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I.
Einleitung.

1. Die Quellen zu einer Vorgeschichte der Medicin.

Das letzte halbe Jahrhundert hat in dem Studium der Geschichte ganz gewaltige Umwälzungen hervorgerufen. Wir haben gelernt, dass keineswegs ausschliesslich das geschriebene und uns überlieferte Wort die wahre und einzige Quelle der historischen Wissenschaft ist, sondern dass – ganz abgesehen davon, dass man hier bisweilen absichtlichen Fälschungen und tendenziösen Entstellungen begegnet – auch noch ganz andere Quellen von uns erschlossen werden müssen. Es ist uns mit zwingender Gewissheit die Thatsache zum Bewusstsein gekommen, dass der Mensch nicht plötzlich und unvermittelt in denjenigen Zustand der gesellschaftlichen Regelung und Cultur eingetreten ist, welchen man kurzweg als » die Geschichte« bezeichnet hat, d. h. von dem uns geschichtliche Nachrichten aufgezeichnet worden sind, sondern dass bereits tausende von Jahren vor jeglichem geschriebenen Documente die Menschheit ihre » Geschichte« hatte, dass sie ihre socialen Gesetze besass, ihre religiösen Institutionen, ihre Künste und Wissenschaften, von denen der geschriebene Buchstabe auch nicht die leiseste Andeutung auf uns hat gelangen lassen.

Durch das deutliche Bewusstwerden dieser neuen Thatsache entwickelte sich eine ganz neue Disciplin, die Urgeschichte. Das Quellenmaterial, aus welchem sich diese aufbaut, ist im wesentlichen ein vierfaches. In erster Linie sind es naturgemäss die zufällig gemachten oder die zielbewusst gesuchten antiquarischen Funde, welche die prähistorische Archäologie zu erläutern hat.

Von hoher Bedeutung sind aber auch gewisse Sitten, Gebräuche und Anschauungen der heutigen niederen Volksschichten und namentlich des Landvolkes, welche sich als sogenannte » Ueberlebsel« aus längst vergangener Vorzeit kennzeichnen. Zu ihrer Erklärung hat die Volkskunde einzutreten.

Als dritten Factor haben wir die aufmerksame Betrachtung der Lebensweise der heutigen Naturvölker zu nennen, welche uns heute noch verschiedenartige Culturstufen vorführen, auf denen einstmals auch die historischen Völker gestanden haben, bevor sie den culturellen Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hatten. Hier uns das nöthige Material herbeizuschaffen ist die Sache der Ethnologie.

Die vierte Quelle endlich, die wir benutzen müssen, bietet sich uns in der vergleichenden Sprachforschung dar, welche aus bestimmten Wortbildungen und Buchstabenformen bedeutungsvolle Rückschlüsse auf vergangene Culturverhältnisse zu machen gelehrt hat.

Diese selben Quellen nun, welcher wir für die Anfänge der Geschichte und der Culturgeschichte im Allgemeinen bedürfen, müssen wir auch zu Rathe ziehen, wenn wir die Geschichte spezieller Culturgebiete zu studiren beabsichtigen. Auch die Medicin hat ihre Vorgeschichte, welche ihre Schatten noch weit in das Leben der heutigen Völker hineinwirft. Aber von einem systematischen Studium derselben ist bisher noch, nicht die Rede gewesen. Allerdings stehen uns auch hier bereits manche vereinzelte Bausteine zur Verfügung, aber sie bedürfen noch ganz erheblich der Vermehrung, und vor allen Dingen der sorgfältigen Sammlung, Zusammenstellung und Vergleichung. Wir wollen nun zusehen, von welcher der vorher genannten vier Quellen wir für die Urgeschichte der Medicin die ausgiebigsten Aufschlüsse zu erwarten haben.

Von der vergleichenden Sprachforschung sind wir bisher am spärlichsten bedient worden. Das hat aber vielleicht darin seinen Grund, dass ihr noch nicht hinreichend präcise Fragen vorgelegt worden sind.

Recht beachtenswerthe Resultate verdanken wir bereits der Wissenschaft des Spatens. Wir werden darauf hier aber nur ganz beiläufig zurückkommen können.

Das Material, das uns die Volkskunde geliefert hat, ist ein sehr reichliches, jedoch zu seiner Verwerthung für die Urgeschichte der Medicin bedarf es noch einer ganz besonders sorgfältigen Kritik und Vorsicht. Denn nicht Jegliches, das uns in der Volksmedicin entgegentritt, spiegelt uns die Anschauungen und Maassnahmen der auf einer primitiven Culturstufe stehenden Menschen, oder mit anderen Worten prähistorische Ueberlebsel wieder, sondern nicht Wenige sind die Ueberreste alter Magistral-Medicin, welche, von den Aerzten schon längst verworfen und vergessen, allmählich in den Wissensschatz der sogenannten Bauern-Doctoren gelangt sind, und bei diesen nun mit echter Bauernzähigkeit haften.

Endlich haben wir noch von der Ethnologie zu sprechen. Dieselbe bietet, wie für die Culturgeschichte im Allgemeinen, so auch für die Urgeschichte der Medicin die allerwichtigste Fundgrube dar.

Wir begegnen bei den Naturvölkern überall der auffälligen Erscheinung, dass sie in gleichen Lebenslagen zu ganz gleichen oder sehr ähnlichen Maassnahmen und Anschauungen gelangen, ganz gleichgültig, ob sie im hohen Norden, ob sie am Aequator, oder ob sie in einer gemässigten Zone wohnen. Das ist es, was Adolf Bastian als den Völkergedanken bezeichnet hat. Kleine Varianten können, wie es wohl selbstverständlich ist, nicht ausbleiben, wie sie die umgebende Natur bedingt. Ob ein Volk in dem Hochgebirge wohnt, oder an dem Strande des Meeres, ob es ein Wald- und Jägervolk ist, oder ein Hirten- und Steppenvolk, oder eine fischende und seefahrende Nation, das bedingt, wie man wohl begreifen wird, gewisse Localfärbungen in ihren Mythen und in ihrer Dämonologie, sowie in ihren alltäglichen Lebensgewohnheiten. Aber der Kern ihrer Anschauungen bleibt doch im Grossen und Ganzen der gleiche. Nicht wenige dieser Völkergedanken spielen auch noch in dem Leben der heutigen Culturvölker eine wichtige Rolle, und ihnen nachzuspüren und ihren psychologischen Zusammenhang darzulegen, darin liegt die hohe Bedeutung der modernen Ethnologie.

In Bezug auf die primitiven Anfangsstadien der Medicin eröffnet uns das Studium der Ethnologie vielerlei Ausblicke. Wir lernen die Auffassung niederer Volksstämme von dem Wesen und von den Ursachen der Krankheiten kennen, wir erfahren, in welcher Weise die Aerzte oder Medicin-Männer zu ihrem einflussreichen Berufe ausgebildet werden und was für ein Hülfspersonal, entsprechend unseren Heilgehülfen u. s. w., sie nöthig haben. Wir finden auch bei manchen Völkern, z. B. bei den Eingeborenen Australiens, sowie bei vielen nordamerikanischen Indianerstämmen u. s. w., bereits die Errungenschaft der modernsten Neuzeit, nämlich weibliche Aerzte.

Die Behandlungsmethoden der Medicin-Männer besitzen vielfache Analogien mit denjenigen, welche wir heute noch die Heilkünstler unserer Landbevölkerung ausführen sehen. Es sind Gebetsformeln, Besprechungen, Beschwörungen und Drohungen, aber wohlweislich verbunden mit der innerlichen Darreichung medicamentöser Tränke, mit der Anwendung einer Kaltwassermethode, oder von Dampfbädern, von Hautreizen, Scarificationen und Blutentziehungen, oder namentlich von der Massage. Eine hervorragende Rolle spielt auch überall bei den Naturvölkern eine der allerneuesten Eroberungen der modernen Therapie, nämlich der Hypnotismus und die Suggestion. Sie harren noch eines eingehenden Studiums und der Bearbeitung durch einen ethnologisch geschulten Neuropathologen.

Um sich nun eine Vorstellung und ein klares Bild von den medicinischen Begriffen und Kenntnissen der Naturvölker zu machen, muss man auf verschiedenartige Dinge sein Augenmerk richten, auf ihre Dämonologie, auf den Wortlaut ihrer Beschwörungen, auf ihre Medicamente, ihre Speiseverbote und ihre Reinigungsgesetze, auf ihre Verbotszeichen und ihre Feste und Tänze. Dass die directen Berichte der Reisenden, sowie der unter diesen Volksstämmen lebenden Aerzte, Missionare und Regierungsbeamten ebenfalls eine hervorragende Berücksichtigung verdienen, das brauchen wir kaum erst hervorzuheben.


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