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Der Prozeß von Tisza-Eszlár

Daß die Juden zur Herstellung ihrer Osterbrote das Blut von Christenkindern brauchen – dieser aus dem frühen Mittelalter stammende Glaube ist, im östlichen Europa besonders, noch heute weit verbreitet: Alljährlich um die Osterzeit taucht bald da, bald dort das Gerücht von einem durch die Juden verübten Ritualmord auf: Eltern jammern, das von ihnen vermißte Kind sei sicher von den Mördern des Heilands geschlachtet worden, wütende Haufen ziehen vor die Häuser der Juden und verüben Gewalttaten, um an den Verhaßten Rache zu nehmen – die Gebildeten freilich pflegen gemeiniglich den Ritualmord als einen blöden Wahn, für den auch nicht die mindeste Wahrscheinlichkeit spreche, zu belächeln.

Aber nicht um ein leeres Geschwätz, nicht um die törichten Einbildungen fanatischer Bauern handelte es sich offensichtlich bei dem Falle, der sich im Jahre 1882 in dem ungarischen Dorfe Tisza-Eszlár zutrug: Diesmal erstanden den Juden aus ihrem Lager selbst die Ankläger – die Kinder des Joseph Scharf beschuldigten ihren eigenen Vater, bei der Abschlachtung eines Christenmädchens in der Synagoge mitbeteiligt gewesen zu sein.

Als das bekannt wurde, entstand in ganz Ungarn eine maßlose Aufregung; allenthalben wuchs der Haß gegen die Juden, an vielen Orten wurden sie überfallen und mißhandelt. Auch im übrigen Europa beschäftigte sich die Presse lebhaft mit dem Falle, die verschiedenartigsten Vermutungen wurden geäußert, Freunde und Feinde der Juden warteten mit gleicher Spannung auf das Ergebnis der Voruntersuchung.

Diese nahm geraume Zeit in Anspruch. Als sie beendet war, wurden nicht weniger als fünfzehn der inzwischen in Verhaft genommenen Juden vor den Gerichtshof von Nyiregyhaza gestellt, fünf unter Beschuldigung des Mordes, sechs als Teilnehmer am Mord, die anderen wegen Begünstigung der eigentlichen Verbrecher.

 

Unter ungeheuerem Andrang einer von der Schuld der Juden überzeugten Menge begannen am 19. Juni 1883 die Verhandlungen.

So stellte der Staatsanwalt Szeiffert den Tatbestand dar:

Esther, die Tochter der Witwe Solymossi in Tisza-Eszlár, trat am 1. März als Magd in den Dienst der mit ihr verwandten Frau Andreas Hury. Die christlichen Einwohner des Dorfes rüsteten sich zur Feier des Osterfestes, welches im Jahre 1882 mit dem Passah der Juden zusammenfiel. Frau Hury beabsichtigte, ihr Haus tünchen zu lassen, und schickte Esther nach dem nahen Totfalu, um Farbe zu kaufen.

Am 1. April, zwischen zehn und elf Uhr vormittags, ging sie vom Hause weg. Von mehrern Zeugen, auch von ihrer älteren Schwester, ist sie auf dem Hin- und Rückwege gesehen worden; die letztere hat mit ihr gesprochen. Aber sie ist nicht wieder nach Hause gekommen und seitdem spurlos verschwunden. Ihre Dienstherrin und ihre Mutter wußten nicht, was sie denken sollten; sie suchten Esther am Nachmittag des 1. April vergeblich im Dorfe und in der ganzen Umgegend. Die Mutter weinte, und der jüdische Tempeldiener Scharf und seine Frau, denen sie ihr Leid klagte, trösteten sie damit, daß sie ihr sagten: ihre Tochter werde schon wiederkommen; vor ein paar Jahren sei auch in Hajdu-Nánás ein Kind längere Zeit weggewesen, man habe die Juden beschuldigt, es gemordet zu haben, aber es sei wieder erschienen, und so werde es mit Esther auch gehen.

Die Mutter machte Anzeige beim Stuhlrichter, die Behörde nahm sich der Sache an; allein ohne Erfolg. Da hieß es auf einmal: das Mädchen ist geschlachtet worden, die Juden haben es in der Synagoge umgebracht! Frauen und Kinder in Tisza-Eszlár erzählen sich, der fünfjährige Samuel, der Sohn des Tempeldieners Scharf, habe gesagt: »Der Vater hat die Esther in das Haus gerufen, sie gewaschen und in den Tempel geführt, der Schächter hat sie abgeschlachtet.«

Man erinnerte sich daran, daß schon in alter Zeit die Juden angeklagt worden sind, Christenkinder getötet und ihr Blut zu rituellen Zwecken benutzt zu haben; das in der Tat höchst auffallende spurlose Verschwinden der Esther Solymossi wurde auf einen Mord zurückgeführt, die Mutter und mit ihr ein sehr großer Teil der Einwohner von Tisza-Eszlár forderten das Einschreiten des Gerichts; am 19. Mai erschien infolgedessen der Untersuchungsrichter Bary im Dorfe.

Die verdächtigen Juden werden unter polizeiliche Aufsicht gestellt, und der kleine Samuel Scharf erzählt vor Gericht: »Esther Solymossi ist in das Haus meiner Eltern gekommen, ein großer Mann hat ihr den Hals abgeschnitten, ich und mein älterer Bruder Moritz haben mit anderen dabei geholfen, das hervorströmende Blut in einem Teller aufzufangen.« Der Tempeldiener Scharf, sein vierzehnjähriger Sohn Moritz und alle übrigen verdächtigen Juden leugnen alles, was ihnen zur Last gelegt wird, sie behaupten, daß sie von der blutigen Tat und dem Mädchen nichts wissen. Die drei fremden Schächter Schwarz, Buxbaum und Braun, welche nach Tisza-Eszlár gekommen waren, um sich für den freien Schächter- und Kantorenposten daselbst zu melden, und am 1. April Probevorträge in der Synagoge gehalten hatten, und Hermann Wollner, ein Bettler, der am selben Tage auch im Tempel gewesen war, werden verhört; sie versichern ihre Unschuld und wollen Esther Solymossi am 1. April überhaupt nicht gesehen haben.

Da wendet sich plötzlich die Sache. Moritz Scharf, den man unter die Aufsicht des Gerichtskanzlisten Koloman Piczely und des Sicherheitskommissars Recsky gestellt hat, legt am Abend des 21. Mai, dem Tage nach seiner ersten Vernehmung, vor diesen ein Geständnis ab und gibt an: »Mein Vater rief die Esther Solymossi von der Straße in unser Haus unter dem Vorwande, daß sie Leuchter wegstellen solle, was wir am Sabbat nicht dürfen. Der bei uns einquartierte Bettler Wollner führte sie in die Synagoge, legte sie daselbst auf den Boden und entkleidete sie bis aufs Hemd. Außer meinem Vater und Wollner waren noch dabei die Schächter Schwarz, Buxbaum und Braun, ferner Adolf Junger, Abraham Braun, Samuel Lustig, Lazar Weißstein und Emanuel Taub. Braun und Buxbaum hielten die Esther fest, der Schächter Schwarz aber schnitt ihr mit einem Messer den Hals durch. Das Blut wurde aufgefangen und in einen Topf geschüttet. Ich hörte das Mädchen schreien und lief an die Tür der Synagoge und konnte alles sehen, was im Tempel vorgenommen wurde.«

Der Untersuchungsrichter wurde sofort von dieser wichtigen Aussage in Kenntnis gesetzt, er eilte an Ort und Stelle, und noch in derselben Nacht wiederholte Moritz Scharf vor ihm alles, was er dem Sicherheitskommissar bekannt hatte. Er fügte hinzu: »Nachdem die Schächter und alle anderen Leute den Tempel verlassen hatten, habe ich denselben mit dem in der Vorhalle liegenden Schlüssel zugesperrt, aber weder Blutspuren noch den Leichnam des Mädchens gesehen.« – Moritz Scharf, dessen Eltern verhaftet worden waren, wurde hierauf im Komitathause untergebracht und dem Gefängniswärter Henter in Nyiregyhaza zur Obhut und Beaufsichtigung übergeben. Der Untersuchungsrichter hatte nun eine feste Grundlage gewonnen und schritt sehr energisch vor. Er forschte überall nach, er suchte über und unter der Erde, zu Wasser und zu Lande, aber es gelang ihm nicht, die tote Esther Solymossi oder auch nur die Kleider, welche sie am 1. April getragen hatte, aufzufinden.

Eine Zeugin, Frau Lengyel, trat auf, welche in der Nähe der Synagoge wohnt. Am 1. April um die Mittagsstunde wollte sie Hilferufe, die aus dem jüdischen Tempel zu kommen schienen, gehört haben. Eine zweite Zeugin, die Witwe Fekete, hatte um dieselbe Zeit zwei Juden vor der Tür der Synagoge stehen sehen und ein Weinen vernommen. Im übrigen förderte die Untersuchung kein erhebliches Belastungsmaterial zutage. Die angeschuldigten Juden, wiewohl keiner von ihnen sein Alibi nachweisen konnte, leugneten nach wie vor, und Moritz Scharf war der einzige Zeuge, der die Anklage des Mordes stützte.

Der Untersuchungsrichter war im Begriff, seine Tätigkeit zu beschließen, da trat ein neues wichtiges Ereignis ein. Am 18. Juni 1882 zog der Feldhüter von Tisza-Dada einen Leichnam aus der Theiß, der noch an demselben Tage vom Bezirksarzte untersucht wurde. Es war die Leiche einer Frauensperson, der Haare und Nägel fehlten, sie war bekleidet, und in der linken Hand hatte sie ein Tuch, in welches bläuliche Farbe eingewickelt war. Diese Anzeichen deuteten darauf hin, daß man Esther Solymossi endlich gefunden habe.

Die durch keine Wunde entstellte Tote wurde von vielen Personen besichtigt, welche Esther oft gesehen hatten, etliche erkannten in ihr die verschwundene Tochter der Witwe Solymossi, allein die Mutter selbst erklärte mit voller Bestimmtheit, daß zwar die Kleider dieselben wären, die Esther am 1. April 1882 getragen habe, daß aber dies darum doch nicht ihre Tochter sei; andere glaubwürdige Einwohner von Tisza-Eszlár stimmten ihr bei.

Die Leiche wurde obduziert und seziert, und das von zwei Ärzten und einem Chirurgen abgegebene Gutachten ging dahin: »Die Leiche ist der Haare und der Nägel auf künstliche Weise beraubt worden. Es ist die Leiche einer wenigstens achtzehn Jahre, wahrscheinlich aber schon über zwanzig Jahre alten Frauensperson. Sie ist an Blutarmut, welche die Folge einer Krankheit gewesen, vor höchstens zehn Tagen gestorben und hat seit drei bis vier Tagen im Wasser gelegen.«

Hiernach konnte natürlich die Leiche nicht die der vierzehnjährigen Esther Solymossi sein. Da sie aber die Kleider der letzteren trug, so entstand der Verdacht, daß die angeklagten Juden und ihre Helfershelfer eine fremde Leiche mit den Kleidern des ermordeten Mädchens bekleidet und in das Wasser geworfen hätten, um das Gericht irrezuführen und den Glauben zu erwecken, Esther Solymossi habe in den Wellen der Theiß ihren Tod gefunden und sei also nicht im Tempel zu Tisza-Eszlár abgeschlachtet worden.

Der Untersuchungsrichter sah sich nun vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Es mußte ermittelt werden, wer die Person war, die man als Leiche in der Theiß gefunden hatte, ferner, von wem die Leiche mit den Kleidern der Esther Solymossi bekleidet worden und wie sie in den Fluß gekommen war. Sechzehn Flößer wurden in die Untersuchung verwickelt, und es stellte sich heraus, daß man durch eine raffinierte Leichenunterschiebung versucht hatte, das Gericht zu täuschen.

Amsel Vogel hatte den Flößer Jankel Smilovics am 6. oder 7. Juni überredet, eine Leiche, die man ihm übergeben würde, die Theiß hinabzuschwemmen. Smilovics begab sich nach Tisza-St. Marton und traf daselbst die Einwohner Martin Groß und Ignaz Klein aus Tisza-Eszlár, auf deren Wagen ein mit Matten bedeckter nackter Leichnam lag. Smilovics nahm diese Leiche in Empfang und ließ dieselbe durch den Flößer David Herschko zu Wasser nach Tisza-Eszlár befördern. Es wurde das in der Weise bewerkstelligt, daß man die Tote mit der Hand unter einem Flosse festband und sie so die Theiß hinuntergleiten ließ. Als sie in der Nähe von Tisza-Eszlár angelangt waren, fand sich – am 16. Juni – eine den Flößern unbekannte Jüdin ein und überbrachte Kleider, die, der Anordnung von Jankel Smilovics gemäß, von David Herschko und Ignaz Mathej der Leiche angezogen wurden. Die bekleidete Leiche warfen sie wieder in die Theiß, ohne sie an das Floß zu binden, und nun schwamm sie nach Tisza-Dada, wo sie dann gefunden wurde.

Martin Groß und Ignaz Klein haben vor dem Untersuchungsrichter ihre Schuld geleugnet, auch ist nicht ermittelt worden, woher und wie sie sich die Leiche verschafft haben. Jankel Smilovics, Herschko und Mathej, die anfänglich gestanden, haben später ihre auf die Übernahme, den Transport und das Ankleiden der Leiche bezüglichen Aussagen widerrufen.

Auf Antrag der Verteidigung und unter Zustimmung des Staatsanwalts, jedoch ohne die Mitwirkung des Gerichts, ist die nach der Obduktion in Tisza-Eszlár beerdigte Leiche am 7. Dezember 1882 wieder ausgegraben worden. Drei Professoren der Universität Budapest haben die Leiche besichtigt und sich gutachtlich dahin geäußert: es sei die Leiche eines vierzehn- bis siebzehnjährigen Mädchens, sie habe Nägel und Haare auf natürliche Weise verloren und wochenlang vor der Obduktion im Wasser gelegen.

Das Untersuchungsgericht hat diese nachträgliche Obduktion nicht gebilligt, die darauf gestützten Beweise für nichtig erklärt, auch von Amts wegen angeordnet, daß dieses Beweismaterial in den Akten zu streichen sei.

Auf Grund der Verdachtsmomente, welche die Untersuchung ans Licht gebracht hat, sitzen also der Schächter Salomo Schwarz, seine Genossen Buxbaum und Braun, ferner Wollner auf der Anklagebank wegen der Beschuldigung, einen religiös-rituellen Mord begangen zu haben. Der Tempeldiener Joseph Scharf hat nach dem Zeugnis seines Sohnes Moritz die ermordete Esther Solymossi in den Tempel gelockt; er, sowie die Angeklagten Junger, Abraham Braun, Lustig, Weißstein und Taub, welche bei der Tat anwesend waren, sind als Teilnehmer an dem Morde anzusehen, Amsel Vogel und die anderen bei dem Leichenschmuggel beteiligten Personen haben sich der Unterstützung des Verbrechens schuldig gemacht. Jetzt soll das seit einem Jahre aufgehäufte Beweismaterial öffentlich gesichtet und geprüft werden!

Nachdem der Staatsanwalt geendet, wurden die wegen Mordes Angeschuldigten kurz verhört und beteuerten sämtlich ihre Unschuld.

Der Präsident des Gerichtshofes schritt darauf – im Saale herrschte Todesstille – zur Vernehmung des Hauptbelastungszeugen, des vierzehnjährigen Moritz Scharf.

Präsident: Du bist zum erstenmal vor dem Untersuchungsrichter in Tisza-Eszlár vernommen worden. Was hast du damals über das Verschwinden der Esther Solymossi ausgesagt?

Zeuge: Ich sagte, daß ich nichts davon wüßte.

Präsident: Später bist du nach Nagyfalu zum Sicherheitskommissar Recsky geführt worden. Was ist dort geschehen?

Zeuge: Man sagte mir, ich solle alles aussagen, was ich wüßte, sonst würde man mich ewig im Gefängnis behalten.

Präsident: Und was hast du ausgesagt?

Zeuge: Am 1. April 1882 gingen die tisza-eszlárer Juden und drei fremde Schächer früh um acht Uhr in den Gottesdienst, der bis nach elf Uhr währte. Ich war mit im Tempel. Als wir nach dem Gottesdienst fortgingen, blieben Salomo Schwarz und der tégláser Schächter, dessen Name mir nicht bekannt ist, in der Synagoge; sie sagten, sie wollten beten. Später rief mein Vater die Esther Solymossi, die an unserer Wohnung vorüberging, herein, um Leuchter wegzustellen. Der Bettler Wollner, der schon am Tag zuvor zu uns gekommen war und bei uns übernachtet hatte, führte sie in die Synagoge unter dem Vorwande, daß sie dort etwas holen solle. Nach einer Viertelstunde hörte ich in unserem Haus, das gleich hinter der Synagoge liegt, ein aus dem Tempel kommendes Wehgeschrei. Ich lief an die Tür, die jedoch verschlossen war; ich guckte durch das Schlüsselloch und sah, daß der tégláser und der tarczáler Schächter die Esther, welche entkleidet war, zur Erde niederdrückten, und daß der tiszalöker Schächter Salomon Schwarz ihr den Hals durchschnitt und ihr Blut in einem irdenen Gefäße auffing; dem Mädchen wurden dann die Kleider wieder angezogen. Lazar Weißstein, Samuel Lustig, Adolf Junger, Abraham Braun und Emanuel Taub waren mit in dem Tempel. Ich ging fort, kehrte aber nach einiger Zeit zurück und fand den Schlüssel zum Tempel in der Vorhalle liegen. Ich schloß auf, sah aber nichts mehr von der Leiche und auch keine Blutspuren. Wohin der Leichnam geschafft worden ist, weiß ich nicht.

 

Seine ganze Aussage brachte der Zeuge eintönig in einer merkwürdig flüssigen Weise vor. Auch sonst war sein Benehmen seltsam. Als man ihn durch eine Seitentür in den Gerichtssaal führte, hatte er sich trotz der seinem Alter sonst eigenen Neugier nicht nach dem Publikum umgewendet, ja nicht einmal auf seinen Vater einen Blick geworfen.

Der Präsident befragte ihn nun weiter: Also du sahst nicht, was die Mörder mit der Leiche taten?

Zeuge: Nein. Ich denke, sie haben sie zum Fenster der Vorhalle hinausgetan, in Stroh gewickelt und dann in die Theiß geworfen.

Jetzt konnte sich Joseph Scharf, sein Vater, nicht mehr zurückhalten; er rief: Hast du das niedergeschrieben, mein Sohn?

Präsident: Ihr Sohn hat Sie mit keinem Worte angeklagt.

Joseph Scharf: Ich bin da, wo die anderen sind, er soll sagen, wer ihm diese Lüge einstudiert hat!

Präsident: Kennst du die Zehn Gebote, mein Sohn? Weißt du, daß du kein falsches Zeugnis wider deinen Nächsten ablegen darfst?

Zeuge: Ich weiß es und kenne die Zehn Gebote.

Präsident: Weißt du auch, daß nach der Heiligen Schrift denjenigen eine schwere Strafe trifft, der falsches Zeugnis ablegt?

Zeuge: Ich weiß es.

Präsident: Ist das, was du jetzt vor dem Königlichen Gerichtshofe ausgesagt hast, wirklich und wahrhaft so geschehen?

Zeuge: Ja!

Verteidiger Friedmann: Ich bitte, dem Zeugen zu erklären, daß er unter dem Schutze des Gesetzes steht und nichts zu fürchten hat, wenn er die volle Wahrheit sagt; daß es keine Macht auf Erden gibt, die ihm deshalb ein Leid antun könnte.

Präsident: Du brauchst nichts zu fürchten, wenn du die Wahrheit sagst, es kann dir niemand etwas anhaben.

Zeuge: Ich sage, was ich weiß, mehr als ich weiß, kann ich nicht sagen.

Präsident: Man hat behauptet, du wärest durch Drohungen dazu bestimmt worden, vor dem Sicherheitskommissar Recsky zu gestehen.

Zeuge: Weder der Herr Kommissar Recsky noch seine Panduren haben mich bedroht oder sonstwie zu meiner Aussage genötigt.

Präsident: Hat dir irgendjemand angegeben, was du sagen sollst?

Zeuge: Niemand hat mich abgerichtet.

Präsident: Weißt du, welches ungeheueren Verbrechens du diese Menschen anklagst?

Zeuge: Ich weiß es.

Verteidiger Eötvös: Ich bitte, die Frage an den Zeugen zu richten, ob er sein Zeugnis nicht auch in Versen hersagen kann.

 

Entrüsteter Lärm entstand im Zuhörerraum auf diese Worte hin.

 

Präsident: Der Ernst der Verhandlung darf nicht in dieser Weise profaniert werden!

Eötvös: Ich bitte um Entschuldigung, ich kenne Gedichte, die von dem Geständnis des Zeugen handeln und im Druck erschienen sind. Meine Frage ist also begründet.

Präsident: Ich werde diese Frage nicht stellen.

Eötvös: Dann bitte ich, dem Zeugen zu erläutern, daß er nicht genötigt ist, zum Kastellan Henter, bei dem er in der letzten Zeit gewohnt hat, zurückzukehren.

Zeuge: Ich weiß, daß ich hingehen kann, wohin ich will!

 

Nachdem das Publikum, das diese Worte mit lautem Beifall aufgenommen, sich beruhigt hatte, wandte der Präsident sich an den Angeklagten Salomon Schwarz und ließ ihm durch Moritz noch einmal die Anklage wiederholen.

Angeklagter Schwarz: Ich bin also nach dem Gottesdienst noch in der Synagoge geblieben?

Zeuge: Sie sind dort geblieben, und der zerlumpte Jude, welcher in unserem Hause war, hat die Esther Solymossi in den Tempel geführt. Die Tür ist zugeschlossen und das Mädchen ist ermordet worden. Sie haben ihr den Hals durchgeschnitten, und die anderen haben sie gehalten.

Angeklagter: Wie kannst du das sagen, du Schurke?

Präsident: Antworten Sie dem Zeugen, aber beleidigen Sie ihn nicht. Was haben Sie auf seine Anschuldigung zu erwidern?

Angeklagter Schwarz: Ich sage, es ist alles unwahr. Ich will beweisen, daß es unmöglich ist. Ich will es beweisen durch die Heilige Schrift. Ich will es beweisen durch die Weltgeschichte. Es ist unmöglich, daß ein Israelit zu rituellen Zwecken einen Mord verübt. Jedermann sieht, daß der Knabe abgerichtet ist. Er sprach, als wenn er ein Märchen erzählte.

Moritz Scharf: Ich bin nicht abgerichtet!

 

Der Präsident wandte sich jetzt zum Angeklagten Wollner: Haben Sie verstanden, was der Knabe ausgesagt hat? Sie sollen das Mädchen in den Tempel geführt haben.

Angeklagter Wollner: Ich habe alles verstanden, aber warum hat mir der Knabe dies nicht vor dem Untersuchungsrichter schon gesagt?

Zeuge: Der Herr Untersuchungsrichter sagte mir, die Zeit würde schon kommen, wo ich Ihnen alles ins Gesicht sagen müßte.

Angeklagter Wollner: Was du ausgesagt hast, ist unwahr. Als der Gottesdienst zu Ende war, ging ich aus dem Tempel und aß etwas.

Zeuge: Nein, Ihr habt die Esther Solymossi ermorden helfen, dann kamt Ihr aus der Synagoge und gingt zum Mittagessen.

Angeklagter Buxbaum: Unwahr ist alles, was er spricht, dieser Hund, dieser Lauskerl!

Präsident (zum Zeugen): Schau dem Angeklagten Buxbaum ins Gesicht! (Der Zeuge tut es.)

Buxbaum: Wagst du mir deine falsche Anklage ins Gesicht zu sagen? Rede!

Zeuge: Auch Sie waren dabei, als Esther Solymossi umgebracht wurde!

Buxbaum: Um wie viel Uhr war es denn?

Zeuge: Zwischen elf und zwölf Uhr am Samstag vor Ostern 1882.

Buxbaum: Und ich soll dabei gewesen sein! Pfui! (Er speit den Zeugen an.) Bringe einen Zeugen für deine Behauptung!

Zeuge: Bringen Sie doch zuerst die Esther Solymossi her!

Jetzt erhebt sich Joseph Scharf von seinem Platze und will sich zu seinem Sohne Moritz wenden, aber der Gefangenenaufseher verhindert es, und ein Gefängniswärter drückt ihn gewaltsam auf seinen Sitz nieder, ohne ihn zum Wort kommen zu lassen.

Buxbaum: Hochwohlgeborener Herr Präsident! Wer wird solcher Narretei Glauben schenken? Ich frage vor der ganzen Welt, wie ist es möglich, daß der Knabe das gesehen haben will? Wie kann man solche Narretei glauben?

 

Der Präsident rief jetzt den Angeklagten Leopold Braun vor, und auch diesem gegenüber wiederholte Moritz Scharf nochmals seine Anklage: Sie waren in Tisza-Eszlár beim Gottesdienst anwesend. Sie blieben dann noch im Tempel, Sie und der tégláser Schächter und Salomon Schwarz.

Angeklagter Leopold Braun: Der tégláser Schächter? Wo bin ich denn her?

Zeuge: Sie sind der tégláser Schächter. Die Esther Solymossi wurde in den Tempel geführt, Sie haben sie entkleidet und auf den Boden gelegt.

Angeklagter Leopold Braun: Was haben wir dann gemacht?

Zeuge: Sie drückten die Esther nieder, und Schwarz schnitt ihr in den Hals.

Angeklagter Leopold Braun: Erinnerst du dich, wie ich die Esther angefaßt habe? In der Untersuchung hast du gesagt, ich hätte sie bei den Füßen gehalten?

Zeuge: Nun ja, Sie haben sie bei den Füßen gehalten.

Angeklagter Leopold Braun: Der Herr Untersuchungsrichter las mir vor, ich hätte sie bei dem Kopfe gehalten, so hattest du zuerst ausgesagt, dann verdrehtest du die Sache und gabst an, ich hätte sie bei den Füßen gehalten.

Zeuge: Ich erinnere mich nicht mehr, wo der tégláser Schächter sie gehalten hat, ich weiß nur, daß er sie gehalten hat.

Nun wandte sich Joseph Scharf wieder in furchtbarer Erregung zu seinem Sohn und schrie: Du lügst!

Zeuge: Wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, wird man Sie in den Koller werfen!

Verteidiger Szekely: Ich bitte zu beachten, welche Ausdrücke der Sohn seinem Vater gegenüber gebraucht!

Angeklagter Buxbaum (zu Moritz Scharf): Deinen Vater sollst du fürchten, wie man Gott fürchtet! Wie kam es denn, daß du nicht schriest, als du den Mord sahest?

Zeuge: Es konnte mich niemand hören, und ich war auch zu sehr erschrocken.

 

Hier wurde die Verhandlung abgebrochen. Die Angeklagten verließen den Saal mit Flüchen auf Moritz Scharf, für den die große Mehrzahl der Zuhörer entschieden Partei ergriff.

 

Am folgenden Tage wurde zuerst Joseph Scharf vernommen, der seine Unschuld beteuerte und erklärte, er habe am Tage, an dem der Mord geschehen sein solle, Esther Solymossi überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Das ganze Gerücht sei, wie er glaube, nur dadurch entstanden, daß er die Mutter der Verschwundenen mit jenem in Nánós vorgekommenen Falle getröstet habe.

Dann wurde das Verhör seines Sohnes fortgesetzt.

Der Präsident fragte ihn: Wie haben dich deine Eltern behandelt?

Zeuge: Nicht zu gut und nicht zu schlecht.

Präsident: Haben sie dich geschlagen?

Zeuge: Ja, manchmal.

Präsident: Hast du dafür Rache nehmen wollen?

Zeuge: Nein, aber ich war oft erbittert und wütend.

Präsident: Du hast gestern die Ermordung der Esther Solymossi geschildert. Weshalb hast du nicht um Hilfe gerufen?

Zeuge: Ich fürchtete mich.

Präsident: Was tatest du, nachdem der Mord vollbracht war?

Zeuge: Ich aß mit Vater und Mutter zu Mittag.

Joseph Scharf rief laut: Ich möchte den infamen Lügner zerreißen! Kennst du das Gebot, daß du Vater und Mutter ehren sollst?

Zeuge: Ich habe die Bibel nicht gelernt.

Joseph Scharf: Moritz, schau mir in die Augen. Schämst du dich nicht, so etwas auszusagen?

Zeuge: Ich sage, was ich gesehen habe.

Joseph Scharf: Man hat dir deine Aussage eingelernt!

Zeuge: Nein, ich sage, was ich gesehen habe.

Verteidiger Eötvös: Willst du beschwören, daß dir es niemand eingelernt hat?

Zeuge: Ja, ich beschwöre es!

Joseph Scharf: Ich lüge also?

Zeuge (nach einer Pause): Ja, Sie lügen!

Joseph Scharf: Also du hast durch das Schlüsselloch gesehen, daß Esther im Tempel abgeschlachtet worden ist! Wo war ich denn zu dieser Zeit?

Zeuge: Zu Hause im Wohnzimmer. Beim Essen hast du mir dann selbst die Geschichte erzählt.

Joseph Scharf: Du Lügner! Das habe ich also um dich verdient, daß man mich auf deine Aussage hin hier auf dem Marktplatze henkt! Sage, Moritz, dauern dich alle diese unschuldigen Leute nicht, die durch deine Aussage an den Galgen gebracht werden? Tut es dir nicht leid, daß ich deine Geschwister seit dreizehn Monaten nicht gesehen habe?

Zeuge: Sie werden sie schon sehen.

Joseph Scharf: Woher weißt du das?

Zeuge: Ich weiß es sehr genau, daß Ihnen nichts geschehen wird.

Joseph Scharf: Wer hat dir das gesagt?

Zeuge: Der Untersuchungsrichter hat mir immer gesagt, meinen Eltern geschieht nichts.

Verteidiger Eötvös: Was willst du nach Beendigung des Prozesses werden?

Zeuge: Der Obergespan wird für mich sorgen.

Eötvös: Wer hat dir das gesagt?

Zeuge: Ich habe einen Erlaß des Ministers des Innern gelesen.

 

Es wurde festgestellt, daß ein solcher Erlaß nicht existierte.

 

Angeklagter Lustig: Ist es wahr, daß du kein Jude mehr sein willst?

Zeuge: Ich will kein Jude sein, ich will von euch nichts wissen!

Friedmann: Wer hat deinem kleinen Bruder Samuel den Mord erzählt?

Zeuge: Ich selbst, er hörte es bei Tische.

Friedmann: Hast du deine Aussage vor dem Sicherheitskommissar Recsky und vor dem Untersuchungsrichter freiwillig abgelegt?

Zeuge: Ja.

Verteidiger Heumann: Weißt du, weshalb die Juden das Mädchen umgebracht haben?

Zeuge: Sie haben vielleicht Gesetze, die dies befehlen.

Heumann: Woher weißt du dies?

Zeuge: Von katholischen Geistlichen.

 

Diese Worte riefen bei einem Teil des Publikums lebhafte Bewegung hervor.

 

Heumann: Haben katholische Geistliche mit dir darüber gesprochen?

Zeuge: Nein. Sie haben es zu anderen gesagt, die es mir wieder erzählt haben.

Verteidiger Funtak: Ich will nur noch eine Frage an den jungen Menschen richten: Beschreibe mir doch, mein Sohn, wie das Blut geflossen ist, als der Schnitt in den Hals gemacht worden war.

Zeuge: Es floß ganz langsam in einem kleinen Strome herunter.

Funtak: Diese Aussage macht dich zunichte. Es ist nicht möglich, daß das Blut nach einem solchen Schnitt langsam fließt. Das Blut muß dann in einem Bogen spritzen. Deine Aussage ist erlogen!

Staatsanwalt: Da diese Angabe des Zeugen Moritz Scharf allerdings bedeutungsvoll ist, verlange ich die Vorladung und Vernehmung von Sachverständigen über diesen Punkt. Gleichzeitig muß ich dem Gerichtshofe bekannt geben: mir ist die Nachricht zugekommen, Moritz Scharf habe in der Zeit, in welcher er sich unter gerichtlicher Aufsicht befand, einmal das Bekenntnis abgelegt, seine ganze Aussage sei vom ersten bis zum letzten Worte erlogen, er habe nichts gesehen, es sei ihm alles eingelernt worden. Der Beamte Daniel Barcza soll hierüber Auskunft geben können. Ich verlange daher dessen Vorladung als Zeuge.

Im Publikum entstand bei diesen Worten tosender Lärm, laut wurde gerufen: »Ist denn auch der Staatsanwalt ein Verteidiger der Schächter?«

 

Die Zeugenvernehmungen, welche die Verhandlungen der folgenden Wochen ausfüllten, brachten kein Ding von Wichtigkeit ans Licht.

Die Witwe Solymossi, eine alte Frau in der Tracht der ungarischen Bäuerinnen, erzählte, wie ihre Tochter am 1. April plötzlich verschwand. »Einen Grund zum Selbstmord hat Esther nicht gehabt, mein Herz sagte mir gleich, daß die Juden sie ermordet hätten, Gott hat es mir eingegeben. Erst später habe ich gehört, was der kleine Samuel Scharf den Mädchen im Dorfe über den Mord mitgeteilt hat. Der Tempeldiener Scharf hat mir ein Beispiel erzählt, daß man die Juden eines solchen Mordes beschuldigt habe, und das hat meinen Verdacht bestärkt. Die Juden haben mir auch Geld angeboten, damit ich nicht mehr nach meinem Kinde suchen solle.«

Über diese letzte Behauptung wurden Ermittelungen angestellt. Der Jude Lichtmann sagte aus, er habe eines Tages von einem Schankwirt gehört, die Esther sei lebend in der Nähe gefunden worden und werde demnächst wieder bei ihrer Mutter eintreffen. Darauf sei er zu dieser gegangen und habe ihr zweihundert Gulden versprochen, wenn sie ihm – und sei es auch mitten in der Nacht – die Ankunft ihrer Tochter sofort melde.

Die Witwe Solymossi stellte hingegen den Vorgang so dar: Lichtmann habe ihr gesagt: »Sollte Eure Tochter des Nachts nach Hause kommen, und Ihr verleugnet sie nicht, so bekommt Ihr tausend Gulden.«

Wie der Vorfall sich wirklich abgespielt hat, ist nicht aufgeklärt worden.

 

Verschiedene Zeugen bestätigen, daß der kleine Samuel Scharf ihnen erzählte, die Juden hätten ein Christenmädchen geschlachtet. Zu der einen Zeugin hatte er gesagt: seine Mutter habe der Esther die Füße gewaschen, dann sei sie geschlachtet worden; einer anderen: sein Bruder Moritz habe die Tür zugesperrt, während der Mord geschah; einer dritten: das Christenmädchen sei bei seinen Eltern gewesen, man habe sie an einen Sessel gebunden und geschlachtet, er habe es gesehen.

Nach dem Protokoll des Untersuchungsrichters hatte mit dem sechsjährigen Knaben kein regelrechtes Verhör vorgenommen werden können; was er sagte, sei darauf hinausgelaufen: sein Vater habe der Esther einen weißen Fetzen in den Mund gesteckt, hierauf habe man sie in einem Troge abgewaschen, und ein großer Jude habe ihr dann mit einem langen Messer den Hals durchgeschnitten, so daß der Kopf herabgefallen sei. Moritz habe den Kopf der Esther gehalten, als man den Leichnam getragen; die Hand, den Fuß und den Kopf hätten Braun und sein Sohn, Samuel Lustig und dessen Sohn gehalten. Auch Martin Groß sei dabei gewesen.

Diese Darstellung stand also durchaus im Widerspruch zu der des älteren Bruders.

 

Im Laufe der Verhandlungen traten viele Zeugen auf, die den Untersuchungsrichter Bary beschuldigten, er habe die Protokolle ohne die Mitwirkung eines Protokollführers aufgenommen und den Zeugen nicht vorgelesen, was er von ihren Bekundungen niederschrieb. Ja, einige behaupteten, der Untersuchungsrichter habe Dinge zu Protokoll genommen, die sie gar nicht gesagt; durch verschiedene Mittel – einen Zeugen ließ er angeblich trotz seiner kranken Augen in die Sonne sehen – hätte er sie zu zwingen versucht, gegen die verdächtigen Juden falsches Zeugnis abzulegen.

Das Verfahren des Untersuchungsrichters wurde von der Verteidigung auf das heftigste angegriffen. Der Gerichtskanzlist Koloman Peczely, welcher am 21. Mai 1882 in Gemeinschaft mit dem Sicherheitskommissar Recsky den Moritz Scharf zu beaufsichtigen und von Tisza-Eszlár nach Nyiregyhaza zu eskortieren hatte, wurde vernommen, um zu erklären, wie in der Voruntersuchung die Aussage des Hauptzeugen Moritz Scharf zustande gekommen sei. Er gab an:

Als wir auf dem Wege von Nyiregyhaza nach Nagyfalu in der Wohnung Recskys Halt machten, fühlte ich mich unwohl und ging in ein Zimmer. Moritz war irgendwo anders untergebracht, ich ließ ihn aber zu mir kommen. Nach dem Nachtmahle frug ich den Knaben, ob er wüßte, wohin er transportiert würde. Er erwiderte: ja, nach Nyiregyhaza. Ich sagte nun zu ihm: »Sieh, liebes Kind, du weißt alles, warum gestehst du nicht? die Last des Verbrechens liegt auf deinem Vater, wenn du alles gestehst, wirst du auch deinen Vater befreien.« Moritz antwortete: »Ich möchte ja reden, aber ich trau mich nicht, die Juden ermorden mich, oder mein Vater hängt mich auf.« Ich beruhigte ihn mit der Versicherung, daß der Gerichtshof ihn schützen würde, und da er mir erklärte, er wollte mir alles sagen, frug ich ihn: »Hast du Esther Solymossi gekannt?« Er bejahte, beschrieb ihr Aussehen und ihre Kleidung und erzählte, daß er sie auf Geheiß seines Vaters in die Wohnung gerufen habe, wo sie Leuchter wegstellen sollte. Später sei sie von einem Betteljuden in den Tempel geführt und daselbst ermordet worden. – Ich ging in die Kanzlei des Herrn Recsky, schrieb die Aussage nieder, und ließ sie von Moritz unterzeichnen. Als der Untersuchungsrichter und der Vertreter des Staatsanwalts noch in der gleichen Nacht ankamen, übergab ich ihnen die Niederschrift.

Staatsanwalt: Was hat Sie überhaupt berechtigt, mit dem Knaben ein solches Gespräch zu führen?

Zeuge: Mein Gott, ich wußte, daß der Knabe in Tisza-Eszlár nichts ausgesagt hatte, und da wollte ich etwas aus ihm herausbringen.

Staatsanwalt: Waren Sie denn der Untersuchungsrichter?

Zeuge: Ich habe ja kein regelmäßiges Verhör abgehalten, sondern dem Knaben nur einige Fragen vorgelegt. Erst der Untersuchungsrichter nahm ein ordentliches Protokoll auf.

Staatsanwalt: Welche Fragen haben Sie gestellt? Und was hat Moritz Scharf geantwortet?

Zeuge: Ich fragte Moritz, ob er Esther Solymossi gekannt, und wer sie in die Wohnung seiner Eltern hereingerufen habe.

Staatsanwalt: Woher wußten Sie denn, daß jemand die Esther hereinrufen ließ?

Zeuge: Ich war in Tisza-Eszlár und hörte, wie es mit der Untersuchung stand. Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich das nicht gewußt hätte.

Staatsanwalt: Was antwortete der Knabe?

Zeuge: »Mein Vater ließ sie hereinrufen.«

Staatsanwalt: In den Akten finde ich nicht, daß schon in Tisza-Eszlár die Frage gestellt worden ist, wer das Mädchen in die Wohnung des Tempeldieners Scharf gerufen habe. Wie es scheint, ist diese Frage zuerst von Ihnen gestellt worden.

Zeuge: Ich war ja mit dem Herrn Untersuchungsrichter in Tisza-Eszlár und habe gehört, daß schon dort die Frage an des Knaben Vater gestellt wurde.

Staatsanwalt: In den Akten steht davon nichts.

Angeklagter Joseph Scharf: Es ist himmelschreiend, daß ein alter Mann vor dem Gerichtshofe so lügt! Mich hat kein Mensch am 19., 20. oder 21. Mai in der Untersuchung gefragt, ob ich das Mädchen hereingerufen habe! (Er wandte sich zu Peczely:) Sie, Sie taten dem Knaben Zwang an, Sie haben ihn Lügen gelehrt, Sie waren der erste, der ihn abgerichtet hat!

Präsident: Beleidigen Sie niemand! (Zu Peczely:) Ist es wahr, daß Sie Protokolle unterschrieben, ohne bei den Verhören als Protokollführer tätig gewesen zu sein?

Zeuge: Der Herr Untersuchungsrichter hatte Lust, die Protokolle selbst zu führen, und ich war anderweitig beschäftigt.

Verteidiger Eötvös: Wie alt sind Sie?

Zeuge: Ich habe es gestern bereits gesagt.

Eötvös: Ich bitte, es mir noch einmal zu sagen.

Zeuge: Zweimal antworte ich nicht.

Präsident: Ich bitte, sich solcher unnötigen Fragen zu enthalten.

Eötvös: Ich will an den Zeugen eine Frage richten, welche auf amtlicher Kenntnis gewisser Umstände beruht. Ich war vor fünfzehn bis siebzehn Jahren städtischer Fiskal des veszprimer Komitats. In dieser Eigenschaft erhielt ich eine Zuschrift der Behörde, wonach das Ministerium mehrere Zuchthaussträflinge vor der Verbüßung ihrer vollen Strafe in Freiheit gesetzt habe. Unter denselben befand sich ein Koloman Peczely, welcher wegen eines mit andern in grausamer Weise verübten Mordes zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Er hatte, als er aus dem Zuchthause in Illava entlassen wurde, zwölf Jahre verbüßt, und die Landesbehörden wurden aufgefordert, ihn ebenso wie die übrigen in Freiheit gesetzten Sträflinge streng zu beaufsichtigen. Sind Sie jener Koloman Peczely?

Zeuge: Das geht den Herrn gar nichts an!

Präsident: Der Gerichtshof hatte hiervon keine Kenntnis. Ich kann nur sagen, daß der Zeuge seit 1872 als Diurnist und später als Kanzlist hier verwendet worden ist.

Zeuge: Es schmerzt mich sehr, daß der Gerichtshof mir, einem Zeugen gegenüber, solches gestattet. Es ist nichts weiter als eine niederträchtige Verleumdung.

Eötvös übergibt hierauf dem Präsidenten des Gerichtshofes eine Bescheinigung der Strafanstalt in Illava, welche verlesen wird. Es wird durch dieselbe bewiesen, daß der Zeuge allerdings jener Koloman Peczely ist und wegen Mordes eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren verbüßt hat.

Eötvös (zum Zeugen): Sie haben am 19., 20. und 21. Mai 1882 an der Seite des Untersuchungsrichters Joseph Bary amtlich fungiert. Ist das wahr oder nicht?

Zeuge: Es ist wahr.

Eötvös: Am 21. Mai haben Sie sich krank gemeldet und sind nach Hause beurlaubt worden.

Zeuge: Ja.

Eötvös: Sie begaben sich mit Moritz Scharf am 21. Mai nach Nagyfalu und dann nach Nyiregyhaza.

Zeuge: Ja.

Eötvös: Sie haben aber am 22. Mai 1882 ein in Tisza-Eszlár aufgenommenes Protokoll über die Verhöre der Julie Bathori, des Adolf Junger und vieler anderen Personen unterschrieben, obgleich Sie nicht in Tisza-Eszlár gewesen sind; auch am 24. Mai haben Sie solche Protokolle unterschrieben, obgleich Sie auch an diesem Tage der Vernehmung nicht beigewohnt haben.

Zeuge: Wenn es geschehen ist, so war es ein Versehen; ich habe mich an das Datum nicht mehr erinnert.

Eötvös: Wann haben Sie diese Protokolle unterschrieben?

Zeuge: Das kann ich nicht mehr sagen. Es ist vorgekommen, daß ich nach der Vernehmung, wenn ich oben auf dem Amte war, die Protokolle genommen und zusammen unterschrieben habe.

Eötvös: Alle auf einmal?

Zeuge: Ja.

Eötvös: Ich stelle fest, daß dies ein Mißbrauch der Amtsgewalt ist.

 

Der Sicherheitskommissar Recsky wurde nach Peczely vernommen und schilderte die Weise, auf welche Moritz zum Geständnis gebracht worden war, ganz so wie der vorige Zeuge.

Staatsanwalt: Wo pflegen Sie Ihre Gefangenen in Nagyfalu unterzubringen?

Zeuge: Wir besitzen kein Gefängnis und müssen die Gefangenen deshalb in den Stall einsperren.

Verteidiger Funtak: Haben Sie dem Knaben damit oder mit sonst etwas gedroht, bevor er gestand?

Zeuge: Nein!

Funtak: Aber Moritz Scharf selbst sagt aus, man hätte ihm ewige Gefangenschaft angedroht.

Zeuge: Das kann sein. Wir haben ihm gesagt, wenn er nicht gestünde, würde er in das Gefängnis nach Nyiregyhaza gebracht.

Eötvös: Wie kam es, daß Moritz Scharf dem Untersuchungsrichter gegenüber nichts bekannt hat, daß es aber Peczely gelungen ist, ihn sofort zum Geständnis zu bringen?

Zeuge: Ich weiß es nicht. Sie glauben doch nicht, daß er gefoltert worden ist?

Aber das Dienstpersonal des Sicherheitskommissars Recsky, der Kutscher und das Hausmädchen, die nun vernommen wurden, machten eigentümliche Aussagen. Beide wollen am Fenster gestanden und gehört haben, wie das Verhör mit Moritz Scharf verlief: Anfänglich wollte dieser nichts gestehen, dann aber wurde er von Recsky an den Ohren gerissen, geohrfeigt und dabei fortwährend gefragt: »Wer hat das Mädchen umgebracht, der Bettler oder dein Vater?« Darauf gestand der Knabe, und das Protokoll wurde von Recsky diktiert und von Peczely niedergeschrieben. Als das Hausmädchen im Dorfe erzählte, wie man den Moritz gequält habe, wurde sie, als ihr Herr es erfuhr, auf sein Zimmer beschieden, daselbst von einem Panduren mit der Karbatsche durchgeprügelt und dann davongejagt.

Recsky wandte sich entrüstet gegen diese Darstellung. Die beiden Zeugen seien von den Juden erkauft und hätten falsches Zeugnis abgelegt. Moritz Scharf schrie ihnen zu: »Das ist nicht wahr! niemand hat mich auch nur mit einem Finger angerührt! Wie können Sie behaupten, daß man mir etwas zuleide getan hat?«

Festzustellen, ob Moritz freiwillig ein Geständnis abgelegt oder nicht, war jetzt die wichtigste Aufgabe des Gerichtes. Es wurde drum, dem Antrag des Staatsanwalts entsprechend, der Detektiv Barcza aus Debreczin vernommen. Seine Aussage ging dahin: Er habe in einer Zeitung gelesen, man mache dafür, daß der Fall der Esther Solymossi nicht aufgeklärt werde, die Polizei verantwortlich. Das veranlaßte ihn, seinen Vorgesetzten um Urlaub zu bitten. Er traute sich zu, in vierzehn Tagen den Fall klarzustellen und den Mörder zu fassen. »Wie aber,« frug ihn sein Chef, »wenn die Juden das Mädchen gar nicht umgebracht haben?« – »Dann habe ich nicht weiter zu suchen,« antwortete Barcza, »dann ist das Mädchen ins Wasser gefallen.« – Er machte sich auf den Weg nach Tisza-Eszlár, sprach mit der Mutter und der Dienstherrschaft des verschwundenen Mädchens, knüpfte Bekanntschaft an mit dem Kastellan Henter, bei welchem Moritz Scharf jetzt wohnte, und kam so dazu, auch mit dem Knaben zu sprechen.

Folgendermaßen stellte dann Barcza eine bedeutungsvolle Unterhaltung zwischen sich und Moritz dar:

Als ich einmal mit Henter redete, sagte mir Moritz, er liebe mich wie einen Bruder. Ich verlangte Beweise dafür, worauf er fragte, was er tun solle. Ich teilte ihm mit, daß ich wegen der Esther hier sei, er solle sich nicht fürchten und mir die Wahrheit sagen; es sei ja niemand im Zimmer als er, ich und Henter. »Nun,« sprach Moritz, »ich hörte einen Lärm, ging hin und sah, daß die Esther im Tempel von den Juden ermordet wurde. Sie hatte ein rotes Kleid an.« Henter fragte rasch: »War sie nicht im bloßen Hemd?« – »O ja,« sagte Moritz, »sie war im bloßen Hemd. Ich sah, wie man ihr den Hals durchschnitt. Ich bin nicht erschrocken. Wer sie hielt, weiß ich nicht.« Das Benehmen von Henter machte mich stutzig; ich sagte Moritz: »Ich weiß, daß du Verstand hast: du redest nicht die Wahrheit und weißt doch, daß Gott den Lügner bestraft. Erzähle die Sache, wie sie war!« Nun sagte Moritz: » Wenn ich die Wahrheit sagen soll – ich habe nichts gesehen!« – »Warum hast du bis jetzt gesagt, daß du es gesehen hast? hat man dich geschlagen?« – »Geschlagen nicht, aber an den Ohren gezogen. Und Herr Peczely sagte mir, wenn ich nicht erzähle, was ich gesehen habe, komme ich in den Kerker; andernfalls könne ich nach Hause gehen.«

Daraufhin – fuhr Barcza fort – benachrichtigte ich den Oberstaatsanwalt, der mir die Weisung gab, von Peczely etwas herauszubringen. Ich suchte diesen auf, angeblich wegen eines Pferdediebstahls, brachte das Gespräch dann auf die Eszlárer Geschichte und äußerte, daß ich nicht an die Verurteilung der Juden glaubte. Peczely antwortete: »Die Sache ist schon verpfuscht; ich weiß nicht, warum der Untersuchungsrichter Bary mich übergangen hat, wo ich doch das Geständnis aus Moritz herauspreßte!« Nun fragte ich ihn, wie er das fertig gebracht hätte. Er erzählte: als Moritz sich niederlegte, habe er ihn gefragt, ob er wisse, wo er morgen übernachten werde. »Du wirst im Kerker übernachten, und dort wirst du verfaulen, wenn du nichts gestehst!« Darauf endlich sei der Knabe mürbe geworden.

 

Die Aussage Barczas wurde von dem Publikum mit tobendem Lärm, mit Zischen und höhnischem Lachen aufgenommen.

Der Zeuge wurde vom Präsidenten nun einem scharfen Verhör unterzogen, man hielt ihm vor, es sei ein Telegramm eingelaufen, wonach er von den Juden bestochen sei.

Barcza: Das ist eine niederträchtige Infamie!

Verteidiger Heumann: Wer hat das Telegramm unterschrieben?

Der Präsident verlas zwei Namen.

Barcza: Das sind die Schergen des Untersuchungsrichters Bary!

Präsident: Wer beauftragte Sie, sich mit der Sache zu beschäftigen?

Barcza: Der Oberstaatsanwalt und das Ministerium des Inneren.

Präsident: Hatten Sie eine schriftliche Legitimation?

Barcza: Nein, nur eine mündliche.

Staatsanwalt: Ich weiß, daß der Detektiv Barcza von dem Oberstaatsanwalt Auftrag erhalten hat. Ich selbst habe mit ihm wegen dieser Angelegenheit unterhandelt.

Man stellte nun Moritz Scharf dem Zeugen gegenüber, und Barcza befragte ihn.

Barcza: Kennst du mich?

Moritz Scharf: Ja!

Barcza: War ich oft bei Henter?

Moritz Scharf: Ja!

Barcza: Hast du mir ein Geständnis abgelegt?

Moritz Scharf (zögernd): Ja!

Barcza: Hast du damals gesagt, daß an deiner Erzählung vor dem Untersuchungsrichter kein wahres Wort sei?

Moritz Scharf: Ja, aber ich sagte es nur, weil mir Henter befohlen hatte, nichts mehr über die Sache zu erzählen.

Der Kastellan Henter bestätigt, daß Barcza, den er im vorigen Winter kennen gelernt, öfters bei ihm gewesen ist, mit Moritz Scharf ein Verhör angestellt und Notizen darüber aufgeschrieben habe. Allein er will nicht gehört haben, daß Moritz Scharf bei dieser Gelegenheit äußerte: »Wenn ich die Wahrheit sprechen darf, so habe ich gar nichts gesehen,« vielmehr habe der Knabe sich so ausgedrückt: »Wenn Sie mir nicht glauben, so habe ich nichts gesehen.«

Barcza: Denken Sie daran, daß Sie einen Eid ablegen müssen!

Henter: Was ich sage, ist wahr, ich beschwöre es!

Barcza: Es ist unwahr!

Henter: Ja, mich hat Barcza auch bestechen wollen. Er sprach wiederholt davon, daß wir beide glücklich werden könnten.

Das Publikum nahm diese, Barcza verdächtigenden Äußerungen mit den lebhaftesten Zeichen der Genugtuung auf.

Präsident: Ist das wahr?

Barcza: Allerdings habe ich ihm Geld in Aussicht gestellt. Ich wußte, daß 5000 fl. für die Auffindung des verschwundenen Mädchens ausgesetzt worden waren; hätten wir den Fall aufgeklärt, so würde Henter die Hälfte davon, also 2500 fl. bekommen haben.

Präsident (zu Henter): Hat Barcza von einer bestimmten Summe mit Ihnen gesprochen?

Henter: Nein, ganz sicher nicht, er hat nur gesagt, wir könnten beide glücklich werden.

Verteidiger Friedmann: Woher wußten Sie denn, daß von Geld die Rede war?

Henter: Es kann nichts anderes gemeint gewesen sein.

Verteidiger Eötvös: Wohnt Moritz bei Ihnen?

Henter: Ja!

Eötvös: Wer hat Ihnen befohlen, den Knaben aufzunehmen?

Henter: Der Vizegespan.

Eötvös: Bewachten Sie Moritz?

Henter: Ja, ich sorgte dafür, daß ohne mein Vorwissen niemand zu ihm kam und mit ihm sprach.

Eötvös: Wie benimmt sich Moritz?

Henter: Er gibt zu keiner Klage Anlaß. Er hat oft gesagt: »Was zum Teufel brauche ich noch Jude zu sein!« Er betet jetzt nicht mehr die jüdischen Gebete.

Eötvös: Wer hat mit dem Knaben gesprochen?

Henter: Es haben viele Menschen mit ihm gesprochen, die in den Hof des Komitathauses kamen: Knaben, Kaufleute und andere. Der Hof steht offen, es kann eintreten, wer Lust hat. Ich war aber immer zugegen, allein durfte niemand mit ihm reden.

Eötvös: Es sind auch Verwandte gekommen, seine Großmutter, seine Stiefmutter, weshalb ließen Sie dieselben nicht zu dem Knaben?

Henter: Weil es mir der Vizegespan verboten hatte.

Eötvös: Wußten Sie, daß dies ungesetzlich ist?

Henter: Ich tue, was der Vizegespan befiehlt, ich habe zu gehorchen.

 

Der Hausknecht Bobak, der bei Henter dient, hat den Detektiv Barcza oft gesehen und sagt aus, Barcza habe ihm Geld geboten, wenn er den Moritz Scharf zu einer anderen Aussage bestimmen könne.

Barcza erklärt die Anschuldigung Bobaks für eine Lüge. Als ihm der Gerichtskanzlist Koloman Peczely zuruft, er solle sich schämen, gerät Barcza in Zorn und erwidert in heftigem Tone: »Mich, einen Mann, der seit vierundzwanzig Jahren im Staatsdienste steht, den niemals der geringste Makel getroffen hat, wagen Sie zu beleidigen? – Ich schwöre, daß meine Aussage richtig ist!« – Auf Unbefangene hatte sein Auftreten einen besseren Eindruck gemacht, als das seiner Gegner.

 

Die Eltern von Moritz und dieser selbst wurden am selben Tage noch über einige Nebenumstände vernommen. Dabei wandte sich Joseph Scharf noch einmal an seinen Sohn mit der eindringlichen Mahnung, doch die Wahrheit zu gestehen. Er fragte ihn, wer ihn gelehrt habe, wie er aussagen solle.

Moritz: Niemand. Ich habe freiwillig ausgesagt.

Joseph Scharf: Peczely, nur Peczely hat dich dressiert! – Was ist die Ursache, daß du den jüdischen Glauben verlassen willst? Warum ist er dir so verhaßt geworden?

Moritz: Ich will kein Jude sein! Seitdem ich im Komitatshause bin, weiß ich, daß in Ungarn die Juden verabscheut sind. Darum will ich auch nicht Jude bleiben!

Ein Widerruf seines Geständnisses war nicht aus ihm herauszulocken. Auf Befragen gab er zu, daß ihm der Kastellan Henter nur antisemitische Zeitungen zu lesen gebe; und sein ganzes Verhalten vor Gericht bekundete, daß er offensichtlich unter einem fremden, seinen Eltern und Glaubensgenossen feindseligen Einfluß stand.

 

Bestimmtes war auf direktem Wege – durch Befragen der Zeugen und Angeklagten – nicht zu ermitteln. So schritt man zur Vernehmung der Sachverständigen, die bekunden sollten, ob die bei Tisza-Dada aufgefundene Leiche die der Esther Solymossi gewesen sein könne. Die Ärzte, welche die erste Untersuchung vorgenommen hatten und dabei zur Erkenntnis gekommen waren, die Leiche des Mädchens, die man in der Theiß aufgefischt, gehöre einer viel älteren Person an, als der Vermißten, blieben bei ihrer Aussage. Einer von ihnen, der Doktor Horvath, war so fest davon überzeugt, die wirkliche Esther Solymossi sei von den Juden abgeschlachtet worden, daß er bei seiner Vernehmung in die erschütterten Worte ausbrach: »Es ist schade um die arme Esther, das liebe Kind! Ein Aderlaß hätte ja genügt. Man brauchte sie doch nicht gleich umzubringen!« Ihm und seinem Kollegen aus Tisza-Eszlár traten aber mit aller Entschiedenheit drei Professoren der Universität Budapest entgegen, die darlegten, die Leiche sei bestimmt keine andere, als die eines etwa fünfzehnjährigen Mädchens; sie wiesen auch auf die Unmöglichkeit hin, eine Leiche, die einige Zeit im Wasser gelegen, zu bekleiden, ohne die Oberhaut zu verletzen: irgendeine Verwundung aber sei an der Toten nicht wahrgenommen worden.

Ein noch bedeutsameres Gutachten gaben die Professoren über einen anderen Umstand ab. Sie erklärten, falls Esther wirklich von den Juden getötet worden wäre, hätte der Mord unmöglich auf die von Moritz angegebene Weise geschehen können: Beim Durchschneiden der Halsadern spritzt das Blut – Moritz wollte gesehen haben, daß es langsam geflossen sei. Außerdem hätte Moritz unbedingt Blutspuren bemerken müssen, als er nach dem Morde in den Tempel trat, denn diese ließen sich nicht so schnell vernichten.

 

Da die Ärzte aus Tisza-Eszlár bei ihrer Ansicht beharrten, die aufgefundene Leiche sei nicht die der Esther, und sich darauf beriefen, daß die Witwe Solymossi ihr Kind in der Toten nicht habe erkennen können, wurden jetzt die Juden vernommen, welche unter Beschuldigung der Leichenunterschiebung vor Gericht standen.

Amsel Vogel sagte aus: An dem Tage, an welchem ich dem Angeklagten Smilovics eine Leiche übergeben haben soll, bin ich gar nicht mit ihm zusammen gewesen. Smilovics hat es zwar vor dem Untersuchungsrichter in meiner Gegenwart behauptet, aber es ist nicht wahr, ich weiß von der ganzen Sache gar nichts.

Als ich ihm in Tisza-Eszlár gegenübergestellt wurde, hat mich der Untersuchungsrichter Bary geohrfeigt, weil ich die Aussagen von Smilovics für erlogen erklärte. Ein anderes Mal schrie mich der Richter an: »Rede die Wahrheit!« und ließ Wasser bringen. Ich mußte einen Krug nach dem anderen trinken, und Bary gab mir wiederum Ohrfeigen. Da ich nichts gestand, verließ er das Zimmer, der Sicherheitskommissar Vay trat ein und eröffnete mir, er habe den Auftrag, mich so lange prügeln zu lassen, bis ich die Wahrheit sagte. Er schlug mich dreimal an den Kopf, ich mußte nochmals Wasser trinken, und er drohte mir: »Sage die Wahrheit, Jude, sonst prügele ich dich tot!« Ich wußte nichts von der Leiche und konnte darum auch nichts bekennen. Nun wurden mir von zwei Männern die Hände auf den Rücken gebunden und die Kleider ausgezogen. Ich mußte mich nackt auf Stroh legen. Man drohte mir, wenn ich nicht gestünde, sollte ich an den Beinen in die Höhe gezogen werden. Ich bin dann in einen ekelhaften Stall eingesperrt worden und habe stundenlang vor einem Wagen herlaufen müssen, bis ich endlich zusammenbrach; darauf hat man mich in ein anderes Dorf transportiert und in strenger Einzelhaft gehalten. Dann wurde ich wieder verhört und wieder Smilovics gegenübergestellt. Er wußte den Tag unseres Zusammentreffens nicht anzugeben, da führte ihn der Untersuchungsrichter in ein anderes Zimmer, und als er zurückkam, wußte er den Tag.

 

Nach Vogel wurde der Angeklagte Smilovics vernommen. Er hatte in der Voruntersuchung bekannt, daß er die Leiche, welche ihm Martin Groß und Ignaz Klein im Auftrag von Vogel brachten, dem Flößer Herschko übergeben habe, damit der sie die Theiß hinabschwemme. Jetzt widerrief er sein Geständnis und begründete seine frühere Aussage damit: er habe gefürchtet, ebenso gefoltert zu werden wie Amsel Vogel.

Staatsanwalt: Es ist doch sonderbar, daß Sie jetzt auf einmal die ganze Geschichte erfunden haben wollen.

Smilovics: Ich redete nur so in den Tag hinein.

Staatsanwalt: Wie kommt es denn aber, daß Herschko den Vorgang ebenso erzählt hat? Es können doch nicht zwei Personen, die nicht zusammengekommen, sondern getrennt voneinander in Haft gehalten worden sind, dieselbe Geschichte erdichten?

Smilovics: Ich bin ein Bauer und habe nichts gelernt. Ich wurde bedroht und hatte Angst, da habe ich ausgesagt, was man von mir verlangte.

Staatsanwalt: Wie ist es aber möglich, daß Sie die Angeklagten Groß und Klein als diejenigen bezeichneten, welche die Leiche auf einen Wagen gebracht haben?

Smilovics: Hinter mir standen der Sicherheitskommissar Vay und der Pandur Kasimir.

Staatsanwalt: Diese sagten also, daß Sie Groß und Klein angeben sollten?

Smilovics: Wen hätte ich denn sonst nennen sollen? Groß und Klein wurden vor mich hingestellt. Ich dachte mir, sie würden sich schon rechtfertigen. Ich konnte doch nicht gegen alle aussagen, da nahm ich die beiden ersten, die dastanden.

Eötvös: Wie oft wurden Sie verhört?

Smilovics: Der Untersuchungsrichter war wohl fünfzigmal bei mir, bei Tag und bei Nacht.

Verteidiger Friedmann: Woher wußten Sie denn die Namen der Leute, gegen die Sie ausgesagt haben?

Smilovics: Der Untersuchungsrichter fragte: »War die Sache so und so?« und ich antwortete: »Ja, es war so.« Woher hätte ich es sonst wissen sollen?

Eötvös: Der Staatsanwalt Egressy Nagy hat öffentlich erklärt, der Untersuchungsrichter Bary habe sich nachts so lange in den Gefängnissen aufgehalten, bis er ihn habe von dort fortschaffen lassen.

 

Der Angeklagte Herschko, der jetzt verhört wird, zieht sein in der Voruntersuchung gemachtes Geständnis, wonach Smilovics den Leichnam ihm und dem Flößer Mathej übergeben habe, ebenfalls zurück:

Ich habe den Jankel Smilovics nicht gekannt und nie mit ihm gesprochen. Als man mich ins Gefängnis brachte, wurde ich auf eine Bank gelegt und geschlagen, gequält und gefoltert. Es waren vier Personen dabei: der Untersuchungsrichter, ein Staatsanwalt, der Sicherheitskommissar und der Pandur. Zuerst schlug mich der Sicherheitskommissar mit der Faust auf den Kopf und schrie: »Gestehe!« Ich sagte, ich wüßte nichts, darauf wurde ich mit Stricken angebunden und in einem fort zum Wassertrinken gezwungen. Der Flößer Mathej wurde mir gegenübergestellt und erzählte, was mit der Leiche geschehen sein sollte, da habe ich am Ende zu allem Ja gesagt. Es wurde ein Protokoll niedergeschrieben und vorgelesen, und ich unterschrieb, obgleich ich nichts davon verstand, denn das Protokoll wurde in ungarischer Sprache, die ich nicht kenne, aufgenommen und vorgelesen.

 

Präsident: Sie haben Ihr Geständnis auch in Nyiregyhaza vor dem Untersuchungsrichter wiederholt?

Herschko: Hier wurde ich nicht gefoltert, aber der Untersuchungsrichter schimpfte mich »Tier« und »Rindvieh«, er drohte mir, daß ich ins Unglück kommen würde, und da sagte ich, was er befahl.

Präsident: Aber Sie haben auch später noch Ihr Geständnis wiederholt!

Herschko: Ja, weil mich der Untersuchungsrichter vorher zu sich rief und mich ängstigte.

 

Aber der Flößer Mathey, der jetzt als Zeuge verhört wurde, blieb dabei, daß Herschko die Leiche von Smilovics empfangen und an sein, des Mathej, Floß angebunden, ihn auch gebeten habe, keinem Menschen etwas zu sagen, dann werde er viel Geld bekommen. Er gab an, in der Nähe von Tisza-Eszlár habe eine Jüdin Kleider gebracht, Herschko habe sie der Leiche mit seiner Hilfe angezogen und an die Hand ein Tuch gebunden, in welchem sich Farbe befand.

Herschko erklärte die Aussage des Zeugen für erlogen; und es wurde festgestellt, daß Mathej bei seinem ersten Verhör jede Mitwisserschaft in Abrede gestellt, späterhin gestanden, dann aber wiederum unter Eid versichert hatte, die angeklagten Flößer seien unschuldig, und die ganze Geschichte von der Leichenunterschiebung sei unwahr.

Eine sehr erregte Szene spielte sich ab, als der Verteidiger Eötvös nach dem Verhör des Angeklagten Herschko das Wort nahm und erklärte: Es werden hier planmäßig Zeugen angeworben und abgerichtet, um gegen die Juden auszusagen und die für sie günstigen Resultate der Beweiserhebung wieder umzustoßen. Ich bitte deshalb den Herrn Präsidenten, dafür zu sorgen, daß die Zeugen abgesondert in ihrem Zimmer bleiben und nicht an der Saaltür lauschen können, daß überhaupt kein Verkehr zwischen dem Publikum und den Zeugen stattfindet. – Und indem er sich gegen das lärmende Publikum wandte, fuhr er mit erhobener Stimme fort: Es handelt sich hier um Leben und Tod, um den Frieden und die Ruhe einer Religionsgenossenschaft, deshalb nehme ich von dem Publikum keine Weisungen an!

Die Angeklagten Groß und Klein versicherten ihre völlige Schuldlosigkeit: Nachdem Smilovics angefangen hatte, zu gestehen, wurden ein Dutzend Juden zusammengetrieben, vor dem Gemeindehause in Tisza-Eszlár in Reih' und Glied aufgestellt, und an Jankel Smilovics erging die Aufforderung, die zwei Leute herauszusuchen, welche ihm die Leiche übergeben hätten. Er hatte aufs Geratewohl, nur um nicht weiter gequält zu werden, Klein und Groß herausgegriffen, Klein, weil er zufällig der Flügelmann war, Groß, weil er neben Klein stand. In seinem ganzen Leben hatte er vorher keinen von beiden gesehen, er hätte ebensogut die zwei letzten in der Front wählen können.

Martin Groß beschuldigte den bekannten Führer der Antisemitenpartei, den Abgeordneten Onody, Hand in Hand mit dem Untersuchungsrichter zu arbeiten, und den letzteren, lediglich auf Onodys Veranlassung Verhaftungen angeordnet zu haben.

Ignaz Klein gab an, der Untersuchungsrichter habe ihn »Judenhund« genannt, man habe eine Waffe gegen ihn gezückt, ihn gezwungen, drei Liter Wasser zu trinken, und als er noch immer nicht gestehen wollte, ihn geprügelt, bis er zusammenbrach und rief: »Befehlt nur, was ich aussagen soll, ich will alles sagen!« Groß und Klein beschuldigen auch den Gefängniswärter Kowancsay, sich bei den Mißhandlungen beteiligt und wiederholt geäußert zu haben: »Ihr Judenhunde seid keine Menschen!« »Ich werde euch Judenhunde an den Galgen bringen!« Klein erinnert den Gefängniswärter daran, daß der Abgeordnete Onody ihm zugerufen habe: »Jagt diese Judenhunde an meinem Schloß vorüber, damit meine Frau und mein Gesinde eine Freude haben!«

 

Im Laufe der Verhandlungen trat nun auch ein Zeuge auf, dessen Aussage es erklärte, wie Mathej dazu gekommen war, seine erste Angabe zurückzunehmen und die Leichenunterschiebung zu gestehen. Der Pandur Kasimir, welcher früher im Dienste des wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt inzwischen entlassenen Sicherheitskommissars Vay gestanden hatte, beschwor: Mathej habe anfänglich nicht bekannt, da habe er ihn auf Befehl des Sicherheitskommissars so lange mit einem Stocke auf die Fußsohlen gehauen, bis er alles erzählte, was man hören wollte. Einmal habe Vay den Mathej auch auf die Bank legen und ihm die Daumen mit Schrauben zusammenpressen lassen, bis er »die Wahrheit« sagte. Vay und Mathej selbst bestreiten dies. Die Angeklagten Herschko, Vogel und Klein aber sagen dem ehemaligen Sicherheitskommissar ins Gesicht, daß er sie gefoltert habe.

 

Die Verhandlungen nahten dem Ende. Das Gericht mußte sich über eine entscheidende Frage schlüssig werden: ob Moritz Scharf nachträglich für seine Aussagen zu vereidigen sei. Als die Richter sich zur Beratung hierüber zurückzogen, sprang Joseph Scharf, kaum seiner Sinne mächtig, mit blutrotem Gesichte auf, rang die Hände, griff sich an den Kopf und schrie laut in den Saal: »Man hat mir mein Kind gestohlen, es im Lügen unterrichtet, was wird aus dem Buben werden?!« Und sich an Moritz wendend, der mit abgewandtem Gesichte dastand, rief er: »Sie werden dir Gift ins Essen geben, damit du stirbst und sie dich loswerden; deine Seele haben sie bereits gemordet, nun kannst du dein Werk vollenden und beim lebendigen Gott deine Lügen beschwören! Wahrhaftig, du wirst keinen Lohn dafür finden, denn nach der Seele werden sie deinen Leib morden! O Gott! was wird aus meinem Kinde werden!« In kurzen abgebrochenen Worten mit heiserer Stimme stieß er die Sätze heraus, ein furchtbarer Krampf schien ihn zu durchschüttern, dann brach er zusammen und bat: »Führt mich hinaus, ich halte es hier nicht aus.« Schwankenden Schritts, schwere Schweißtropfen auf der Stirn, so verließ er den Saal. Moritz blieb an den Schranken vor dem Gerichtstische stehen, auf die er mit den Fingern trommelte, und gähnte.

Nach anderthalb Stunden kehrte das Gericht aus dem Beratungszimmer zurück, und der Vorsitzende verlas einen Beschluß, demzufolge Moritz Scharf nicht vereidigt werden sollte: offensichtlich hasse er seinen Vater und seine Glaubensgenossen; außerdem habe er sich in verschiedene Widersprüche verwickelt.

 

Durch diese Gerichtsentscheidung war das Ergebnis des Prozesses vorausbestimmt.

 

Der Staatsanwalt, der schon während der Verhandlungen deutlich bekundet hatte, daß er an eine Schuld der Angeklagten nicht glaube, beantragte deren Freisprechung.

An den folgenden Tagen sprachen die verschiedenen Verteidiger der einzelnen Angeklagten, am wirksamsten der in Ungarn auch als Politiker und Schriftsteller angesehene Eötvös. Er mühte sich in erster Linie, die Methode des Untersuchungsrichters bloßzustellen.

In seiner Rede heißt es:

Die Voruntersuchung geht von einer durchaus falschen Basis aus, von der Hypothese des Ritualmordes, und von jener zweiten, wonach eine Leichenunterschiebung stattgefunden habe, um die Anklage des rituellen Mordes zu zerstören. Der Untersuchungsrichter hat sich in diese seine Hypothese förmlich verrannt; was mit derselben nicht übereinstimmt, das beachtet er nicht, dagegen leiht er bereitwillig den gröbsten Verdächtigungen und den lächerlichsten Denunziationen sein Ohr. Dafür nur etliche Beispiele:

Aus Budapest erhält der Untersuchungsrichter per Post das Rezept, wie die Osterbrote mit dem Blute christlicher Jungfrauen zubereitet werden müssen. Dieses bei den Akten befindliche Schriftstück lautet so:

Die Bereitung des Ostermehles geschieht mit Hilfe des getrockneten Blutes unschuldiger christlicher Jungfrauen. Es werden Jungfrauen gewählt, denn im Talmud heißt es: »Zapfe der Besten unter den ketzerischen Christen das Blut ab.« Die Anwesenden nehmen vom Blute mit nach Hause, um damit die Mauer nächst der Schwelle zu bespritzen, was das Ansehen der Juden fördern soll. Das Opfer wird in Stücke geschnitten, und jeder Anwesende hat die Pflicht, je ein Stück zu vergraben oder auf andere Weise zu verbergen.

Solche Dinge wurden dem Herrn Untersuchungsrichter zugeschickt. Und der Untersuchungsrichter schrieb gewissenhaft auf jedes dieser Schriftstücke: »Wird behufs Berücksichtigung den Akten beigelegt.« Er nahm die Sache ernst; denn in einem seiner Bescheide heißt es ausdrücklich: »Es wird immer klarer, daß auch die Leiche der Esther Solymossi in Stücke geschnitten und an verschiedenen Orten vergraben wurde.«

Woraus folgerte er, daß die Zerstückelung der Leiche immer wahrscheinlicher werde? Gab es jemand, der zusah, als sie vorgenommen wurde? Nein. Wurde ein Stück der Leiche gefunden? Nein. Womit begründete also der Untersuchungsrichter seine Annahme, daß die Leiche zerstückelt worden sei? Nun, da lag ja das Rezept, wonach das Opfer zerstückelt wird und »jeder der Anwesenden je ein Stück desselben zu vergraben hat«.

In einem anonymen Briefe wird behauptet, die Leiche des ermordeten Mädchens sei in einem Weinfasse verborgen, welches im Keller des Schächters von Tisza-Eszlár liege. Man begibt sich in das fragliche Haus, aber dasselbe hat keinen Keller. Man sucht ein Haus mit einem Keller und wählt das Haus des Juden Süßmann, allein da findet sich nun die Leiche nicht!

Es läuft aus Marmaros-Sziget eine Anzeige ein wider zwei jüdische Millionäre und einen Rabbiner; aus Österreich meldet ein frommer Mann, in Groß-Pavlovicz sei im vorigen Jahrhundert ein christliches Mädchen verschwunden, ob der Untersuchungsrichter von Nyiregyhaza nicht auch diesen Fall aufklären wolle?

Ein anderer glaubenseifriger Mann schreibt, im Judentempel von Nyiregyhaza sei ein Kind eingemauert, man solle nur den Tempel abtragen!

Die Juden von Zsupa und anderen Orten werden brieflich denunziert; die Leiche soll im Garten eines Rabbiners vergraben sein – kurz, wer nur immer einen Groll oder Verdacht auf die Juden hegt, findet sich bewogen, mit dem Untersuchungsrichter zu korrespondieren, und dieser reagiert jedesmal.

Die Juden in Ungarn werden da und dort unter Polizeiaufsicht gestellt und verhaftet, wenn sie ihr Alibi nicht nachweisen können ...

Der Zeuge Moritz Scharf ist der Kronzeuge, auf den sich die Anklage stützt. Ich beschuldige nicht das Komitat, diesen Zeugen abgerichtet zu haben, aber ich behaupte, es gibt in diesem Komitat einige Beamte, die sich seine Abrichtung zur Aufgabe gemacht haben. Ein Kind kann man abrichten wie ein Pferd. Durch Furcht und Schrecken wird es zu einer Aussage gezwungen und später durch Lob darin bestärkt; man flößt ihm Abscheu vor seiner Religion, Haß gegen seine Eltern ein: so ist der Knabe geworden, was wir hier gesehen haben, ein Werkzeug des Antisemitismus. Eine Sache aber, die im Bunde mit der Lüge, der Leidenschaft und der Ungesetzlichkeit kämpft, kann in der ungarischen Nation und ihrem Richterstande nicht siegen ...

 

Am dritten August 1883 wurde das Urteil verkündet: es sprach sämtliche Angeklagte frei. Moritz wurde wieder seinem Vater übergeben.

Der Spruch wurde in Ungarn auf dem platten Lande mit geringer Begeisterung aufgenommen. An einzelnen Orten kam es zu neuen Judenverfolgungen.


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