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Der Stein des Virgilius.

Ein weiser Meister war Virgil,
Ein Zaubrer auserkoren;
Von seinen Künsten melden viel
Die heidnischen Skriptoren.
Es gab von seiner Meisterhand
Ein steinern Mannsbild Kunde.
Dasselbige am Markte stand
Zu Rom mit offnem Munde,
Und wer von Eid und Treue liess
Und hatte falsch geschworen
Und in den Mund die Rechte stiess,
Dem ging die Hand verloren;
Das Zauberbild mit einem Biss
Die Rechte ihm vom Arme riss.

Nun sass zu Rom in jener Zeit
Ein Kaiser hoch an Jahren,
Und Einer, der im Alter freit,
Kann mancherlei erfahren.
Man trug ihm eine Märe hin,
Die ihn gewaltig schmerzte,
Die Märe, dass die Kaiserin
Ein junger Ritter herzte.
Da sprach der Kaiser voll Verdruss:
»Zum Eid will ich sie zwingen.
Der Zauber des Virgilius
Soll mir Gewissheit bringen.«
Die schöne Frau war gleich bereit
Und sprach: »Ich schwöre jeden Eid.«

Es zogen nach dem Steine hin
Am festgesetzten Tage
Der Kaiser und die Kaiserin
Mit ihrem Hofgelage.
Und als sie vor dem Bilde stand,
Da kam herbei gelaufen
Ein Narr im scheckigen Gewand
Und theilte flugs den Haufen.
Er riss die Frau an seine Brust
Und lachte wie von Sinnen
Und küsste sie nach Herzenslust
Und wich behend von hinnen.
Die Herrin aber seufzte schwer,
Und ihre Thränen rannen.
Mitleidig standen ringsumher
Die Frauen und die Mannen.
Dann ???stiess sie ihre Rechte tief
Dem Bildniss in den Mund und rief:

»Kein andrer Mann hat mich berührt –
Ich schwör's mit heil'gem Eide –
Als der des Reiches Scepter führt
Und der im Narrenkleide.«
Sie zog die unversehrte Hand
Dem Steinbild aus den Zähnen,
Und tief gerührt der Kaiser stand
Und weinte Freudenthränen.

Ihr Buhle aber zog zu Haus
Die Narrenkleider lachend aus.


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