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X.
Die übernatürliche Diagnose.

73. Laien diagnosticiren die Krankheit.

Phantastisch, wie ihre Auffassung der Krankheit, sind bei den Naturvölkern auch vielfach die ärztlichen Behandlungsmethoden. Ist die Gottheit erzürnt, oder ein Gebot übertreten, so ist es die Sache des Medicin-Mannes, zu bestimmen, durch welche Opfer man ihren Zorn zu besänftigen und die begangene Sünde zu sühnen vermag. Hat ein Dämon sich des Kranken bemächtigt, so muss er verjagt und vertrieben, oder gütlichst überredet oder durch Ueberlistung veranlasst werden, die neubezogene Wohnung wieder zu verlassen. Die entflohene Seele, den entführten Schatten, das geraubte Nierenfett u. s. w. muss man dem Räuber abjagen und in den Körper des Kranken wiederum zurückbringen, eine böswillige Bezauberung muss man durch kräftigen Gegenzauber brechen. Ist die Krankheit ein Fremdkörper oder ein in den Leib des Patienten hineingezaubertes Thier, so ist es die Aufgabe des Arztes, diese Dinge wieder herauszubefördern. Hiermit wird bisweilen gleichzeitig auch der Versuch zu verbinden sein, die Letzteren irgendwo festzubannen, sie zu vernichten und auf immer unschädlich zu machen.

In manchen Fällen ist bei diesen Maassnahmen der Medicin-Mann mit dem Kranken allein; in der Regel aber sind die Verwandten und Freunde zugegen, und zuweilen sogar wird die Krankenbehandlung zu einer grossen öffentlichen Schaustellung, zu einer rituellen Ceremonie, zu einem »Medicin-Tanze«, wozu nicht nur die Gaugenossen sich einfinden, sondern von weit und breit viel Volks zusammenströmt.

Wir können es der Vollständigkeit wegen nicht unterlassen, hier einige Beispiele solcher übernatürlicher Heilversuche folgen zu lassen; denn hier und da sind ihnen Manipulationen beigemischt, welche auch in dem Heilmittelschatze der Culturvölker allmählich sich eine vollberechtigte Stellung erworben haben. Dahin gehört die kräftige Massage, nebst der Hypnose und der Suggestion.

Soll die ärztliche Behandlung von einem günstigen Erfolge gekrönt sein, so kommt es natürlicher Weise vor Allem darauf an, zuvor die richtige Diagnose zu stellen, sich über die Aetiologie der Krankheit, über ihre Entstehungsursache ein klares Bild zu machen, denn hiervon hängt ja doch ganz wesentlich die Wahl der richtigen Methode der Behandlung ab. Um diesen Zweck nun sicher zu erreichen, werden von den Naturvölkern verschiedenartige Wege eingeschlagen.

Fast müsste es als überflüssig erscheinen, wenn wir hier noch zuvor auf die Erörterung der Frage eingehen, wer denn nun eigentlich diese Diagnose stellt und ihr entsprechend die Behandlungsmethode auswählt. Man sollte meinen, dass dieses stets das Amt und Vorrecht des Medicin-Mannes sei. Für die Mehrzahl der Fälle trifft das nun allerdings auch zu, wir begegnen aber auch einigen interessanten Ausnahmen von dieser Regel.

Wenn bei den Indianern in Central-Mexico Jemand erkrankt, so kommen seine Freunde und Verwandten bei ihm zusammen, um über die Natur seines Leidens und über die dagegen einzuschlagende Curmethode eine Berathung abzuhalten. Auch bei den Navajo von Arizona finden wir etwas ganz Aehnliches. Wenn hier ein Kranker es für wünschenswerth hält, dass zu seiner Wiederherstellung ein grosser Medicin-Tanz abgehalten werde, so ist es auch nicht der Medicin-Mann, der die für diesen Krankheitsfall geeignete Art des Medicin-Tanzes bestimmt, sondern die Freunde und Verwandten des Erkrankten stellen fest, welcher von den verschiedenen Medicin-Tänzen für diese Krankheit von dem Medicin-Manne inscenirt werden soll. Das klingt nun sehr absonderlich, und dennoch müssen wir uns fragen, kommt denn bei uns in Europa gar nichts Derartiges vor? Sehen wir denn nicht bei unserem Landvolke im Grunde genommen ganz das Gleiche? Ist es denn nicht auch hier der hohe Familienrath und zwar vorzugsweise der weibliche Theil desselben, welcher sich um das Krankenbett versammelt und auf das Eingehendste deliberirt und erörtert, wo der Patient die Krankheit her hat, »wovon es sich angesponnen hat« und wen von dem grossen Heilpersonale man nun herbeiholen müsse, den Kräutermann, den Besprecher, den Gliedersetzer oder die Streichfrau, oder vielleicht gar den Pater Kapuziner, um »das böse Wesen« zu vertreiben?

Bei den Samoanern hatten wir schon gesehen, dass es der Priester ist, welcher den Grund der Krankheit angiebt. Er bestimmt aber zugleich auch die Opfergaben, welche dem Patienten die Heilung verschaffen werden.

Aber auch wenn bei den Naturvölkern sofort der Medicin-Mann herbeigerufen wird, bedarf er doch bisweilen noch einer besonderen Mittelsperson behufs Entscheidung der Diagnose. Bei den von Serpa Pinto besuchten Ganguella-Negern am Zambesi wendet man sich zu diesem Zweck zuvor erst an den Wahrsager, und nach dessen Ausspruch richtet dann der Medicin-Mann seinen Heilplan ein. In Buru muss der Arzt ein Weib erst in einen hypnotischen Zustand versetzen, in welchem sie dann die wahre Ursache der Erkrankung zu erkennen vermag. Auch der Medicin-Mann der Annamiten bedarf für die Stellung der Diagnose einer besonderen Mittelsperson. Es ist das der sogenannte Ngôí kinh, sein ständiger Gehülfe. Auch diesem scheint ein hypnotischer Zustand die Fähigkeit des Hellsehens zu verleihen. Man setzt ihn hinter einen Bambusschirm, welcher dann dicht mit Decken umhüllt wird. Ein Opfer wird für den Ngôí kinh dargebracht und darauf zeigt man ihm ausserhalb der Umhüllung irgend einen Gegenstand, welchen er nun erkennen muss, um dadurch zu prüfen, ob er nun hellsehend geworden ist. Er spricht in seinem Käfig ein Gebet und er sieht dann eine leuchtende Klarheit vor seinen Augen niedersteigen, welche ihn den vorgehaltenen Gegenstand deutlich erkennen lässt. Nun schreitet der Tháy pháp zur Ceremonie. Unter körperlichen Verrenkungen lässt er seine Anrufungen erschallen, und nach einiger Zeit erblickt dann, wenn die Beschwörungen erfolgreich sind, das Medium einen Schatten, welcher von dem Opfer isst, Dieses theilt er nun dem Medicin-Manne und den anwesenden Zuschauern mit, denn dieser Schatten ist der Dämon, welcher die Krankheit verursacht hat. Nun ist der Tháy pháp orientirt und seine Sache ist es jetzt, mit diesem Dämon fertig zu werden.

Bei den Loango-Negern lässt man nach Bastian in Krankheitsfällen einen im Prophezeien geschickten Ganga rufen, der sich bei Anbruch der Dunkelheit vor einem Feuer in Extase versetzt und dann gegen Mitternacht bewusstlos niederfällt. Bei der Rückkehr zum Leben bestimmt er dann, ob es ein Endoxe (Zauberer) gewesen, der die Krankheit verursacht, ob ein Bruch der Quixilles (der Speiseverbote) oder ob ein Fetisch der Urheber sei. Im letzteren Falle müsste dann der Ganga, der für diesen Fall Specialarzt ist und den die Krankheit heilenden Fetisch besitzt, aufgesucht werden, »damit er durch entsprechende Ceremonien den beleidigten Dämon wieder besänftigt«. Dazu muss dieser letztere Ganga dann erst »von seinem Fetische in Besessenheit ergriffen werden; und ist dann der Geist zur Begeisterung in sein Haupt eingetreten, so spricht dieser aus ihm und verkündet die Heilmittel für den Kranken, die von den Umstehenden aufnotirt und vor dem zum Bewusstsein zurückgekehrten Ganga, der sich nach dem Verlassen des Fetischs an Nichts von dem vorher Gesprochenen erinnert, wiederholt werden«.

In einem Theile von Samoa wendet sich, wie Turner berichtet, der Kranke selber direct an die Gottheit:

» Le Sa war an einem Platze eine Hausgottheit und war als ein Tausendfuss incarnirt. Wenn irgend Jemand von solchem Thiere gebissen wird oder anderweitig krank ist, so wird ein Opfer, bestehend aus einer feinen Matte und einem Fächer dargebracht und der Gott mit folgenden Worten angeredet:

Herr! Wenn Du erzürnt bist,
Sag' uns den Grund
Und sende Heilung.«

Leider wird uns keine Andeutung gegeben, in welcher Weise die Gottheit antwortet.

74. Der Medicin-Mann stellt die Diagnose.

Wenn der Medicin-Mann die Diagnose der Erkrankung zu stellen hat, so bedarf er zu diesem Zwecke bisweilen gewisser zauberkräftiger Maassnahmen. Er muss eine Art von Orakel befragen, was in verschiedener Weise ausgeführt wird. Bevor er die Diagnose stellt, unterwirft der Medicin-Mann den Patienten bei manchen Stämmen einem Krankenexamen; so bei den Australnegern in Victoria, bei den alten Maya-Völkern und bei den Indianern des nordwestlichen Canada. Bei diesen amerikanischen Völkern handelt es sich aber im Wesentlichen bloss um ein Sündenbekenntniss, welches der Medicin-Mann aus dem armen Kranken herausexaminirt.

Bei den Maya warf darauf der Medicin-Mann Loose, um daraus zu ersehen, welche Opfer für die Wiederherstellung des Erkrankten dargebracht werden müssten. Solch einen Looszauber, um die Ursache der Krankheit ausfindig zu machen, wenden auch die Medicin-Männer im Seranglao- und im Gorong-Archipel an. Sie benutzen dazu bestimmte Körner, deren gerade oder ungerade Anzahl nach dem Wurfe die betreffende Entscheidung fällt. Auch sonst sind gerade die östlichen Inselgruppen des malayischen Archipels das bevorzugte Gebiet für dieses Diagnosen-Orakel. Genauere Beschreibungen desselben liegen nicht vor. Wir erfahren nur, dass man auf Keisar, auf Romang, Dama, Teun, Nila und Serua für diesen Zweck ein Ei benutzt; auf Eetar und im Seranglao- und im Gorong-Archipel wird eine entzwei gespaltene Kalapa-Nuss um Rath gefragt. Auf Ambon und den Uliase-Inseln herrscht eine gewisse Auswahl in diesen Orakeln. Entweder wird die Diagnose mit Hülfe der Durchschneidung einer Zwiebel oder einer Gemberwurzel gestellt, oder es wird geraspelte Kalapa-Nuss in bestimmter Weise ausgestreut oder eine Art von Wasserzauber in Anwendung gezogen. Auf der Insel Flores nimmt man einen besonderen Bambuszweig mit daran befindlichen Opfergaben (Fig. 64), den man in's Feuer hält, um zu sehen, ob ein Geist die Krankheit verursacht hat. Letzteres wird als erwiesen betrachtet, wenn der Bambuszweig im Feuer einen krachenden Ton hören lässt.

Fig. 64. Bambuszweig mit Opfergaben; zur Diagnose der Krankheiten. Flores. Mus. f. Völkerk., Berlin. Nach Photographie.

Die alten Mexicaner benutzten einen Krystall oder einen durchsichtigen Stein, um mit seiner Hülfe die Ursache der Erkrankung zu erforschen.

Der Tháy ngâi der Annamiten, auch eine Art ihrer Medicin-Männer, stellt die Diagnose nach den Bewegungen eines weissen Holzstückes, das er unter Beschwörungen in ein Gefäss mit Wasser geworfen hat, oder er betrachtet ein Licht durch die Zwischenräume seiner Finger. Er hat aber auch noch eine andere Methode der Diagnosenstellung, welche darin besteht, dass er dem Patienten mehrere Tage hinter einander ein Brechmittel verordnet. Tritt nach diesem Erbrechen ein, dann ist es eine gewöhnliche Krankheit, welche mit Medicamenten behandelt werden muss. Aber wenn das Brechmittel seine Wirkung verfehlt, so ist die Krankheit durch Zauberkraft bedingt und es muss zu Beschwörungen geschritten werden.

75. Die Diagnose wird von Geistern gestellt.

Aber auch noch schwierigeren Aufgaben müssen die Medicin-Männer sich unterziehen, um die Diagnose der Krankheit sicher zu stellen. Sie bedürfen dazu der Hülfe der Geisterwelt, mit welcher sie sich zu diesem Zweck in Verbindung setzen müssen. In Nias begiebt sich dann der Medicin-Mann allein in den Wald. Hier sucht er mit lautem Geschrei den Bèla, den ihn beschützenden Geist, und lässt sich von ihm einen anderen Geist nennen, welcher in der betreffenden Krankheit als Helfer aufzutreten geeignet ist. Wenn der Bèla ihm nicht behülflich ist, den richtigen Hülfsgeist auszuspüren, dann kann seine ärztliche Behandlung auch nicht von Erfolg begleitet sein. Auf den Luang- und Sermata-Inseln sammelt der Medicin-Mann die bösen Geister vor seinem Hause und fordert sie auf, ihm bekannt zu machen, was die Ursache der Krankheit ist. Hat einer der Dämonen ihm dieses verkündet, so werden ihm Rinder, Ziegen oder Schweine geopfert, Die übrigen bösen Geister aber jagt der Medicin-Mann durch das Aussprechen von Beschwörungsformeln von dannen. Solche Berathungen mit den Dämonen finden aber manchmal auch im Beisein der Kranken oder ihrer für sie um Hülfe bittenden Angehörigen statt. Der Medicin-Mann der Minangkabauer in Sumatra tritt zu diesem Zwecke bisweilen hinter einen Vorhang und gebietet dem Kranken und seiner Umgebung, das allerstrengste Stillschweigen zu beobachten. Nach einigen Minuten erscheinen dem Arzte hinter dem Vorhange ein oder mehrere ihm befreundete Geister und man hört ihn nun, wie er diese über das Wesen der Krankheit um Rath befragt und über die Heilmittel, welche er anwenden soll. Bald darauf kommt er hervor, erzählt dem Kranken die Ursache seiner Erkrankung und überreicht ihm die nöthigen Medicamente, nachdem er dieselben bespieen und einen Zaubersegen über sie gesprochen hat.

Fig. 65. Consultation des Medicin-Mannes der Sioux-Indianer, in dessen Medicin-Hütte die Manidos fliegen. Nach Schoolcraft.

Das Aufsuchen der Krankheit durch die Vermittelung von Hülfsgeistern hat aber wohl unstreitig seine bedeutungsvollste Ausbildung bei den Indianern Nord-Amerikas gefunden, bei den Sioux, den Creek, den Chippeway, den Winnebagos und den Klamath. Der Vorgang ist psychologisch nicht vollkommen zu verstehen, aber wir dürfen bei den Naturvölkern auch nicht bei allen ihren Begriffen eine gar zu scharfe Logik erwarten. Der Patient ist krank, und doch ist ihm die Krankheit fern. Denn die helfenden Geister, meistens in Thiergestalt, die sogenannten Manidos, müssen sie suchen in aller Welt, im Feld, im Walde, in den Lüften, im Wasser und selbst unter der Erde und über den Wolken. Und dennoch wird die Krankheit direct aus dem Körper des Leidenden ausgetrieben, verjagt, oder in anderer Weise entfernt und fortgenommen.

Uns liegt die Beschreibung solch einer Aufsuchung der Krankheit von den Sioux-Indianern am Leech Lake vor (Fig. 65).

Acht oben noch belaubte Pfosten, 12-20 Fuss hoch, wurden senkrecht in die Erde gepflanzt und mit Häuten dicht umkleidet, so dass eine enge, an einen Schanzkorb erinnernde Hütte entstand. An das Laub oben hing man die Opfergaben. An Händen und Füssen gebunden wurde der Medicin-Mann, der Jìs'akkid, hier hineingeschoben. Neben dem Bau nehmen die Musikanten Platz, d. h. die Trommler und die Rassler. Ihnen und der Hütte gegenüber sitzen die um Rath fragenden Angehörigen des Kranken und die Zuschauer. Der Patient selber ist ruhig zu Hause geblieben, häufig in einem ganz anderen Lager. Der Medicin-Mann fordert aus seiner Hütte von seinem Gehülfen die Pfeife und ruft ihm zu:

»Lade ein!«

Dieser ruft dann gegen Norden:

»Eule, Du bist eingeladen, zu rauchen!«

Der Chorus des Volkes bestätigt dieses. So wird in gleicher Weise von Osten der Menabazh (die Schildkröte?), von Westen der Donner, von Süden der Schmetterling eingeladen. Nach diesen Einladungen herrscht Schweigen im Volke. »Sie blicken in die Luft, um zu sehen, ob die Geister kommen. Der Medicin-Mann singt, die Musikanten stimmen mit ein, die Hütte erzittert; ein Getöse entsteht. Es sind die Geister, welche aus den vier Richtungen des Horizontes kommen; ihrer sind acht, eine heilige Zahl.« Voran ist die Schildkröte, welche auch gleichsam den Sprecher für die anderen Geister abgiebt. Jedesmal wenn ein Manido anlangt, wird ein schwerer Schlag gehört, als wenn ein schwerer Gegenstand zur Erde fiele, und die Hütte wird dadurch heftig erschüttert (Fig. 66). Hat der Medicin-Mann alle Manidos versammelt, über welche er zu gebieten vermag, so kann er sie aussenden in die entferntesten Theile der Erde und im Augenblick sind sie zurück und müssen ihm Rede und Antwort stehen. Er tritt mit seinen Manidos in eine Berathung ein; man hört in der Hütte sprechen. Es herrscht eine grosse Ordnung in der Discussion, die Geister sprechen nur Einer nach dem Anderen, aber ein Jeder mit anderer Stimme. Der Indianer, welcher sich Raths erholen wollte, wendete sich mit seiner Frage an die Schildkröte direct. Diese antwortete aber nicht, und als der Medicin-Mann nach der Ursache hiervon gefragt wurde, gab er an, dass die Opfergabe zu gering sei. Darauf erbot sich der Fragesteller, noch einigen Tabak und Cattun zu geben. Aber noch immer blieb die Schildkröte stumm. Auf erneutes Befragen, warum sie nicht sprechen wolle, rief sie endlich:

»Gut denn, alter Knauser, Du musst noch etwas Zucker hinzufügen; nur dann spreche ich!«

Diese Vorschrift wird erfüllt, man hört die Geister unterhandeln und endlich, nachdem die Geister hin und her geflogen, giebt die Schildkröte Bescheid, was die Ursache der Krankheit sei, und wie man ihr begegnen müsse.

Bei den Klamath-Indianern in Oregon werden für ähnliche Zwecke eine grosse Anzahl von Beschwörungsgesängen gebraucht, welche der Medicin-Mann mit tiefer Stimme vorträgt und manche derselben endlos wiederholt. Bisweilen singen auch die Anwesenden den einen oder den anderen Beschwörungsgesang mit. Der Text des Gesanges ist immer so abgefasst, als wenn der Manido selber ihn sänge, und er drückt im Allgemeinen aus, was der Manido verrichtet, um die Krankheit aufzusuchen. Das ist nun fast immer dem Wesen und den Lebensgewohnheiten desjenigen Thieres angepasst, dessen übernatürliches Abbild durch den betreffenden Manido dargestellt wird.

Fig. 66. Die Manidos, in die Medicin-Hütte fliegend, nach der Zeichnung auf einem Musikbrett der Midç der Chippeway-Indianer. Nach Hoffman.

Es mögen aus Gatchet's Zusammenstellung hier einige wenige Beispiele folgen.

Die schwarze Maus singt:

»Ueber was gehe ich mit meinen Pfoten?
Meine Pfoten schleichen über das Haar von der Krankheit.«

Der Fischfalke singt:

»Hoch oben in den Wolken fliege ich und ziehe meine Kreise.
Durch die hellen Wolken trage ich meine Beute.«

Der Gesang des Stinkthiers lautet:

»Im Nordwinde tanze ich umher, den Schwanz ausgebreitet, festlich und fröhlich.«

Der Holzspecht lässt sich folgendermaassen hören:

»Der Holzspecht bin ich, haftend fest,
Aufwärts blickend hafte ich am Baumstumpf;
Der Holzspecht bin ich, haftend fest,
Abwärts blicke ich und halte mich selbst.«

Der Otter, einer der wichtigsten Manidos, wird folgender Gesang in den Mund gelegt:

»Der Otter Sprössling, ich tauche in's Wasser,
Wenn ich verschlungen werde von ihm, leuchtet der Grund auf,
Die Erde wird gerüttelt in ihren Grundfesten.«

Der Sinn des Gesanges ist nach Gatchet folgender:

»Das Thier hat die Krankheit im Wasser aufgefunden und verfolgt sie von dort aus bis auf das Ufer. Hier setzt sie das Ufer in Brand und der Boden wankt unter ihren verheerenden Tritten.«

Es ist ja eben die Krankheit, wie bereits oben gesagt, welche die Manidos ausstöbern und verfolgen, und dass dieselbe fern vom Patienten ihren Aufenthalt hat, das zeigt ausser dem zuletzt citirten auch der Beschwörungsgesang, welcher der Krankheit selber in den Mund gelegt wird. Er lautet:

»Von Krankheit bin ich hingestreckt,
Ich bin oben in den lichten Wolken.«

Jedoch singt die Lerche:

»Die von mir gebrachte, der Lerche, gebrachte Krankheit
Breitet sich überall aus.«

Und die körperlichen Schmerzen singen:

»Ich, die Schmerzhaftigkeit, bin über sie gekommen.«

So hat doch also wiederum die Krankheit sich zu dem Menschen hinbegeben. Wie wir schon oben gesagt haben, die Logik ist nicht bis in die Einzelheiten durchgeführt.

In Annam wird zuweilen dem Kranken unter Beschwörungen und gewissen feierlichen Maassnahmen an jeden Finger der linken Hand ein Papierstreifen angebunden, auf welchem je eine der fünf Dämonengruppen aufgeschrieben ist. Der Finger, welcher während der Beschwörung zuerst sich beugt, zeigt die Dämonengruppe an, welcher der krankmachende böse Geist angehört.

Bisweilen muss der böse Geist sich selber aus dem Körper des Patienten heraus zu erkennen geben, z. B. in Laos und bei den Annamiten. Um ihn hierzu zu zwingen, umbindet der Zauberarzt mit sieben Baumwollenfäden die Daumen und die grossen Zehen des Patienten, spricht seine Beschwörungsformeln und tastet mit seinen Fingern drückend den Körper des Kranken ab, um den Sitz des bösen Geistes ausfindig zu machen. Hat er die richtige Stelle gefunden, dann bringt er den Dämon zum Schreien, der nun durch des Patienten Mund auf des Medicin-Mannes Befragen den Namen desjenigen Zauberers entdeckt, der die Krankheit veranlasst hat, sowie die näheren Umstände der Bezauberung. Nach gegebener Auskunft fliegt der Dämon von dannen. Auch in Annam wird der Dämon nicht selten vom Tháy-pháp veranlasst, durch den Mund des Kranken Rede zu stehen, und einer dieser Tháy-pháp in Cholon lässt, anstatt den Körper des Patienten abzutasten, auf ihm zwei Holzkugeln rollen; wenn die den Sitz des Dämons berühren, so muss der Letztere sich zu erkennen geben.

76. Prognose und Semiotik.

Wenn nun die Ursache und die Diagnose der Erkrankung glücklich herausgefunden ist, und wenn der Medicin-Mann den geeigneten Curplan festgestellt hat, so muss es natürlicher Weise auch noch ein ganz berechtigtes Interesse darbieten, über den voraussichtlichen Verlauf der Krankheit und über den Erfolg der angeordneten Behandlung etwas Genaueres zu erfahren. Dass hier nicht minder abergläubische Maassnahmen im Spiele sind, als bei dem Stellen der Diagnose, das wird uns kaum überraschen können. Aber bisweilen stossen wir auch auf eine prognostische Angabe oder auf ein Signum pathognomonicum, denen schon unzweifelhaft ganz richtige klinische Beobachtungen zu Grunde liegen. Zu diesen Letzteren haben wir wohl gewisse Angaben der Eingeborenen von der Insel Nias zu rechnen, welche sich über die Prognose der sie plötzlich befallenden Fieber die folgenden Ansichten gebildet haben. »Sie glauben, dass sie mehr den Anfällen ausgesetzt sind, wenn sie allein in der Pflanzung arbeiten, oder wenn sie einen langen Weg zu machen haben, oder wenn es regnet und zu gleicher Zeit die Sonne scheint, oder wenn der Regenbogen erscheint, welchen sie für ein grosses Netz halten, das von den mächtigsten Geistern ausgespannt wird, um sich der Menschen zu bemächtigen.« Danach richtet sich nun auch die Therapie: »Wenn die Anfälle, welche sie packen, leichte sind, so kann es nützlich sein, den Kranken mit Speichel von denen, die Sirih gekaut haben, einzureiben, während man gleichzeitig dem Adú Tabagósa ein Opfer von Hühnern und Ferkeln darbringt. Wenn sich aber zu dem Fieber Delirien gesellen, dann binden sie die vier Füsse eines Schweines fest zusammen, hängen es an einen zwischen den Pfoten durchgeführten Stock auf, und nachdem sie es verschiedene Male geschaukelt haben, opfern sie es dem Adú Fangóla mbéchu

Wenn in Siam Jemand am Fieber erkrankt ist, so wird nach Bastian der Chao, der oberste der Teufel, beschworen »und gefragt, welchen Verlauf die Krankheit nehmen werde. Zuweilen wird geantwortet, die Krankheit hat Heilung zu erwarten; zu anderen Zeiten heisst es, die Krankheit wird zum Theil geheilt werden, aber nicht ganz vorbeigehen.«

Auf Samoa wird an einer Stelle der Leatualoa verehrt, der lange Gott oder der Tausendfuss. »Ein Baum bei dem Hause war die Residenz dieses Geschöpfes. Wenn irgend Jemand von der Familie krank war, so ging er mit einer feinen Matte zu dem Baume und breitete sie unter demselben aus, und hier wartete er bis der Tausendfuss hervorkam. Kommt dieser hervor und kriecht unter die Matte, so ist das ein Zeichen, dass der Kranke mit Matten bedeckt und begraben werden wird; wenn er aber oben auf die Matte kriecht, so bedeutet das die Wiederherstellung des Patienten.«

Von den Papua der Geelvinkbai in Neu-Guinea erzählt uns v. Hasselt, dass sie ihre Ahnenfiguren benutzen, um die Prognose der Krankheit zu stellen: »Jede Familie hat ihren besonderen Korwar (Ahnenfigur), eine nach dem Muster des Mon (des Götterbildes) geschnitzte, aber wesentlich kleinere Figur, bei welcher gewöhnlich Schamlosigkeiten vermieden werden. Ein solcher Korwar bildet das Medium, durch welches der Geist eines Abgeschiedenen mit seinen Hinterbliebenen in Verbindung steht. Der Papua nennt daher ein solches Bild auch »Vater« oder »Mutter« und identificirt es mit dem betreffenden Todten. Die Figur wird mit bunten Lappen geschmückt; man bietet ihr Tabak an und verrichtet vor ihr den Sembak, eine Grussform, bei welcher der Papua sich zur Erde neigt und die festgeschlossenen Hände an die Stirn presst.«

»Der Hausvater oder irgend ein Zauberer nimmt nach der eben erwähnten Ehrenbezeigung die Figur in die Hand, redet sie an und erkundigt sich, ob man bei dem, was man vor hat, z. B. bei einer Reise oder einem Trepang- und Schildkrötenfang, Glück oder Unglück haben wird, ob ein krankes Familienglied genesen wird u. s. w. Antwortet der Korwar nicht, dann ist Alles in Ordnung; spricht er dagegen, d. h. kommt es dem Fragenden vor, als ob die Figur sich bewege, so sieht die Sache bedenklich aus.«

»Besonders in Krankheitsfällen wird derselbe fleissig zu Rathe gezogen. Einst fand ich beim Besuche einer schwerkranken Frau am Kopfende ihres Lagers vier oder fünf Korwars befestigt. Auf meine Fragen, ob diese Alle ihr gehörten, lautete die Antwort: ›Nein, meine Verwandten und Freunde sind so gut gewesen, mir einige zu borgen.‹ Ausgediente Korwars aus früheren Zeiten haben ihre Kraft eingebüsst und können verkauft werden.«

Finsch sah bei den Gilbert-Insulanern eine Wahrsagerin bei einem kranken Kinde thätig. Sie legte vier Steinchen in verschiedenen Figuren um das Lager des Kindes, um danach den Ausgang der Krankheit vorauszusagen.

Auf den Babar-Inseln herrscht, um die Prognose der Krankheit zu stellen, eine ganz regelrechte Opferschau, welche von dem Medicin-Manne oder dem Familienvater vorgenommen wird. Eine ganze Reihe einzelner Opfergaben wird unter Gebeten auf dem Opferplatze niedergelegt. Ein Opferthier, gewöhnlich ein Huhn oder ein Ferkel, wird in ganz besonderer Weise getödtet und auf eine bestimmte Art zerstückelt, und man ersieht nun aus der Lage der Eingeweide, aus dem Verhalten gewisser Blutgefässe am Herzen, wie der Verlauf der Krankheit sich gestalten wird. Wenn z. B. ein Kind am Fieber erkrankt ist, so wird dasselbe gerettet werden, wenn das Herz des geopferten Ferkels glatt erscheint; findet man aber Knoten am Herzen, dann besteht für das Kind grosse Lebensgefahr.

Die Indianer in Michoacan in dem centralen Mexico haben den Glauben, dass, wenn sie das Blatt einer bestimmten Pflanze auf eine geschwürige Stelle des Körpers bringen und dieses an derselben haften bleibt, dann wird der Kranke sicher genesen; wenn aber das Blatt herunterfällt, so ist es um sein Leben geschehen. Die alten Maya-Völker sollen mit Hülfe des Krystalles die Prognose gestellt haben, der ihnen auch schon für das Herausfinden der Diagnose dienstlich war. Wenn am Congo das Feuer, an welchem der Medicin-Mann seine Heilceremonien vornimmt, Funken sprüht, so wird das als ein günstiges Zeichen angesehen.

Die Eingeborenen von Mittel-Sumatra erfahren zur Zeit einer Pockenepidemie durch einen Traum, ob sie der Krankheit verfallen werden. Wenn sie im Traume den bösen Geist Niniëq erblicken, der zu ihnen kommt und ihnen Früchte bietet, so wird die Krankheit sie ergreifen, und an der Art der Früchte erkennen sie, ob diese Krankheit eine schwere sein wird.

Eine sehr üble Prognose giebt es bei der Pockenerkrankung eines Kindes in Annam, wenn man ein unbekanntes Kind erblickt, das in das Haus zu gelangen sucht. Man muss das zu verhindern suchen und nie den Kranken unbeobachtet lassen, auch muss man ihn durch Amulete u. s. w, vor dem Eindringen dieses Dämons schützen.

Bei allen Lungenaffectionen ist den Australnegern von Victoria die semiotische Wichtigkeit des Speichels wohlbekannt. Sie beobachten den Auswurf der Patienten auf das Genaueste und sie widmen dem Letzteren eine ganz besondere Aufmerksamkeit, wenn sich Blut in dem Auswurfe zu zeigen beginnt.

Auch hierin haben wir wiederum einen Beweis, wie immer wieder aus dem Wust phantastischer Begriffe vereinzelte gute Naturbeobachtungen sich Bahn zu brechen vermögen.


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