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Die gestohlene Feder.

Kam ein Mönch vom heil'gen Land
Aller Schuld entledigt;
Wo er fromme Seelen fand,
Hielt er eine Predigt.
Seinem Wort mit Herz und Ohr
Lauschte gläubig jeder.
Schliesslich zog der Mönch hervor
Eine bunte Feder.
»Liebe Christen«, sprach er fromm,
»Wer sie küssen will, der komm'!
Wer sie küsst, an Leib und Seel'
Wird wie neu geboren,
Denn der Engel Gabriel
Hat sie einst verloren,
Ueber's Meer von Nazareth
Bracht' ich sie herüber.
Wem der Sinn auf Gnade steht,
Zahle einen Stüber.«
Und sie kamen gross und klein,
Und des Mönches Opferschrein
Quoll von Silber über.
Leider giebt es auf der Welt
Niederträcht'ge Seelen,
Die, was ihnen wohlgefällt,
Wenn sie können, stehlen. –
Einer, dem in's Auge fiel
Lockend das Mirakel,
Stahl den heil'gen Federkiel
Aus dem Tabernakel,
Und in den Reliquienschrein,
Den er frech bestohlen,
Schloss er, was kann schlechter sein? –
Schnöde Ofenkohlen.

Als der Mönch am Tag darauf
Segen mild ertheilte,
Und der glaubensstarke Hauf
Nach der Feder eilte –
Wie das rothe Blut ihm da
Wich aus dem Geäder,
Als er schwarze Kohlen sah
Statt der Engelfeder.
Doch er sprach geschwind gefasst:
»Ei, wie ist's geschehen,
Dass ich mich in Eil' und Hast
Also hab' versehen,
Dass ich heut aus meinem Kram
Mit die heil'gen Kohlen nahm?
Aber Gnade wird zu Theil
Euch darum nicht minder.
Kommt und schaut zu eurem Heil,
Männer, Weiber, Kinder!
Diese Kohlen, reichen Trost
Spenden sie und Segen,
Denn Sankt Lorenz auf dem Rost
Drüber ist gelegen.
Kommt und lasst das Angesicht
Euch damit bestreichen.
Wer das Feuer und das Licht
Meidet, der verbrennt sich nicht
Unter diesem Zeichen.«

Um die Kohlen drängten sich
Männer, Weiber, Dirnen,
und der schlaue Mönch bestrich
Allem Volk die Stirnen.
Manchen blanken Groschen ein
Strich der Vagabundus. –
Welt, du willst betrogen sein!
Decipi vult mundus.


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