Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

Korbin beglich die bescheidene Rechnung und ging über die Market Street hinunter zur Wasserfront. Er sollte sich also entscheiden – allein entscheiden! – ob er das Angebot dieses Mr. Hood annehmen oder ablehnen sollte. Offen gestanden, seine Gedanken kreisten noch längst nicht um diese Entscheidung, waren vielmehr immer noch bei Tonio und seiner seltsamen Verwandlung in ein Mädchen. »In eine wirkliche Dame!« murmelte er in sich hinein, und je länger er darüber nachdachte, um so unverständlicher wurde ihm die ganze Sache. – Daß sie den Meuchelmord nicht begangen hatte, beruhigte ihn auf eine ganz merkwürdige Weise. Eigentlich – natürlich, er hätte diesen Hund auch umgelegt, aber – ein anderer hatte es für sie, getan, wofür sie doch eigentlich dankbar sein mußte – und diesen andern sollte er jetzt vor den Richter bringen helfen. Wie kam er eigentlich dazu, einen Menschen, der ihn nicht das geringste anging, auf den elektrischen Stuhl zu befördern? Er hatte viel von Hinrichtungen durch den Strang erzählen hören. So was war im alten Österreich an der Tagesordnung, und demgegenüber war der elektrische Stuhl eigentlich eine saubere Sache, aber …

Na, also, da war er ja mitten drin!

Der elektrische Stuhl! Ein Mann wird gefesselt in eine Art Drahtgestell gesetzt. Nachher schickt man einen Strom durch ihn hindurch, von dem die Gelehrten behaupten, daß er einen Ochsen töte – und dann will man beobachtet haben, daß der Mensch, eben weil er kein Ochse, sondern das zäheste aller Säugetiere ist, noch immer nicht tot ist. Die Wissenschaft behauptet, der Mensch sei das vernünftigste Tier, was bestimmt eine uferlose Übertreibung ist, aber das zäheste Tier? – Hm – das könnte vielleicht stimmen! Der elektrische Stuhl, so behaupten einige, sei die Vorbereitung für das Begräbnis eines Scheintoten.

Na also, auf diesen elektrischen Stuhl sollte er einen Menschen bringen. Kein erhabener Gedanke!

Zwei Morde – immerhin; aber er war nun einmal gegen diese blödsinnige Hinrichterei. Warum hatte dieser Tonio – damals war er ja noch ein Junge, dem man so was angesichts der Dinge, die voraufgegangen waren, sicherlich nicht übelnehmen konnte – warum also hatte er vorbeigeschossen?! Er hätte den Burschen in den Cooper-River schmeißen, den Lachsen und Forellen zu fressen geben sollen, und er, Korbin Holzer aus Sterzing, hätte ihm droben in den Bergen gewiß dabei geholfen, alle Spuren zu verwischen – wenn er nämlich die traurige Geschichte damals schon gekannt hätte. Aber hier in Frisco …

Anderseits – sechs Dollar am Tage und großzügige Spesenabrechnung – irgend etwas mußte er unternehmen, wenn er sein Bankbuch nicht angreifen wollte. Der Schweizer war ein abscheulicher Verbrecher, und wenn man behilflich war, ihn aus der Welt zu bringen, tat man schließlich ein gutes Werk.

Daheim in Sterzing – natürlich, da wäre er gleich dabei gewesen, einen Verbrecher zu fangen. Einmal hatte er zusammen mit den Sterzinger Buben einen Wilddieb dingfest gemacht. War das ein Unternehmen gewesen! Wochenlang hatten die Leute von nichts anderem gesprochen als davon, wie Korbin den Mann in der Südwand des Pflerscher Tribulaun gestellt und so lange am Anstieg verhindert hatte, bis die Wildhüter heran waren; und nachher hatte es ihm doch leid getan! Der Mann hatte Frau und Kinder, und sein Ältester, der Ferlinger-Sepp, wurde ihm gram darüber sein Leben lang. Hier in Kalifornien – was gingen ihn die Menschen eigentlich an? Mochten sie sich ihre Verbrecher selber fangen! Er konnte sich nicht recht heimisch fühlen in diesem Lande. Berge gab's ja genug hier, aber ein Sterzinger kann eben nur in seinen Bergen glücklich sein – in den Bergen, um die seine Ahnen seit den Tagen der Völkerwanderung kämpften und um die sie ewig kämpfen würden.

Korbin Holzer hatte in diesem großen Lande neben allerlei Ungemach doch auch Schönes und Gutes erlebt. Allem anderen voran war für ihn das Erlebnis der Freiheit das größte und gewaltigste seines jungen Lebens gewesen. Gewiß, auch hier, genau so wie im alten Europa, regierte nicht das Urteil, sondern das Vorurteil. Aber das war eben der Unterschied: Kein Vernünftiger brauchte sich um dieses Vorurteil zu kümmern! Auch hier erlebte man jene traurige Mobilisierung der Leidenschaften gegen den Geist, der Instinkte gegen die Kultur, der Hohlköpfe gegen die Gehirne wie drüben in der Alten Welt. Aber niemandem wurde dadurch die Freiheit der persönlichen Entscheidung genommen, denn über ihr wachte das Gesetz Washingtons. Es gab hier Freundschaften, die zäher hielten als Familienbande. Hingabe und Opferbereitschaft, bedingungslosen Einsatz des Lebens hatte er unter dem »Auswurf der Staaten«, den Glücksjägern Alaskas, ebenso häufig gefunden wie nackte Selbstsucht und beutegierige Geschäftemachern. So wie hier schienen die Menschen »eigentlich« zu sein, und sowenig er dieses Land liebte, er wünschte im Augenblicke keinesfalls, in einem anderen zu leben. Wenn ihm im Traume die ernste Aula des Gymnasiums zu Brixen erschien mit dem feierlichen Rektor auf dem Rednerpult und den geistlichen Patres im Hintergrund, da wachte er regelmäßig auf, in Angstschweiß gebadet!

Die Toni Valler – hatte sie ihn eigentlich gebeten, den Auftrag des Mr. Hood zu übernehmen? Nein, gebeten hatte sie ihn nicht. Allein sollte er sich entscheiden – ganz allein.

Ein verdammt schweres Stück Arbeit.

Seine Gedanken schweiften zurück in die Heimat. Jeder »Student« – so hießen die kleinen Gymnasiasten in Brixen – dessen Eltern nicht am Schulorte wohnten, mußte einen »Patron« haben. Viermal im Jahre oder auch öfter nahm dieser sittenstrenge Mann Einsicht in die guten Hefte, in die griechischen, lateinischen und mathematischen Arbeiten, und bestätigte diese Einsicht durch seine Unterschrift. Seiner hieß Severus Stringl, seines Zeichens ein Studierter; Landrichter auf dem Amt. – Wie man's traf; es gab da solche und solche. Der eine hatte einen vernünftigen Patron, der in einer Fünf eine Leistung sah, die mit Liebe und Verstand behandelt sein will; der andere einen unvernünftigen, dummen oder gar einen ehrgeizigen Patron, der diese Fünf als persönliche Beleidigung, als einen Angriff auf seine Würde und sein Ansehen betrachtete. So ein Mann hadert mit Gott, allen Heiligen und dem armen Jungen, der seinem Patronat überantwortet ist – und haargenau so einer war Stringl. Er, er ganz allein war schuld daran, daß Korbin Holzer aus der Oberprima plötzlich ohne Abschied verschwand und in die Fremde ging. Der eigentliche Anlaß zu seiner überstürzten Flucht war eine »Urkundenfälschung«. Er hatte sich nämlich von der Unterschrift Stringls unabhängig gemacht, indem er sie kunstreich kopierte, und eigentlich war die Geschichte nur durch einen plumpen Zufall ans Tageslicht gekommen, nämlich zur Kenntnis des Klassenlehrers. Die Welt, in der er jetzt lebte, kam ihm vor wie ein gütiger Patron, der nicht gleich Zufälle kriegt, wenn einer im Griechischen eine Fünf schreibt, und Europa war ihm nach und nach identisch geworden mit Severus Stringl – und schließlich war er ja vor Stringl und seinem Geiste geflohen.

Er blickte aus seinem sinnenden Hinschlendern auf. Dicht vor ihm winkte ein Gasthausschild in deutscher Sprache. »Saazer Hopfenblüte« stand in fettsüchtigen Goldbuchstaben über der Tür. Die Mittagsstunde war längst vorüber; er verspürte Hunger und trat ein.

Der Wirt begrüßte ihn in deutscher Sprache und bot ihm einen Platz in der Nähe des Schanktisches an.

»Ein neues Gesicht«, sagte er wohlwollend, als er das Bier einschenkte, das Korbin bestellt hatte. »Zum ersten Male in Frisco?«

»Woher wollen Sie wissen, daß ich ein Neuer bin in dieser großen Stadt«, fragte Korbin in englischer Sprache, »und woher, desgleichen, ein Landsmann von Ihnen?«

Der Wirt lachte behäbig.

»Hier kommen alle Deutschen durch. Glaube kaum, daß es auch nur einen gibt, den ich nicht kenne, und wenn Sie meine Frage verstanden haben …«

»Sie meinen also« – Korbin lachte nun auch – »andere Leute verstehen nicht Deutsch?«

Der Wirt schob mit dem Schaumlöffel bedächtig die Haube vom Glas und schenkte nach.

»Das will ich nicht gerade sagen. Aber man hört's bei der ersten Silbe, daß es aufgepfropft ist«, meinte er gemütlich. »Sprechen Sie nur ein paar Worte in der Mundart Ihrer Heimat, und ich will Ihnen sagen, aus welcher Gegend Deutschlands Sie herübergeschneit sind. Ich verstehe mich darauf. Der Tonfall der Heimat klingt durch das schönste sogenannte Hochdeutsch hindurch. Man hört jederzeit den Münchner oder Stettiner, den Leipziger, den Frankfurter und den Wiener heraus, vom Berliner gar nicht zu reden!«

»Ich will Sie nicht auf die Folter spannen; bin ein Welschtiroler aus Sterzing. Aus meiner Heimat werden Sie kaum jemanden hier haben.«

»Oha! Sagen Sie das nicht! Jeden Freitag treffen sich hier die Herren Bozener zum Kaffeetarock. Es sind vier Leute: der Graser, der Toppler, der Oblach und –«

»Der Oblach is a Krautwelscher«, fiel Korbin lachend ein. »Wir hatten in Brixen einen, der stammte aus dem Ladinischen … und wer noch?«

»… und der Hochkofler.«

»Das is a Niederdorfer. Stimmt, da ist einer vor zehn Jahren in die Staaten gegangen. Freitag, sagen Sie …«,

»Aber natürlich ist hier jeder Landsmann herzlich willkommen. Die Herren werden sich riesig freuen, ihre Runde durch einen Sterzinger bereichert zu sehen.«

»Auch wenn er nicht Tarock spielt?«

Der Wirt lachte hellauf.

»Was meinen Sie, was wir hier alles bieten! Keglerverein ›Schwere Hölzer‹ – Turnverein ›Jahn‹ – Männergesangverein ›Wachtel‹ – Schachverein ›Anderssen‹ – na, und die Damenkränzchen dazu, hübsche Frauen und Mädel, und alle hilfsbereit und entgegenkommend – ich meine jetzt nicht gerade die Mädel, Sie verstehen schon – eben überhaupt – ein netter Zusammenhalt.«

»Stimme habe ich keine«, sagte Korbin, »aber zu den ›Schweren Holzern‹ gehöre ich unbedingt, obwohl ich noch keine Kegelkugel in der Hand gehalten habe.«

»Macht nichts«, tröstete der Wirt, »es lernt sich alles. Haben Sie schon eine Beschäftigung? Es ist augenblicklich nicht ganz leicht, etwas Solides zu bekommen. Aber was Besseres als so 'nen Posten als Tellerwäscher im Cliffhouse oder im Pullman-Car könnte ich Ihnen schon verschaffen.«

»Ich habe was für sechs Dollar am Tage«, sagte Korbin, um dem geschwätzigen Manne zu imponieren. Das gelang ihm denn auch vollständig.

»Sechs Dollar am Tage?« gab er zurück, und Hochachtung schwang in seiner Stimme. »Dann sind Sie wohl 'n Studierter?«

»Das gerade nicht. Spesen extra. Großzügige Leute. Kommt ihnen auf einen Dollar hin und her nicht an.«

»Und wo ist das, Landsmann?« fragte der Wirt neugierig.

»Ach – ganz private Sache. Kein Geschäftsunternehmen, nur so – hm – goldklare Angelegenheit, natürlich!«

Der Wirt schluckte eine Bemerkung hinunter, die die Goldklarheit der Angelegenheit in Zweifel gesetzt hätte.

»Mittagessen?«

Korbin nickte.

Der Wirt brachte ein vorzügliches Kalbssteak mit Kartoffeln und reichlich Gemüse, und Korbin aß mit gutem Appetit. Es war inzwischen drei Uhr geworden. Um fünf Uhr mußte er bei Mr. Hood vorsprechen, um ihm seine Entscheidung bekanntzugeben.

Sie war natürlich längst gefallen. Er nahm an! Oder sollte er wieder als Tellerwäscher anfangen, um gelegentlich zum Eisenbahnbau nach dem Norden zu gehen? Dieses Kapitel seines Lebens sollte abgeschlossen sein. Auch als Prospector würde er sein Glück nicht mehr versuchen, es sei denn – Toni Valler kannte die Gegend allerdings verteufelt gut, und wenn sie ihm jetzt ein Angebot gemacht hätte – aber das war ja nun leider gänzlich ausgeschlossen. Schade eigentlich, daß sie kein Junge war. Mit ihr zusammen hätte man in den Bergen gewiß allerhand Gold machen können!

Er zahlte, verabschiedete sich von dem freundlichen Landsmann und bummelte in der Herbstsonne noch ein Stückchen am Wasser entlang. Dann lenkte er seine Schritte über die Market Street zurück nach dem Jefferson-Building.

Mr. Hood empfing ihn mit freundlichem Handschlag.

»Ich mache die Sache, Mr. Hood«, sagte Korbin, »schießen Sie los; worin besteht meine Aufgabe?«

»Nicht so hastig, Mr. Holzer!« lachte der Lange. »Kennen Sie diesen Herrn?«

Er hielt ihm zu seinem Erstaunen sein eigenes Lichtbild unter die Nase.

»Ich muß Ihnen das sagen – es ist ein Stück meiner Methode. Sie wurden beim Eintreten in dieses Zimmer fotografiert und haben bisher unter Beobachtung gestanden. Sie unterhielten sich mit Miß Valler in der Teestube gegenüber, gingen über die Market Street zur ›Saazer Hopfenblüte‹, erzählten dem Deutschen, daß Sie eine Beschäftigung für sechs Dollar am Tage gefunden hätten und daß wir großzügige Leute seien, aßen ein Kalbssteak mit Gemüse, tranken ein Glas Bier und kehrten nach einem kurzen Spaziergang an der Wasserfront über die Market Street hierher zurück. Sie haben davon gewiß nichts bemerkt. Aber Sie sollen wissen, daß Sie unter dauernder Beobachtung stehen. Das ist keine Maßnahme des Mißtrauens. Ich bin den Herren, die für mich arbeiten, schuldig, sie vor allen Zwischenfällen zu bewahren. In Ihrem Falle wird später wohl eine Ausnahme Platz greifen. Sie können ohne Bewachung arbeiten, weil mit Ihrer Tätigkeit zunächst keinerlei Gefahr für Ihr Leben verbunden sein dürfte.

Ehe ich den Fall in allen Einzelheiten darlege, müssen Sie mir schwören, daß Sie mit keinem Menschen außer mit mir und Miß Valler über ihn sprechen, den mutmaßlichen Täter nicht warnen, ihm nicht zur Flucht verhelfen, überhaupt alles unterlassen werden, was geeignet sein könnte, der Aufhellung der Wahrheit zu schaden, dagegen alles zu tun, was den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen geeignet ist.«

Er legte die Verfassung der Vereinigten Staaten auf den Tisch in der Mitte des Raumes und drückte auf den Klingelknopf.

Sofort erschien Toni Valler und stellte sich schweigend und mit ernstem Gesicht neben Mr. Hood.

»Ich spreche Ihnen jetzt in Gegenwart dieser Zeugin den Eid vor, den Sie unter Erhebung der Schwurhand nachsprechen wollen, Mr. Holzer.«

Man muß schon sagen, daß diese Form der Verpflichtung auf Korbin Holzer einen tiefen Eindruck machte. Obwohl nach den Gesetzen der Staaten nur der Richter einen Eid abnehmen darf, dessen Bruch durch schwere Strafbestimmungen bedroht ist, empfand er diesen freiwillig geleisteten Eid doch nicht minder heilig als irgendeinen gerichtlichen. Dann setzten sie sich zu Dritt an den Tisch, und Mr. Hood begann:

»Die Geschichte des Verbrechens, das an Miß Valiers Familie und an einem namentlich unbekannten Manne, genannt ›der Norweger‹, begangen wurde, ist Ihnen ja nun wohl in großen Zügen bekannt. Der Täter, den es vor den Richter zu bringen gilt, der ›Schweizer‹, wie er von seinem Kumpanen genannt wurde, heißt Richard Häberlin – so mußte ich mit Bestimmtheit annehmen. Seine Verhaftung wurde beim Sheriff beantragt, der Antrag aber von mir selber zurückgezogen – und Sie sollen hören, wie das alles zuging.«

Mr. Hood sah den dicken Wolken nach, die seiner Bruyèrepfeife entstiegen und in seltsamen Figuren durcheinanderquirlend zur Decke des Zimmers emporstiegen. Er schien um einen passenden Anfang seiner schwierigen Darstellung zu ringen.

»Der Mörder – oder der Mann, von dem ich mit Bestimmtheit annehme, daß er der Mörder des Norwegers ist – fuhr mit der ›Washington‹ von Cerdova ab. Ich hatte Gelegenheit, drei Aufnahmen von ihm zu machen. Hier sind sie. Sehen Sie sich den Mann genau an!«

Korbin nahm die Bilder in die Hand und betrachtete sie aufmerksam. Er sah einen Mann mit dunklem, scharfgeschnittenem Gesicht, der, beidarmig über die Reling gelehnt, die zurückbleibende Menge am Ufer ohne Neugier mustert. Auf einem zweiten Bilde hält er mit der Rechten seinen Hut. Es zeigt ihn mehr im Profil. An seinem Gesichtsausdruck hat sich nichts geändert. Das dritte Bild hat ihn inmitten anderer Gesichter eingefangen. Von ihm liegt eine Vergrößerung vor. Der Gesichtsausdruck ist völlig verändert, die Augen sind weit geöffnet wie in plötzlichem Erschrecken. Hat er entdeckt, daß er mehrfach fotografiert wurde? Ist der Gedanke in ihm hochgeschossen, daß man hinter ihm her sein könnte?

»Dieses dritte Bild«, fuhr Mr. Hood in seinem Berichte fort, »ist für mich die stärkste Stütze für die Annahme, daß Häberlin der Mann ist, den wir suchen!«

»Wie kann da überhaupt noch ein Zweifel sein?« fragte Korbin erstaunt. »Sie selbst haben sich mit dem Manne lange genug unterhalten, um sein Gesicht unter tausenden wiederzuerkennen. Miß Valler hat ihn ebenfalls, im Scheine eines niedergebrannten Feuers zwar, aber doch auf kurze Entfernung, gesehen. Wenn sich der Kerl also in Frisco aufhält, wie Sie sagen, warum …«

»Augenblick, Mr. Holzer, hören Sie erst den Schluß meines Berichts. Sie würden also in der Lage sein, den Mann nach diesen Bildern mit Sicherheit zu erkennen, wenn er Ihnen irgendwo entgegentritt?«

»Unbedingt!«

»Das zeugt von Zutrauen in die Zuverlässigkeit der eigenen Beobachtung. Dieses Zutrauen ist gut und notwendig. Hoffentlich hält es vor!« Er lächelte grämlich. »Bei mir ist es leider stark erschüttert. Das dritte Bild stellt nämlich einen anderen Mann dar. Er heißt Georg Häberlin und ist Richard Häberlins Zwillingsbruder. Die beiden fuhren auf dem gleichen Schiffe nach Frisco. Die Polizei stellte das hier zu ihrem nicht geringen Erstaunen fest, und sie tat, was in diesem Falle das einzig Richtige war: sie ließ die Finger von ihnen – um den Täter nicht scheu zu machen. Ich wurde sofort von der neuen Lage, die sich daraus ergab, unterrichtet.«

Korbin Holzer blickte dabei Mr. Hood verständnislos an.

»Bei uns daheim hätte man den Richtigen bald, herausgehabt«, sagte er. »Man sperrt sie alle beide ein und verhört sie so lange, bis …«

»Ich sehe, Sie sind mit der Rechtsübung dieses Landes sehr wenig vertraut. Wenn hier die Polizei einen Mann verhaftet, muß sie innerhalb vierundzwanzig Stunden eine begründete Anklage gegen ihn erheben und die Beweise für seine Täterschaft fest in der Hand haben. Mit der Wendung: ›Einer von beiden muß der Täter sein‹, ist hier nichts zu wollen. Jeder Verhaftete hat das Recht, so lange die Aussage zu verweigern, bis er sich mit seinem Anwalt verständigt hat. Der Anwalt spricht mit seinem Klienten alle Einzelheiten der Anklage durch, und wo eine schwache Stelle ist, da hakt er unerbittlich ein. Unsere Anklage besteht aber leider aus nichts anderem als aus schwachen Stellen. Er würde beantragen, daß beide Verhafteten der Zeugin Miß Valler vorgeführt werden, und wenn sie nur einen Augenblick schwankt, den Täter zu bezeichnen, fiele die ganze Anklage in sich zusammen. Zum mindesten werden die Verhafteten sofort auf freien Fuß gesetzt, und dann würde man wahrscheinlich lange Zeit nichts mehr von ihnen hören.«

»Aber – einer von beiden ist doch bestimmt der Täter!«

»Gewiß, der Überzeugung bin ich auch, aber Überzeugungen sind keine Beweise, und solange wir die nicht haben – ja also, um diese nutzlosen Erörterungen abzubrechen, die Polizei hat durchaus richtig gehandelt, als sie die beiden unbehelligt ließ. Unsere Aufgabe ist es, den Beweis zu führen, daß entweder Richard oder Georg Häberlin der Täter war

»… und das wird nicht leicht sein«, meinte Korbin nachdenklich. »Sie werden ihr Alibi bis ins einzelne durchgesprochen haben, einer wird für den andern aussagen – wenn der Täter nicht gesteht …«

»Sehr richtig, Mr. Holzer, um dieses Geständnis handelt es sich. Wenn wir kein Geständnis erlangen, werden wir den Täter nicht vor den Richter bringen!«

Korbin saß schweigend und bedrückt auf seinem Stuhle. Die ganze Geschichte erschien ihm mit einem Male so verzwickt und undurchsichtig, daß er seine schlichte Meinung dazu gar nicht auszusprechen wagte. Da sind zwei Menschen, die einander so ähnlich sind, daß man sie nur schwer auseinanderhalten kann. So was kommt vor bei eineiigen Zwillingen. Einer von beiden ist bestimmt der Mörder. Einen von ihnen soll er also zum Geständnis bringen. Lachhaft! Der wird sich hüten, ihm auf die Nase zu binden, daß er es war, der den Norweger umlegte! Aber er sagte nichts von dem, was ihm durch den Kopf ging, sondern wartete, was Mr. Hood ihm ferner noch mitzuteilen haben würde. Der zögerte denn auch nicht, mit seiner Meinung herauszurücken.

»Wir müssen auf sehr lange Sicht arbeiten, Mr. Holzer. Die Zeit, die wir brauchen, um zu unserm Ziele zu gelangen, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Sie müssen sich den beiden nähern, mit ihnen bekannt werden. Spielen Sie Schach?«

»Ganz leidlich.«

»Das ist ein vorzüglicher Anknüpfungspunkt. Georg ist ein leidenschaftlicher Schachspieler. Im Leben der beiden sind zwei schwache Punkte, in denen wir ansetzen können. Sie haben nicht viel Geld, und sie beherrschen die englische Sprache nur mangelhaft. Die beiden haben offenbar ihre zwillingsbrüderliche Gesellschaft zumeist dem Verkehr mit Amerikanern vorgezogen. Das ist der entscheidende Fehler derer, die im fremden Lande Wurzel fassen wollen. Sie sind also immer mehr oder weniger auf einen Landsmann angewiesen, der die Landessprache beherrscht, und Sie werden es daher nicht allzu schwer haben, sich ihnen zu nähern und sich anzubiedern. Weitere Maßnahmen werden wir täglich früh um sieben Uhr im Jefferson-Building durchsprechen. Auch Miß Valler wird in dieser Tragödie eine Rolle spielen müssen.«

Mr. Hood breitete nun alles das vor Korbin aus, was er über die beiden Häberlins bereits in Erfahrung gebracht hatte. Es waren allerhand merkwürdige Tatsachen dabei.

Sie sind am 18. Dezember 1871 in Zürich geboren, haben das Gymnasium besucht und später an der dortigen Landesuniversität Mineralogie und Geologie studiert. Ein Universitätsexamen haben sie beide nicht abgelegt, dafür aber die Abschlußprüfung an der Technischen Hochschule mit Auszeichnung bestanden. Dann sind sie bis 1907 als Bergfachleute in der Schweiz tätig gewesen, und zwar bei der Tunnelinspektion, die sämtliche Gebirgsdurchstiche, in erster Linie den Gotthard und den Simplon, zu überwachen und in Ordnung zu halten hat. Ohne einen ersichtlichen Grund wandern beide im Herbst dieses Jahres nach Amerika aus und gehen ohne jede Zwischenstation nach Alaska, wo sich ihre Spur verliert bis zum Tage des Mordes an der Familie Valler, den einer von ihnen – oder sind beide beteiligt? – gemeinsam mit dem »Norweger« ausführt.

Mr. Hood trifft in Cerdova einen von ihnen – Georg oder Richard? – und abermals geht die Spur der beiden für ein halbes Jahr verloren. Dann wird der Norweger erschossen.

Beide fahren auf der »Washington« nach San Franzisco und leben seither in dieser Stadt, ohne sich ernstlich nach Arbeit umzutun, obwohl ihre Mittel offenbar nicht bedeutend sind. Sie wohnen und leben bescheiden, geben nie größere Summen aus. Planen sie ein größeres Verbrechen, um zu Gelde zu kommen? Mr. Hood vermutet, daß sie die Absicht haben, gelegentlich an die Brandstelle zurückzukehren, um den Goldschatz zu heben, den sie noch immer unter den Trümmern des Hauses vermuten.

»Und nun, Mr. Holzer, gehen Sie langsam und mit Bedacht an Ihre Arbeit«, schloß Mr. Hood seine längeren Darlegungen. »Zunächst müssen Sie das Vertrauen der beiden gewinnen. Dazu bedarf es keiner besonderen Anweisung. Sie treffen Richard Häberlin morgen mittag im französischen Restaurant in der Lime-grove, wo er gegen ein Uhr seinen Lunch einzunehmen pflegt. Er wird Sie gelegentlich mit seinem Bruder Georg bekannt machen. Alles Weitere wird sich zwanglos ergeben.«

Korbin verließ das Gebäude an der Seite Miß Valiers.

»Haben Sie schon ein Unterkommen gefunden?« fragte sie wie beiläufig.

Korbin verneinte.

»In meinem Boardinghouse ist noch Platz. Es wäre vielleicht ganz zweckmäßig, wenn wir beide uns zu jeder Tageszeit über weitere Maßnahmen verständigen könnten. Zum Diner gibt's den üblichen Schlangenfraß der Pension, aber sonst ist alles recht ordentlich. Sie werden ja wohl das Diner zumeist außerhalb des Hauses einnehmen. Wie denken Sie über den Vorschlag?«

Korbin war natürlich einverstanden. Der Gedanke, Miß Valler täglich zu sehen, beglückte ihn auf eine ganz seltsame Weise. Noch nie hatte er sich so einsam gefühlt wie eben jetzt. Wenn er Herr seiner Entschließungen gewesen wäre, hätte er sich in der großen Stadt sicherlich bald einem Kreise von Menschen angeschlossen, der Vertrauen mit Vertrauen, Offenheit mit Offenheit vergalt. Er dachte dabei an den Tarockstammtisch der Bozener. Wie gern hätte er den Hochkofler oder auch den Oblach kennengelernt, mit denen man über das alte Sterzing plaudern konnte – über die Freuden und über die Sorgen der Heimat. Aber das war nun leider ganz unmöglich. Er sollte Vertrauen suchen, ohne es selbst gewähren zu dürfen – und zugleich mußte er streng darauf bedacht sein, an den so gewonnenen Beziehungen nie einen Dritten teilhaben zu lassen. Das war die ganz natürliche Voraussetzung des Erfolges. Jede andere Art des Sichverhaltens mußte zwangsläufig mit einem Fehlschlage enden. Man stelle sich vor, einer seiner Jugendfreunde aus Brixen tauchte plötzlich in Frisco auf – wie würde sich das Verhältnis zu ihm gestalten angesichts des Eides, den er abgelegt hatte? Ja, er brauchte unbedingt einen Menschen, dem er jederzeit seine Gedanken mitteilen, vor dem er sein Herz mit all seinen zwiespältigen Gefühlen ausschütten konnte – und vielleicht fühlte Toni – so nannte er sie schüchtern im Räume seiner geheimsten Gedanken – vielleicht fühlte dieses Mädel ebenso wie er? Sie war ja noch so jung, viel jünger als er; in seiner Heimat wurden Mädel in dem Alter noch gar nicht als erwachsen betrachtet.

»Sie werden verstehen, Mr. Holzer«, unterbrach sie sein besinnliches Schweigen, »ich bin hier in Frisco mit einer ganz unerträglichen Spannung geladen. In den Bergen war das anders. Da wartete ich geduldig auf den Tag, an dem sich alles entscheiden sollte – und an dem nachher alles verkehrt ging. Aber in dieser Umgebung, in der ich den Mörder täglich sehen kann, peinigt mich der Gedanke, er könne abermals auf irgendeine geheimnisvolle Weise dem Arme der Gerechtigkeit entschlüpfen. Ich möchte jederzeit wissen, was sich ereignet hat. Jeden Abend werde ich allein in meinem kahlen Zimmer sitzen und über die Fortsetzung dieses gräßlichen Abenteuers nachdenken. Wenn Sie dann heimkommen, können Sie mir immer berichten, was Sie mit den beiden gesprochen, was Sie unternommen haben und was Sie für den nächsten Tag planen. Vielleicht kann ich Ihnen dann und wann auch ein wenig nachdenken helfen. Jedenfalls weiß ich genau, daß ich ohne eine solche kurze Aussprache nicht einschlafen könnte.«

Korbin fühlte sich, als ginge er lächelnd auf Wollflocken.

»Das ist ein vorzüglicher Vorschlag«, stimmte er begeistert zu. »Ich dachte schon, Sie hätten kein rechtes Zutrauen zu mir, weil Sie unser kleines Erlebnis in den Bergen so ganz aus dem Gedächtnis zu wischen suchen. Darf ich dann vielleicht ab und zu auch wieder einmal in deutscher Sprache zu Ihnen reden?«

Sie blickte ängstlich zu ihm auf; ihr zartes Gesicht war von einem rosigen Schein überstrahlt.

»Lieber nicht, Mr. Holzer, bitte, lieber nicht. Sie wissen, damals – nun, ich war für Sie und diesen Franz Henne doch eben ein Junge, und von Ihrem Partner konnte ich ja etwas anderes kaum erwarten. Es ist unter Prospectors wohl so üblich. Aber ich habe vorher nie das Du angewendet andern Menschen als Eltern und Geschwistern gegenüber. Es fällt mir schwer – Sie verstehen? – jetzt – damals war das anders. Bleiben wir doch in der Sprache dieses Landes – bitte!«

Es klang viel mehr rührend als abweisend.

»Ganz wie Sie wünschen, Miß Valler«, meinte Korbin betrübt und beinahe ein wenig beschämt. »Ich wollte mir damit keine Freiheiten erlauben – – Ihnen nicht zu nahe treten …«

»Ach – so war es ganz bestimmt nicht gemeint. Vielleicht – ja, vielleicht fange ich selber einmal an, mit Ihnen Deutsch zu sprechen. Ich spreche es viel lieber als Englisch. Wir können ja dabei auch ›Sie‹ sagen. Sie verstehen mich doch nicht falsch?«

»Nein!« sagte Korbin Holzer, aber es klang matt und wenig überzeugt.


 << zurück weiter >>