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Das Schneekind.

Ein Kaufmann zog auf Reisen aus
Und liess ein junges Weib zu Haus.
So schön war keine zweite nicht
An Farbe, Wuchs und Angesicht,
Doch sonst war nichts an ihr zu preisen. –
Vier Jahre blieb der Mann auf Reisen;
Da kam er endlich angefahren
Mit reichem Gut und seltnen Waaren
Und dachte nun den Segen
Zu mehren und zu hegen
Und an der schönen Frauen
Sein Herze zu erbauen.
Das Weib ihn minniglich empfing.
An ihrer Seite aber ging
Ein Knäblein zierlich von Gestalt,
Zwei Jahre und darüber alt.
Der Kaufmann frug: »Wess ist dies Kind?«
Da sprach das schöne Weib geschwind:
Dieweil du Trauter fern gewesen,
Bin ich des zarten Kinds genesen.
Vernimm auch, wie das zugegangen:
Ich trug nach dir ein süss Verlangen
Und ass zur Lindrung meinem Weh
Im Gärtlein eine Handvoll Schnee
Und dachte dein in heisser Gluth.
Da ward so selig mir zu Muth,
Als kost' ich meinen lieben Mann,
Davon ich diesen Sohn gewann.
Wie schmuck er ist – sieh ihn nur an –
Wie rosenfarb und wohlgethan,
Und das Gesicht des Kleinen
Gleicht auf ein Haar dem deinen.«

Der Kaufmann schwieg und liess das Kind
Verpflegen durch das Ingesind.
Und als der Knab zu Jahren kam,
Er selbst ihn in die Lehre nahm
Und wies ihm, wie man Falken trägt,
Mit Hunden jagt und Laute schlägt,
Schachzabel zieht und singt und geigt,
Klug redet und bescheiden schweigt.
So war der Knab mit vierzehn Jahren
In aller Kurzweil wohl erfahren.

Drauf rüstete nach Krämerweise
Der Kaufmann sich zu einer Reise,
Nahm Urlaub von der Frau und schritt
Zu Schiff. Das Schneekind nahm er mit.
Und als er kam in's Morgenland,
Er einen Sklavenhändler fand.
Der sah den Knaben schön und stark
Und bot für ihn zweihundert Mark.
Das schien dem Kaufherrn reicher Lohn,
Drum schlug er los des Schneees Sohn
Und segelte von hinnen
Mit sehr vergnügten Sinnen.

Daheim auf seiner Schwelle stand
Die Frau und grüsste mit der Hand
Und rief ihm zu: »Sag' an geschwind,
Wo hast du unser liebes Kind?«
»Ach Traute«, sprach er, »denk dir nur,
Als über's wilde Meer ich fuhr,
Da war die Luft so glühend heiss;
Davon zerschmolz das Kind wie Eis;
Es ist im Brand der Sonnen
In Wasser ganz zerronnen.«

Den heiss' ich einen klugen Mann,
Der Lug mit Lug vergelten kann.


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