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Fünftes Kapitel

(Bruder erzählt uns von Onkel Tom, um dessen Bekanntschaft wir ihn beneiden könnten)

Onkel Tom ist es wert, daß man ein wenig von ihm erzählt. Ja, mich wundert, daß ich so weit gekommen bin, ohne ihn erwähnen zu können.

Onkel Tom sah man nie bei den Oleandern und der eleganten Hundehütte. Kurzum, nie auf der Vorderseite des weißen Hauses. Ebenso niemals drinnen. Sein Reich war der Gemüsegarten, die Ställe, der Hühnerhof. Er trug ein rotes Käppchen auf dem weißen Kopf und war sonst in einen Anzug aus braunem Samt gekleidet. Dieser war sehr abgenutzt, so daß ich auch ihn bei der ersten Begegnung beinah angebellt hätte. Aber gleichzeitig hatte ich gespürt, daß er einer war, dessen Taschen mit Heilmitteln und Leckerkeiten für uns Tiere gefüllt waren.

In den ersten Tagen meiner Nachdenklichkeit hielt ich Onkel Tom sogar für den König der Tiere, von dem ich in einer Unterrichtsstunde etwas zu vernehmen geglaubt hatte.

Torheit erzeugt Torheit. Denn anders kann ich es jetzt nicht nennen, daß die Menschen selbst uns Tieren einen König einzusetzen, ihre eignen, durchaus nicht immer haltbaren Staatsformen auch uns aufzudrücken versuchten.

Ich lernte, daß sie den Löwen dazu auserkoren haben. Eine Ehre, die ihm gewiß seine äußere Ausstattung eingetragen hatte. Die Mähne, das große Organ.

Wir Dobermanns verlassen uns nicht auf unsre Augen, wir trauen mehr unsrer Schnauze. Ihr zufolge hielt ich Onkel Tom für eine Majestät. Wo ein Tier litt, half er. Wo eins hungerte, brachte er Nahrung. Wo eins fror, sorgte er für Wärme. Wo zwei sich stritten, schlichtete er Frieden. Er heilte die Wunden, die sich die Katzen auf nächtlichen Abenteuern holten nachsichtig mit Tabakwasser.

Er wußte die kämpfenden Hähne ohne Stockhieb zu trennen. Nur durch einen Pfiff. Während er ihnen erklärte, daß es keine Henne wert sei, auch nur eine Feder um sie zu verlieren.

Den schönen Pferden kühlte er die Wunden, die ihnen das Geschirr an heißen Tagen gedrückt hatte, mit einem Balsam, den er selbst bereitete, wobei ich ihm gern zusah. Den auch ich einmal zu fühlen bekam, als ein Unglück mich betroffen hatte.

Fiel ein Vogeljunges aus dem Nest, verstand er es zu füttern, bis es die Flügel schwingen und sich selbst auf den Flug wagen konnte.

Nur die niedern Insekten haßte Onkel Tom. Er lobte mich jedesmal, wenn ich eine Fliege schnappte und belehrte mich, daß ich damit eine Million Bazillen aus der Welt getilgt hätte. Am widerlichsten aber war ihm der Floh. Er nannte ihn aufdringlich, unzüchtig, wie ein verliebtes Weibsbild. Fand es höchst ärgerlich, daß der Floh in der deutschen Grammatik als Maskulinum herumsprang. Und weil Onkel Tom schon lang der Weiblichkeit abhold war und sie als minderwertig erachtete, nannte er den Floh stets die Floh.

Ganz ohne Eigentümlichkeiten kommt niemand ins Alter, sagte die dicke Lina.

Sonst war Onkel Tom immer gleichmäßig freundlich. Saß er sommerabends, das rote Käppchen in der Hand, unter dem Apfelbaum, glaubte ich, daß nur ihm zu Ehren die Blätter rauschten, nur ihm zuliebe die Vögel noch so eifrig sangen, ehe sie ins Nest schlüpften.

Ich hatte Ehrfurcht vor ihm. Ich war stolz, wenn ich ihm die Hand lecken durfte. Hatte ich doch bemerkt, daß mein geliebter Herr, wenn Onkel Tom aus seinem Leben erzählte, niemals Gesichter schnitt, wie bei manchen Worten seines Hauslehrers. Oder gar die Hand in der Tasche ballte, wie bei mancher Rede seines Papas.

Wunderlich war mir nur, daß die gnädige Frau, der Herr Senator und Fräulein Angelika Onkel Tom nur flüchtig grüßten. Ihn, wenn sie, von Gästen begleitet, auf einem Gartenweg mit ihm zusammentrafen, gar nicht zu kennen schienen. Obwohl ich in großer Freude auf ihn zusprang, um ihnen zu zeigen, wer hier kommt.

Und doch mußten alle wissen, daß Onkel Tom der richtige Onkel des Herrn Senators. Seines Vaters Bruder. Denn seine Geschichte wurde in der Gesindestube stets ausführlich berichtet, wenn ein neuer Dienstbote eintrat, weil ein andrer den Dienst verlassen hatte. Und das war oft der Fall.

Onkel Tom war in seiner Jugend einer der reichsten Leute seiner reichen Vaterstadt gewesen, erzählten sie. Erbschaft hatte ihn begüterter gemacht als alle übrigen seiner Familie.

»Die auch nicht am Hungertuch nagten,« fügte die dicke Lina hier immer dazwischen.

Tom hatte gerade seine Studien beendet, als ihn die Erbschaft traf. Er war Advokat geworden. Aber er machte keinen Gebrauch von dieser Würde. Teils weil ihm in den Bureaus und den Gerichtssälen die Luft zu schlecht war, teils weil es ihm lächerlich schien, sich in die Irrungen des Menschengeschlechts als Richter oder Verteidiger einzumischen.

Sonst aber führte er ganz das Leben des eleganten Mannes. Dazu war er erzogen worden. Er konnte es nicht anders. Er wunderte sich nur, daß das Leben so langweilig war. Jeden Wunsch konnte er sich erfüllen. Jedes Mädchen lächelte ihn an. Seine größte Zerstreuung war, seinen Freunden Geld zu borgen. Er hatte dann wenigstens die Spannung, ob es ihm einer von ihnen zurückgeben würde. Er wollte dann den ersten besten Bettler reich damit machen. Aber es geschah niemals.

»Das heißt, niemals soll ein Mensch nie sagen,« fügte hier die dicke Lina jedesmal ein.

Eines Tages geschah es doch. Gerade war es der aus der lustigen Gesellschaft, der es am härtesten hatte. Der Letzte aus einer stolzen Familie, der mit einer alten Mutter heimlich darbte, damit der äußere Schein aufrecht erhalten blieb. Ich denke mir, in der Art, wie ein alter Dobermann sich allem Fremden gegenüber aufrecht und knurrend hält, auch wenn ihm kein Zahn mehr unter der Schnauze sitzt.

Von ihm hatte der reiche Tom sein Geld nicht wiederhaben wollen. Er versuchte, den andern zu überreden, es zu behalten. Im Eifer dieser Unterredung, so wohlgemeint, entschlüpfte ihm die Äußerung, daß dieses elende Geld doch nur von einem Bettler zum andern gelangen würde.

Der andre überreizt, in allzu ängstlich gehüteter Ehre, gekränkt in Freundesliebe und Vertrauen, endigte selber seinen Lebensweg inmitten dieser Auseinandersetzung.

Nach diesem Vorfall war es, daß Onkel Tom aus dem Gesellschaftsleben verschwunden war. Selbst für seine Familie verschollen blieb.

Als er plötzlich wieder da war, vergnügte sich schon die zweite Generation nach ihm an den Zerstreuungen eines Daseins, aus dem auf grauhaarige Bettler kein Blick fällt.

Was er mit seinem Reichtum gemacht hatte, wußte niemand in der Gesindestube. Einige behaupteten, Onkel Tom besäße noch immer sein ganzes Vermögen. Mit Zins und Zinseszins angewachsen, trage er die Anweisung darüber unter seinem groben Hemd. Vielleicht war dies der Grund, daß auch das Gesinde den abgeschabten Alten mit großem Respekt behandelte. Ich habe gefunden, daß solche Leute vor Geld, auch wenn es unsichtbar ist, die gleiche Ehrfurcht haben, wie gewöhnliche Hunde vor jeder Wurst ...

Jedenfalls hatte Onkel Tom niemals Geld bei sich. Er berührte auch keins. Als ihn der Gärtner einmal bat, eine ausländische Münze auf ihren Wert hin zu prüfen, wendete er sich ab. Er sagte, den Wert eines Geldstückes wisse man erst, wenn man es sich hat borgen müssen.

Andre sagten, Onkel Tom hätte sein langes Leben als Bettler verbracht. Er hatte die ganze Welt gesehn. Er hätte nie Geld genommen, sondern nur Nahrung und Bekleidung. Seine rote Mütze stamme aus der Türkei, sein Rock aus England, sein Hemd aus Indien. Seine Pfeife aus Japan. Sein Messer aus Jerusalem.

Warum er zurückgekehrt, wußte man nicht. Einige behaupteten, mitten in der heißen Buntheit Indiens hätte ihn die Sehnsucht nach dem kühlrauschenden Heimatstrom gepackt. So stark, daß er nichts andres mehr denken konnte als zurückzukehren.

Eines Tages, als der Herr Senator vor der Schachtel der Geborgenheit aus dem Auto stieg, stand ein Bettler vor dem Porzellanschild, das vor Hunden warnte und mitteilte, daß man seine Wohltätigkeit in jährlichen Raten reinlich erledigte.

Der Bettler wandte sich um und blickte dem Herrn Senator ins Gesicht.

Diesem war Onkel Tom eine Kindererinnerung. Ein eleganter Jüngling, der seltenes Spielzeug brachte.

Dieser alte Mann war ihm unbekannt. Doch erschrak er, wie sehr der alte Bettler seinem kürzlich verstorbenen Vater glich, dem vornehmen Manne. Gegen alle Gewohnheit wollte er ihm ein Almosen geben. Da begegneten sich beider Blicke.

Der Herr Senator trat zurück und bat den Bruder seines Vaters näherzutreten.

Hier ergriff die dicke Lina stets allein das Wort. Sie sagte, daß an den Tagen, die darauf folgten, die ganze Schachtel der Geborgenheit wie getaucht in Medizin und Gesundheitstropfen schien. So viel hatte die gnädige Frau zu leiden gehabt unter der Fülle der Erregungen. Man munkelte, Onkel Tom hatte durchaus auch hier in seiner Heimatstadt als Bettler leben wollen. Ohne die einfachste Rücksicht auf seine nächsten Angehörigen.

Doch alles kommt zurecht. Schließlich wurde es so, wie ich es vorfand, als ich herumzuspringen begann und Onkel Tom für eine Majestät hielt ...


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