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Vierzehntes Kapitel

(Bruder hört menschlichen Gesprächen zu. Teils mit Opposition teils mit Anteilnahme)

Ein Verliebter ist ein schlechter Freund ... Ich hörte es damals meinen geliebten Herrn zu Richard sagen. Ich weiß nicht meinte er sich oder Richard. Oder mich. Es hätte uns, damals, wohl alle drei treffen können.

Mein ganzes Interesse kreiste plötzlich um eine Foxterrierin, schneeweiß, rosenschnäuzig und graziös, namens Jette. Sie ging stets an fester Leine zwischen zwei eleganten Herren, die sie behüteten, wie Mütter ein Kind. Ja, aus ihren Gesprächen vernahm ich, daß sie Jetten die Zähne putzten, die Nägel schnitten und nach dem parfümierten Bad puderten. Das schreckte mich nicht ab. Im Gegenteil. Erobern müssen erhöht das Vergnügen. List lernt sich schnell. Ich will gestehn, daß mich Jette mehr noch als frühere Bekanntschaften dieser Art von meinem geliebten Herrn abgelenkt hatte.

Es benötigte eines Sonntagspazierganges, zu dem ich unwillig gedrungen worden, um zu erfahren, daß meines geliebten Herrn Wesen wie Äußeres zu Besorgnissen Anlaß gäbe. Daß er bleich, traurig, appetitlos. Daß man ihn zu zerstreuen und zu erheitern suchen sollte.

Der Herr Senator und die gnädige Frau führten dies Gespräch. Während ich zwischen ihnen schreiten mußte, wie Jette zwischen ihren eleganten Herren.

Der Herr Senator nannte Achims Zustand Sehnsucht.

Frau Alwine fragte, ob die wahre, edle Sehnsucht, die Goethe und Schiller zu unsterblichen Gedichten veranlaßt hätte, wirklich für ein Mädchen gewöhnlicher Herkunft in Funktion treten könne? Es schien ihr undenkbar.

Als sich der Herr Senator darauf wieder nur in seinen Fingernägeln spiegelte, fragte die gnädige Frau, ob seine Gedanken schon wieder beim Kaffee wären.

Der Herr Senator zog sein Gesicht zusammen, als wäre er in seinem Bureau.

Er sagte, es ginge ihm allerdings allerhand durch den Kopf. Die Zeiten hätten sich sehr geändert. Es wäre früher besser zu leben gewesen.

Dies merkwürdige Wort habe ich öfters von Menschen gehört. Daß es bessere Zeiten gegeben, als in denen sie lebten. In meinen Verstand ging dies nie hinein. Ich konnte nichts andres begreifen, als daß die beste Zeit immer die sein müsse, in der man lebendig.

Der Herr Senator räusperte sich und sagte, daß man sich vielleicht ein wenig einschränken sollte.

Die gnädige Frau sagte, daß sie jederzeit dazu bereit wäre. Sie sei es nicht, die Ansprüche habe. Dann zählte sie die Tätigkeit der vier Dienstboten auf und bewies damit, daß diese unentbehrlich wären.

Während dieses Gespräches grüßten beide, fortwährend lächelnd, Vorübergehende. Ich mußte zwischen ihnen genau Schritt halten. Es schien mir, als gälte auch mir jeder Gegengruß. Jeder blickte auf mich. Es war eine unangenehme Situation. Ich hielt den Kopf tief gesenkt.

Der Herr Senator sagte zu der gnädigen Frau, daß es doch dringend nötig gewesen wäre, sich einmal öffentlich mit dem Hund zu zeigen. Um etwaiges Gerede mundtot zu machen.

Frau Alwine klagte, was Kinder für Opfer forderten, was für Erregung sie ins elterliche Leben schleuderten. Für die beiden Nasenspitzen hätte sie einen Hermelinkragen auf den Sealmantel setzen können, was nächsten Winter höchste Mode werden sollte. Als Ersparnis hätte sie gerade gedacht, mich abzuschaffen. Ich wäre schließlich entbehrlich.

Der Herr Senator erwiderte, daß es nichts Unklügeres geben könne, als mich jetzt fortzugeben. Es würde alle Klatschgerüchte unterstützen. Auch Achims wegen wäre es nicht angebracht. Ich wäre ihm Zerstreuung auf seinen einsamen Spaziergängen.

Frau Alwine seufzte und fragte, wie es nun mit den Reiseplänen wäre. Auch der Hausarzt hielt einige Wochen Nordsee als Herzstärkung Angelikas für nötig.

Der Herr Senator antwortete, wenn es sein müsse, dann allerdings.

Frau Alwine fand, daß sich der Herr Senator jetzt immer merkwürdig umständlich auszudrücken beliebte. Eine kleine Badereise während der heißesten Wochen leistete sich doch der Ärmste.

Hier unterbrach das Gespräch. Man begegnete Richards Eltern. Begrüßte sich und lobte den Sommertag.

Frau Alwine sagte, sie habe eben zu ihrem Gatten gesagt, heute juble jedes Blatt und jeder Strauch.

Die Herrschaften erkundigten sich nach Fräulein Angelika, dem lieben Singvögelchen. Dabei blickten sie auf mich. Ich knurrte.

Frau Alwine antwortete, daß das liebe Kind nur an Blumen und Musik denke.

Man schritt ein Stück Weges zusammen. Endlich löste man meine Leine. Ich sprang davon. Ich kümmerte mich um nichts mehr.

Nur einmal hörte ich die Frau Mama Richards fragen, ob ich nicht sehr bissig wäre. Sie hätte gehört, daß solche Hunde ihre Treue so weit übertreiben könnten, daß sie Freunde des Hauses zu verstümmeln imstand wären.

Frau Alwine hustete und mußte das Taschentuch gegen den Staub ziehen. Dann sagte sie, daß alles dies leeres Gerede wäre. Ich wenigstens wäre keinem Menschen und keiner Katze gefährlich. Ich wäre lammfromm.

Das war mir zu viel. Dobermann war Dobermann. Ich bellte scharf und anhaltend.

Richards Mama trat einige Schritte zurück und begann, sich zu verabschieden.

Als wir wieder zu Haus waren, sagte Frau Alwine, daß das Leben eine Tortur wäre. Nichts wäre, wie es sein sollte. Am ärgerlichsten war sie auf die viele Sonne, die die Farben aus den Möbelstoffen sog. Alle Vorhänge mußten fest verschlossen werden.

Nach der Mahlzeit suchte ich selbst den Schatten. Ich wartete auf meinen geliebten Herrn. Ein Schwimmbad hätte uns beiden heute Freude machen müssen. In den letzten Tagen waren wir verschiedne Male um die Wette über den breiten Strom geschwommen. Ich ließ meinen geliebten Herrn jedesmal gewinnen. Ich wünschte nicht, das Wasser zu verlassen, ehe ich ihn auf festem Boden wußte.

Aber mein geliebter Herr sollte heute zerstreut und abgelenkt werden. Er sollte mit seinen Eltern einer Feier in einem Findelhause beiwohnen. Der Herr Senator war einer der Wohltäter dieses Asyls. Noblesse oblige. Er war verpflichtet, es an gewissen Jahrestagen zu besuchen.

Ich hörte ihn dies sagen, als Frau Alwine fragte: »Muß dies sein? Bei dieser Hitze?«

Sie fuhren im Wagen fort. Achim und Fräulein Angelika im Rücksitz. Ein Stück Weges umbellte ich Räder und Pferdefüße. Ich wußte, wenn auch mein geliebter Herr nur mit dem Rücken zum Kutscher saß, würde dieser es nicht wagen, die Peitsche gegen mich zu gebrauchen. Aber dann rief mir mein geliebter Herr selber zu, umzukehren und zu Haus auf ihn zu warten. Ich kehrte um, die Staubwolken durchspringend, jagte ich durchs Gittertor zurück in den Schatten der Bäume.

Eine Weile freute ich mich der Kühle. Ich schlief ein wenig. Dann begann mir die Zeit lang zu werden. Es surrte, summte und flog über mir. Ich wünschte mich auch in Bewegung setzen zu können. In der Hütte faul, fühlt man jeden Floh. In Lauf und Bewegung hat man nicht Zeit, sich um sich zu kümmern. Ich wurde verdrießlich. Ich schnupperte am Gitter entlang. Dachte an Jette. Aber mein geliebter Herr hatte befohlen, ihn zu erwarten.

Endlich horte ich Rädergeknirsch. Sie kehrten zurück.

Ich sprang dem Wagen entgegen und neben ihm daher. Die Gesichter der Damen, langgezogen, verrieten, daß man sich gelangweilt hatte. Ich hielt mich fern. Ich wußte, daß sie dann alles ärgerte, was ihnen in den Weg kam. Der Herr Senator ging zuerst ins Haus. Seine Gedanken ummauerten ihn. Ich spürte, daß er nichts von dem Saftgeruch der sonnenbeschienenen Oleanderblätter einsog.

Mein geliebter Herr rief mich, sobald er sich der Besuchskleider entledigt hatte.

Auf dem Rasenplatz bei den Turngeräten warf er sich ins grüne Gras.

Ich umkreiste ihn bellend. Ich wollte über den Barren springen. Nach Bewegung, Sprung verlangte ich.

Mein geliebter Herr merkte es nicht. Er sah ernst aus, wie ein Mann.

Ich setzte mich neben ihn ... Ich wußte, dann würde er sprechen. Ihm machte es Freude, das genügte.

Richtig begann er bald zu berichten. Von einem Haus, das außen ein Schloß schien. Innen jedoch nichts als uferlose Gefängnisräume barg. Aber nicht Lebensverirrte litten dort. Sondern Kinder, Kinder, die noch keine Blume kannten. Blasse kleine Mädchen, farblose Bubengesichter, den Gram Erfahrner in trüben Augen.

Achim holte seine Uhr hervor. Sie konnte seine Töne summen, wie Bienengeschwirr. Ich bellte stets dazu.

Mein geliebter Herr schüttelte müde den Kopf. Jene Kleinen dort hatten nicht einmal gelächelt zum Silberton dieses Zeitschlages. Er hatte sie gefragt, ob sie die Uhr einmal in die Hand nehmen wollten. Sie hatten sich abgewandt und gesagt, das dürften sie nicht. Er hatte sie gefragt, ob sie sich freuen würden, wenn er ihnen einmal seinen großen, klugen Hund mitbringen würde. Sie hatten nicht ja geantwortet, nicht nein. Bis einer, versteckt zwischen den andern gelispelt hätte, daß dies nicht erlaubt sein werde.

Dann hatte die Vorsteherin, hager, hoch, mit Blicken, die zur Hälfte unter geröteten Lidern verdeckt waren, Achim gebeten, die Kleinen nicht durch Privatgespräche zu verwirren. Die Reihe käme jetzt bald an diese, sich im Rezitieren zu zeigen und geistliche wie vaterländische Lieder vorzusingen.

Die Sprechende verzog ihr Gesicht dabei, als bisse sie in einen sauren Apfel. Doch hörte Achim ein Kind erstaunt dem andern zuflüstern, daß das Fräulein heute lächle.

Bald darauf sangen die dünnen, hellen Stimmen in ängstlich genauem Takt zu Gottes Lob und Ehre.

Ich spürte, daß die Haut meines geliebten Herrn die Feuchtigkeit kummervoller Erregung überschauerte. Ich legte meine Schnauze auf sein Knie. Ich zupfte an seinem Rock. Ich wünschte ihm zu zeigen, daß sich der Abend ringsum mit Buntheit rüstete. Jetzt müßte es gut sein, an dem blumenvollen Ufer entlang zu streifen.

Mein geliebter Herr glättete mit seinen unruhigen Händen mein Fell. Ich fühlte, daß er trotzdem allein war. Und ich auch.

Er murmelte, wie es möglich wäre, daß eine Mutter ihr Kind an einer eisernen Türe, eingefügt zwischen hohen Mauern, abzugeben vermochte. Wie ein Bündel Heu, eine ganze werdende Welt? Während draußen das buntbewegte Leben der Straße weiterrollte? Konnte sie je wieder Schlaf finden? Konnte ihr Herz je wieder gleichmäßig schlagen? Konnte sie je wieder lächeln? Erstarrte nicht ihr Blut, wenn sie andre Kinder im lachenden Spiel dahinstürmen sah?

Mein geliebter Herr sprang auf. Er lief zur gnädigen Frau. Er umarmte sie. Er küßte sie. Er sagte wieder und wieder nichts als: »Mutter.«

Er wiederholte, was er von den Findlingen und ihren Müttern mir zugemurrt hatte.

Der Klang seiner Stimme peinigte mich. Ich heulte laut auf. Vergessend, daß ich mich eingeschlichen hatte, um mich verborgen unter dem Tisch zu halten.

Frau Alwine hielt sich die Ohren zu. Sie rief, daß man Nerven wie Stränge haben müßte, um das ertragen zu können. Der Junge heule, der Hund winsle. Sie begriffe nicht, warum sich Achim permanent anormal benehmen müsse. Sie hatte die Feier sehr erhebend gefunden. Natürlich auch ein wenig langweilig, wie dergleichen nun einmal immer wäre. Aber würde es besser sein, wenn solche Kinder nirgends ein Unterkommen hätten? Dann sprach sie von ihrer bevorstehenden Badereise. Sie hätte den Kopf wirklich reichlich voll mit eignen Angelegenheiten. Für jene Kinder sorgten Papa und andre edle Männer jahraus, jahrein. Was wollte denn Achim eigentlich?

Die gnädige Frau zupfte sich einige Stirnlocken zurecht. Dabei mochte sie im Spiegel auch Achims bleiches Gesicht bemerkt haben.

Sie streichelte ihn und fragte, ob er sich wünschte, die gnädige Frau an die Nordsee zu begleiten.

Achim schüttelte den Kopf. Er eilte hinaus. Knapp konnte ich noch hinter seinen Fersen mit hinaus zur Tür.

Achim lief bis ans Ende des Gartens. Er warf sich auf den Rasen und schrie: »Ich möchte sterben, sterben, sterben«. Er wandt sich, als würde sein Leib von wildwühlenden Schmerzen zerrissen. Ich leckte seine Stiefel. Riß an seinen Kleidern. Versuchte, ihn aufzurichten.

Dann jagte ich durch die Wege des Gartens, um Onkel Tom zu finden. Er verstand alles zu heilen.

Endlich traf ich wenigstens auf den Herrn Senator. Ich bellte flehend und zerrte ihn am Ärmel vorwärts. Er mußte meinem geliebten Herrn Hilfe leisten. Ich war in Schweiß gebadet. Die Zunge hing mir weit zum Hals heraus.

Er verstand mich nicht. Er fürchtete mich. Endlich begriff er. Ein Schmerzensruf Achims hatte ihn erreicht, als ich mit Bellen verschnaufen mußte.

Als des Herrn Senator eiliger Schritt auf dem Kiesweg knirschte, war Achim aufgesprungen.

Er sagte: »Guten Abend, Papa. Noch immer schönes Wetter, nicht wahr?«

Dann pfiff er mir. Wir gingen hinauf. Er warf sich aufs Bett. Es dauerte nicht lange, da konnte auch ich mich beruhigt ausstrecken. In der guten Nähe des ruhig Atmenden.

Tiefer Schlaf hatte Achim überfallen.

Je fester der Herr schläft, um so wachsamer muß der Hund sein. Ich lag ausgestreckt, den Schweiß der Furcht abkühlend, die ich um meinen geliebten Herrn gelitten hatte. Aber ein Ohr blieb aufrecht.

Lange bevor sie an der Schwelle anlangten, hatte ich schon die Schritte von Achims Eltern vernommen. Und mich bereitgehalten.

Ich schlüpfte mit ihnen ins Zimmer.

Sie beugten sich über den Schlafenden. Sie waren zufrieden, ihn ruhig zu finden. Frau Alwine fand, daß Achim im Schlaf noch genau so aussähe wie als Kind. Sie war gerührt.

Sie bemerkten mich auch nicht, als ich wieder mit ihnen hinausschlich.

Ich hatte gefürchtet, entdeckt zu sein. Wieder auf der andern Seite der Tür blieb der Herr Senator stehn, mit gesenktem Gesicht.

Er sagte leise: »Und so war man auch einmal.«

»Du?!« fragte Frau Alwine scharf und laut.

Ich fürchtete schon, mein geliebter Herr wäre geweckt worden.

Aber nun gingen sie weiter. Alles blieb ruhig ...


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