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LIED DER ZEIT

An ihrem alten Webstuhl sitzt die Zeit
und webt und webt ihr tausendjährig Kleid,
die Hand am Schiffchen und am Tritt den Fuß.
Licht ist die Kette, Finsternis der Schuss.
Aus Auf und Nieder, Werden und Vergehn
wächst das Gewebe, schlingt sich Strähn zu Strähn,
wird Bild an Bild von sichrer Hand gereiht.
So aber singt bei ihrem Tun die Zeit:

»Mit dem Weberschiffe in der Hand
wirk' ich Tod und Leben, Meer und Land,
web' ich Licht und Schatten, spinn' das Kleid
der allschaffenden Unendlichkeit.
Ströme führ' ich aus der Erde Schoß,
Sterne reiß' ich aus dem Chaos los,
in geheimster Wesenskräfte Schwung
mach' ich Junges alt und Altes jung,
fasse so das tiefverborgne Sein
Bild um Bild in meine Falten ein.
Ob ich auch an diesem Webstuhl bin
Werkzeug nur und stumme Dienerin,
schaff' ich Frucht und Blüte, Baum und Berg,
forme Ding und Schicksal, Tat und Werk,
zeichne Weltgeschehen Strich um Strich,
Herrscherin und Bildnerin auch ich.«

An ihrem alten Webstuhl sitzt die Zeit
und singt ihr Lied seit grauer Ewigkeit
und wirft das Weberschiffchen Augenblick
durch die gestrafften Fäden Leid und Glück.


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