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LIED DER STADT

In meiner Häuser dumpfen, lichtlosen Höhlen
verdorren, ersticken, verkümmern die werdenden Seelen.
In meiner Straßen weit gesponnenem Bann
ist nichts, wo ein Kinderherz festwurzeln kann.
Da wächst ein Geschlecht, vorzeitig erschöpft und matt,
das Steine für Blumen und Schlote für Wälder hat.
Es lebt seiner Kindheit seligen Augenblick
auf einem eingemauerten Erdenstück.
Ein Fleckchen Himmel, nicht klar und nicht allzu groß,
bleibt für das suchende, fragende Auge bloß.
Ein Streifen Rasen, nicht grün und nicht allzu breit,
ist Traum- und Wunschland, Erfüllung und Seligkeit.

In meiner Schornsteine lastendem Qualm erstickt,
was anderwärts die Kinderherzen beglückt.
Nie atmet die Seele die Freiheit unendlicher Flur,
erlebt nie die Wonne der jauchzenden Kreatur,
die in Gottes blumigen Garten hineingestellt
alles Leben darin für Schwester und Bruder hält.
Grau in Grau ist die Gasse und schwarz der Ruß.
Nie tritt eine Wiese der staubige Kinderfuß;
Schmetterlinge sind fremdes Fabelgetier;
dumpf ist die Kinderfreude im Großstadtrevier.
In meinen Armen haust heimatlos eine Herde
entwurzelter Menschen. Und draußen blühn alle Wunder der Erde.

Tausend Füße täglich laufen über mich her.
Tausend Füße sind es oder noch mehr:
schwere, leichte, beschwingte, kleine und große,
mit Nägeln am Absatz, in Schuhen, Pantoffeln und bloße,
wie es so geht. Sie hüpfen, sie hasten, sie schleichen.
Immer andere sind es und dennoch immer die gleichen.

Tausend Füße täglich laufen über mich hin.
Wozu die Eile? Wohin führen Weg sie und Sinn?
Allmorgendlich lautes Getrappel: ein wildes Heer;
allabendlich strömen sie heimzu müde und schwer.
Und ich, die ich nur eine steinerne Treppe bin,
ich möchte rufen und fragen: »Ihr Füße, wohin?«


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