a. Tante Nourrisson, eine frühere Geliebte – Marats, helfen zu jedem Gewaltstreich, zu jeder Vermummung und Vergiftung. Dazu kommt eine List und Körperkraft, die nicht ihresgleichen hat, die Philosophie des Lasters und sein unermeßlicher Ehrgeiz für Lucien, dem er die Erfüllung aller Lebenswünsche zudenkt, die ihm selbst unerreichbar bleiben.

Die Streiche dieses Bösewichts wirken zuletzt parodistisch: zudem verdirbt er durch ein Zuviel an Raffinement die einfachsten Pläne. Um Lucien den für die Grandlieus nötigen Familienbesitz, ein Landgut im Wert von Millionen vorzutäuschen, muß sich auf Vautrins Befehl Esther dem sinnlos durch ihre Reize betörten greisen Baron Nucingen verkaufen. Statt mit diesem Sündengeld den Handel zu begleichen, streut er aus, daß Lucien von Schwester Eva und Schwager David die zum Ankauf nötigen Gelder geliehen erhalten habe: eine Lüge, die von den hinter Vautrin herjagenden Spürhunden der Geheimpolizei, Corentin und Peyrade und dem Rechtsanwalt Derville, sofort aufgedeckt wird. Ebenso mißglückt sein überschlauer Anschlag mit Esther: in ihrem Jammer bringt sie sich um, bevor sie sich Nucingen hingeben müßte, und ihre von Vautrin gewählten Diener stehlen im Sterbezimmer die ihr von dem Bankier geschenkten 750 000 Franken. Die Polizei gibt Lucien am Tod Esthers und an dem Riesendiebstahl Schuld. Die Familie Grandlieu hat ihn schon zuvor preisgegeben. Er wird gefangengesetzt. Ebenso Vautrin. Alle Kniffe, Schliche, Verbrecherverschwörungen Vautrins und seiner Leute schlagen fehl, weil Lucien seelisch zusammenbricht, sich selbst aufgibt und Vautrins Vergangenheit vor dem Untersuchungsrichter verrät. Als der Schwächling zu spät erkennt, daß seine Übereilung ihn unmöglich gemacht, und daß er zugleich Vautrin, der ihn durch heroische Gegenwehr zu salvieren imstande war, unheilbar geschädigt hat, tut er, was er im Teich der Mühle bei Angoulême tun wollte: er macht ein Ende und erhängt sich an einem Fensterkreuz. Alle Bemühungen der großen Damen des Faubourg St-Germain, den lieblichen Sünder durch Beeinflussung der Richter und Bedrohung ihrer Beförderung zu befreien, sind ebenso müßig wie Vautrins Missetaten. »Der Machiavell des Bagno« tut Buße. Um sich späterhin an den Urhebern der Katastrophe, den Häuptlingen der Geheimpolizei rächen zu können, wird er selbst Geheimagent der Polizei, der wie der leibhaftige frühere Sträfling Vidocq aus einem Wilderer in einen Waldhüter sich verwandelt. Sehr bedeutende Einzelheiten – die Schilderung des Justizpalastes, die Bilder aus dem Gefängnisleben, die Charakteristiken der Verbrecher, mit denen Vautrin in ihrem Rotwelsch sich verständigt – helfen nicht über die Fratzenhaftigkeit seiner »Dernière incarnation« hinweg.

Die Iliade der Korruption geht sonst nicht leer aus in diesen Schlußbänden der »Illusions perdues«: streberische Richter halten sich äußerlich korrekt, ihres Avancements halber bieten sie zu jedem Unfug die Hand. Die blaublütigen Lebeweibchen des Faubourg St-Germain wagen, um nicht bloßgestellt zu werden, weit mehr ihretwegen, als zur Rettung Luciens die frechsten Überfälle des Gerichtes: sie werfen vor den Augen der Amtspersonen ihre Protokolle ins Feuer und sorgen für die Vernichtung ihrer »Liebes«briefe, deren sich Piron und die »Ode à Priape« zu schämen hätten durch ihren, jede Laszivität überbietenden Ton.

Vergleicht man die Physiognomie dieser ganz verworfenen Gesellschaft mit Chamforts Anekdoten oder mit Diderots Neffen Rameaus, so vermißt man in der »Dernière incarnation de Vautrin« die bei diesen früheren Sittenschilderern durchbrechende Entrüstung, die von Chamfort und Diderot genährte Zuversicht auf kommende Vergeltung. Der Trieb, sich zu bereichern, zu Pairien und Herzogkronen aufzusteigen, trifft in Balzac einen verwandten Zug. Für Vautrin äußert er sogar unverhohlene Sympathie. Wie recht Goethe hatte, für die »Peau de chagrin« das blasé zu mäßig zu finden, wird Blatt um Blatt sinnfällig in der »Dernière incarnation de Vautrin«. Hier schlägt die Sensationsgier ins Lächerliche und Widerwärtige um. –

Furchtlos, wie mit den Fälschern der öffentlichen Meinung rechnete Balzac mit den Handel und Wandel gefährdenden Geldmächten ab, die Moralisten und Sittenschilderer vor ihm nur selten vor ihren Richterstuhl gezogen hatten. Chamfort wirft einmal die Bemerkung hin, daß Molière die Finanzleute niemals auf die Bühne gebracht habe, seiner Ansicht nach zu solcher Schonung durch ein Verbot Colberts gezwungen. Daß in Geldsachen so wenig heikle Spekulanten wie Voltaire und Beaumarchais ihren Beschützern und Geschäftsfreunden nicht weh taten, ist leicht zu verstehen. So war im 18. Jahrhundert nur der unabhängige, stolze Lesage beherzt genug, in seinem Turcaret einen Makler auf die Bretter zu bringen, der durch seine Lebensführung ebenso verächtlich ist wie in seinem faulen wucherischen Treiben: ein roher, herzloser Emporkömmling, der mit seinem Gelüst, eine hochadelige Mätresse zu gewinnen, durch gaunerische Glücksritter zum besten gehalten, ein betrogener Betrüger, schmählich endet. Auch Diderot dachte nicht anders als Lesage. Vergeblich sucht er den Neffen Rameaus zu bekehren, der zynisch ausruft: »Nur Gold! Gold! Gold ist alles, und das übrige ohne Gold ist nichts. Auch hüte ich mich, meinem Knaben den Kopf mit schönen Grundsätzen vollzupfropfen, die er vergessen müßte, wenn er nicht ein Bettler bleiben wollte. Dagegen, sobald ich einen Louisdor besitze, was mir nicht oft begegnet, stelle ich mich vor ihn hin, ziehe das Goldstück aus meiner Tasche, zeige es ihm mit Verwunderung, hebe die Augen zum Himmel und küsse das Stück.«

Nach den ungeheuren Verschiebungen des Besitzes durch die Revolution und die napoleonischen Kriege war an die Stelle vernichteter Privilegierter die Geldmacht zu einer in der alten Monarchie ungeahnten Bedeutung gestiegen und unter dem Julikönigtum bedurfte es nicht erst der Losung: »Bereichert Euch!«, um die häßlichsten Instinkte zu entfesseln. So rasch als möglich mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln Reichtümer sammeln und dadurch in Staat und Gesellschaft Einfluß, Ehren, Würden gewinnen, mit den erlauchtesten Adelsgeschlechtern Ehebündnisse suchen, zur Vorherrschaft, wenn nicht gar zur Alleinherrschaft gelangen, alle Errungenschaften der riesigen Umwälzungen der Bourgeoisie, dem engherzig umgrenzten »pays legal« zum Schaden der verdrängten oder nach wie vor unterdrückten Elemente des Volkes sichern: das war der Wille weiter Schichten. Theoretische und praktische Gegenbewegungen, Arbeiteraufstände, volkswirtschaftliche Systeme, sozialistische Schwärmer übten zunächst nur geringe unmittelbare Gegenwirkung, der Kapitalismus blühte in dieser Friedenszeit kraftvoll auf, Fabriken und Eisenbahnen erstanden, gesunder Unternehmergeist, gesegneter Fleiß mehrten das Nationalvermögen, und nicht die Schuld tüchtiger Finanzpolitiker, bedächtiger Leiter des französischen Geldwesens war es, daß Schwindler mit dreister Bauernfängerei, waghalsigen Spekulationen und Gründerprospekten Gutgläubige in ihre Netze zogen und zum Vorteil weniger findiger Abenteurer, die Millionäre wurden, Gimpel und Genußgierige, wehrlose Witwen und Waisen um ihre Habe brachten.

Balzac kannte von Grund aus die Wucherer und Beutelschneider aller Formate seiner Zeit: am eigenen Leib hatte er ihre Praktiken erfahren, und in allen Tonarten gedenkt er aller Spielarten dieser Sippe. Sein Gobseck war der erste und bleibt der größte der von ihm gemalten Charakterköpfe aus der Gruppe der Pariser Blutsauger, die selbstbewußt und selbstgefällig ihre Macht mißbrauchen. Gobsecks Troß bilden die Pfandverleiher, die Berater verschwenderischer grüner Jungen, die sie zu Wechselfälschungen anleiten, die Verführer und Verkuppler von Frauen aller Klassen, die Meute, die Geist und Arbeit hilfloser Künstler und Erfinder ausnutzen. Balzac machte jedoch hier nicht halt. Er hatte auch der Hochfinanz, der Haute banque, in die Karten geschaut: dem Elsässer Juden Nucingen, der zweimal Riesenkonkurse gemacht und dadurch den Grund zu einem unermeßlichen Vermögen gelegt hatte, das er durch ähnliche, nur sorglicher verschleierte, auf die Ausraubung der Massen ausgehende Anschläge unablässig mehrte. In diesen durch alle rabulistisch ausgedachten Vorsichtsmaßregeln legal gedeckten Machenschaften arbeitet er im Verein mit passend gewählten Spießgesellen, die einem solchen Räuberhauptmann nicht immer gewachsen sind und gegebenenfalls von Nucingen ebenso rücksichtslos verleugnet und geschädigt werden wie seine Aktionäre. Wo er seinen Profit findet, sieht er ebenbürtigen Mitverschworenen durch die Finger. Er macht Halbpart mit dem Galan seiner Frau, Rastignac, dem Träger eines als Aushängschild willkommenen alten Adelsnamens, der an Schürzenbändern zum Grafenrang aufsteigt, wie mit einem Findelkind, Ferdinand, der sich eigenmächtig das Adelsprädikat du Tillet beilegt und es vom Kommis und Ladendieb im Parfümeriegeschäft Birotteau zum Erzmillionär bringt.

Angesichts dieses Schwindelgeistes in den verschiedensten Sphären der Weltstadt läge die Wiederholung von Jugurthas Wort: »urbem venalem et mature perituram si emptorem invenerit« als Motto des Romans »La maison Nucingen« nahe. In dem Widmungsbrief an Zulma Carraud, der diese Abrechnung mit der Haute banque zugeeignet ist, weist indessen Balzac selbst als Gegenstück auf ein anderes seiner Werke hin: »Histoire de la grandeur et de la décadence de César Birotteau«, das die altväterische Rechtschaffenheit im Kreis der Kleinbürgerwelt im Kampf gegen alle siegreichen Listen und Tücken moralisch triumphieren ließ. Wie in Hogarthschen Kontrastbildern der Lebenslauf des Lasterhaften und Tugendreichen treten einander in dem Geschick des Parfümerieladens Birotteau und der Bankfirma Nucingen unbeirrbare Redlichkeit, die um die Rettung und Wiedereroberung der makellosen kaufmännischen Ehre bis zur Selbstvernichtung ringt, und ihr Widerspiel gegenüber. In leichter gerühmtem als bewährtem Wahrheitsdrang hat sich Balzac die Lösung seiner Aufgabe nicht etwa durch Schönfärberei erleichtert: seine Kleingewerbetreibenden sind keine Ausnahmenaturen. Es sind dieselben Leute, die durch ihre Beschränktheit und Philistrosität gemeiniglich das Stichblatt für die Spöttereien der Karikaturisten und Bohemiens sind, Gevatter Schneider und Handschuhmacher, die voll lächerlicher Vorurteile sind, auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten sich Blöße um Blöße geben und doch im innersten Kern gesund sind: »Diese Kleinbürgerwelt, die, eifersüchtig auf alle Auszeichnungen, nichtsdestoweniger gut, dienstwillig, mitleidig ist und mit ihren seelischen Vorzügen zum besten gehalten und ihrer läßlichen Fehler willen verhöhnt wird von einer Gesellschaft, die ihr an Wert nicht gleichkommt. Denn sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, just weil sie nicht gleisnerische Umgangsformen pflegt, diese tugendhafte Bourgeoisie, die unschuldige, zu jeder Arbeit geschulte Töchter voll guter Eigenschaften erzieht, deren Wert durch die Berührung mit höheren Klassen, sobald sie hineinheiraten, auf der Stelle gemindert wird, diese Mädchen ohne Geist, unter denen Molières Chrysale,« der Wortführer des gesunden Hausverstandes in den Femmes savantes, »seine Frau gesucht hätte«. Eine Spießbürgerwelt, in der Charakter, Tüchtigkeit, Zuverlässigkeit gedeiht, in der ein Manneswort mehr gilt, als Siegelbrief und die Stimme des Gewissens durch keinen Sophismus zum Schweigen gebracht wird.

Cäsar Birotteau ist ein Bauernjunge aus der Touraine, ein mittelmäßiger Kopf, ein goldenes Herz, gleich seinem Bruder François, der in seiner Heimat blieb, geistlich wurde und nachmals den Ränken des herrschsüchtigen Heuchlers Troubert zum Opfer fiel. Cäsar geht nach Paris, wo er im Parfümeriegeschäft Ragon anfangs zu den niedrigsten Diensten verwendet wird. Maria Antoinette ist Kundschaft Ragons, der auch während der Revolution königlich gesinnt bleibt und dem durch seinen Eifer allmählich aufsteigenden Cäsar dieselben Gesinnungen einimpft, so daß der Halbwüchsige beim Aufstand im Vendemiaire gegen die von Napoleon befehligten Konventstruppen mitficht und auf den Stufen der Kirche von Saint-Roch verwundet wird. Dieser Waffengang wird Cäsar von den Royalisten nicht vergessen. Sein Brotgeber, an dessen Tisch nach damaliger patriarchalischer Sitte die Kommis mitessen, gewinnt ihn lieb und übergibt ihm, als er sich zurückzieht, seine Parfümerie, die durch ein geschickt vertriebenes Haarwuchsmittel immer einträglicher wird. Cäsar ist, trotzdem ihn eine doppelt so alte dralle Köchin vorübergehend in einen rasch vorübergerauschten Sinnestaumel gezerrt hat, innerlich rein geblieben. Sein Herz gewinnt eine mittellose, bildhübsche, vielumworbene Ladenmamsell eines Putzwarenladens der Ile Saint-Louis, die Cäsar vor allen anderen Bewerbern den Vorzug gibt. Der Hausstand der beiden ist ein Muster. Die Gatten leben in ungetrübter dauernder Eintracht, Konstanze ist die Seele des Geschäftes, und obwohl oder just weil sie ihre Überlegenheit kennt, Cäsar selbst aber so wenig wie seine Untergebenen fühlen läßt, führt sie das Regiment. Ihre Tochter ist an Leib und Gemüt ein Prachtgeschöpf, von den Eltern liebreich gehegt und zu höherer Bildung bestimmt. Der Wohlstand Cäsars wächst. Nach der Rückkehr der Bourbonen stellen ihn die Royalisten in seinem Bezirk und Beruf voran: er wird Beisitzer im Handelsgericht, Vizebürgermeister und endlich Ritter der Ehrenlegion. Die Verleihung dieses Ordens wird zur Lebens- und Schicksalswende.

Cäsars Frau erwacht aus einem wüsten Traum, in dem sie sich selbst als Doppelgängerin an der Schwelle ihres Ladens als Bettlerin sah. Erschreckt gewahrt sie, daß ihr Mann nicht in seinem Bett ist. Alsbald findet sie ihn. Er prüft die Eignung seiner Räume zu einem Festball, mit dem er seine Auszeichnung feiern will. Die gescheite Frau warnt vor solchem über ihre Mittel gehenden Aufwand. Cäsar zeigt ihr aber große Trümpfe. Er hat ein neues noch wirksameres Haarwuchsmittel entdeckt und plant mit seinem Notar den Kauf unverbauter Gründe um die Madeleine-Kirche: eine Bauspekulation, die mit der Zeit Millionen abwerfen muß. Konstanze versucht zu bremsen, fügt sich aber, da sie Cäsar nicht die Freude an seinen Erfolgen verkümmern will. Possenhaft ist die harmlose Eitelkeit, mit der er nun jedermann von seinen Heldentaten im Vendemiaire und von dem Ehrenzeichen erzählt, das ihm dafür zum Dank und Lohn zuteil wurde. Es fehlt ihm nicht an Neidern, doch der Glanz, der auf sein Haus fällt, als die ersten höfischen Würdenträger seine Einladung annehmen, die Energie, mit der Cäsar, der Kosten nicht achtend, die schlichten Wohnzimmer durch Um- und Zubauten in Ballsäle umwandelt, der Geschmack, mit dem die Seinigen das Fest rüsten und das Gelingen, das den von der Bürgerschaft des Viertels und den Ehrengästen hochgerühmten Abend krönt, ist der Gipfel von Cäsars Aufstieg. Er fühlt sich so beseligt, daß Balzac die Jubelstimmung des Hausvaters und seiner Angehörigen nur mit dem Finale von Beethovens C-moll-Sinfonie zu vergleichen weiß. Seine Tochter hat lang zuvor ihr Herz entdeckt: es fällt einem von der Natur nicht allzu wohlwollend bedachten, rothaarigen, hinkenden Gehilfen ihres Vaters Anselm Popinot zu, dessen Tatkraft und Edelmut sich allerdings in den Prüfungen, die über Cäsar unvermutet hereinbrechen, leuchtend bewährt.

Cäsars Notar, dem er seine Gelder für die Bauspekulation anvertraut hat, geht durch, nachdem er das Opfer einer unersättlichen Buhlerin geworden. Die großen Ausgaben für den Festabend, die Erbarmungslosigkeit der Gläubiger, die Hartherzigkeit der Bankiers, die Rachsucht des früheren Kommis du Tillet, der vom ertappten und begnadigten Ladendieb Birotteaus zum millionenschweren Weltdieb der Hochfinanz geworden, die Unmöglichkeit, seine neue Haarwuchspomade sofort zu fruktifizieren: alles beschleunigt sein unaufhaltsames Verhängnis und zwingt ihn, Konkurs anzusagen. Und obwohl er mit den Seinigen den Gläubigern ihren letzten Groschen zu Gebote stellen, obwohl alle Standesgenossen Cäsars nicht den leisesten Zweifel in seine Ehrlichkeit setzen, fühlt sich der Biedermann, der vormals jeden Bankerotteur unerbittlich verdammt hat, entehrt. Seine Frau wird Buchhalterin im Hause seines früheren Gehilfen Popinot, seine Tochter Ladenmamsell, er selbst übernimmt ein durch die Gnade des Hofes gewährtes Winkelämtchen. Alle drei im Bunde mit Popinot sparen sich jeden Heller ab, um die Reste seiner Schulden zu tilgen. Jahre der Demütigungen und Entbehrungen gehen vorüber, die Kränkungen nagen an dem von reiner Frömmigkeit erfüllten Herzen Cäsars. Sein Onkel, ein Hagestolz, ein zur Ruhe gesetzter Galanteriewarenhändler alten guten Schlages hilft und tröstet nach Kräften. Ein in Paris ungewöhnlicher Prozentsatz, die Bezahlung von drei Viertel seiner Schulden würde Cäsar berechtigen, erhobenen Hauptes sich allerorten zu zeigen, ein neues Dasein auch in seinem Beruf zu beginnen. Ihm genügt das nicht, bis ihm das kaum mehr erwartete Los zufällt, vollbringen zu können, was unter den ungezählten Konkursen der Weltstadt kaum einmal in zehn Jahren sich ereignet, den längst zu ihrer vollen Zufriedenheit abgefundenen Gläubigern bis auf den letzten Pfennig mit Zinsen und Zinseszinsen ihre Forderungen nachträglich ganz auszubezahlen.

In feierlicher Gerichtssitzung wird Cäsar aller früheren Verpflichtungen ledig erklärt und von den ersten Magistratspersonen als untadeliger, vorbildlicher Kaufmann gepriesen, der seinen Orden verdientermaßen wieder anlegen soll. Dem Übermaß des Glückes ist der Dulder nicht gewachsen. Als die Liebe der Seinigen ihn in seiner alten Behausung mit einem Fest überraschen will, das dem glorreichen Ball von dazumal gleicht, trifft ihn ein Herzschlag.

Balzac hat jahrelang gezögert, bis er für den immer wieder neu erwogenen Plan, die Kleinbürgerwelt zu malen, wo sie sich in ihrer Vollkraft zeigt, die rechte Stimmung, den rechten Vorwurf fand. Bei der Niederschrift war er so gehetzt, daß er in den vier Wochen der Abfassung dieses Meisterromans die Füße in einem Senfbad erhalten mußte. Von Anfang bis zu Ende ist das Werk ein Volltreffer. Birotteaus Familie, die braven Bürger, wie die Gauner und Gaukler, die Verkehrtheiten und Grausamkeiten der Konkursordnung, der Humor der um das Gedeihen der Haarwuchspomaden aus Haselnüssen mit Reklamen wetteifernd arbeitenden Handlungsreisenden à la Gaudissart und des grimmigen und doch gutartigen Marktweibes, Madame Madou, die sich eine Weile geflissentlich hintergangen glaubt und gleich wieder zufrieden gibt, die Tapferkeit von Frau und Tochter, der Gemütsadel Popinots, Licht und Schatten ist auf dem rechten Fleck und alles vereint sich zu einem reinen, starken, herzbewegenden Eindruck. Hat Freytag in Soll und Haben das deutsche Volk dort aufgesucht, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden war, bei seiner Arbeit, so war Balzac nicht weniger wohlberaten bei der Wahl Cäsar Birotteaus zum Helden: sein Lied vom braven Mann labt doppelt nach der Iliade der Korruption.


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