Ernst Barlach
Der gestohlene Mond
Ernst Barlach

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Der Straßenzug des Sandgangs lief quer über die von Wau bewohnte Straße bürgerlicher Selbstgerechtigkeit, einen der Hauptausfuhrwege der Stadt aufs Land, in die Schützenstraße ein, die am Schützenplatz endete. Es war hier trotz der anderen Benennung nicht gerade vornehmer als im Sandgang, aber doch so viel, daß sie wenigstens am Beginn der soeben gekreuzten anspruchsvollen Bürgerzeile nichts nachgab. Es gab da weiter noch einige Häuser, die sich den ersten und besten gleichwertig dünkten, aber im Hintergrunde des Hofes eines dieser letzteren stand von früheren Zeiten her ein morscher Fachwerkbau, überschattet von einem Apfelbaum aus ebenfalls früheren Zeiten ländlicher Ordnung. Hier wohnte unten eine Kinderhälterin unehelicher Sprossen, die an dem erworbenen Monatsgeld langsam zu Tode hungerte, das obere wohnungsähnliche Gelaß hatte der Große Geist bezogen. Nebenan unter demselben Dach dieser Gehäuse dunkelte ein Pferdestall, der sonst an einen Viehhändler, jetzt an einen Mann mit einem Totengräbergesicht vermietet war, der sich seit kurzem am Ort befand, mit Friedrich Schult befreundet war und sich beruflich mit Bildschnitzerei abgab, die er hinter einem keinen Überfluß an Licht spendenden Fenster zum hinteren Garten ausübte. Er hackte in Holz und plantschte gelegentlich fleißig in Gips, bei welchem Geschäft er das zur Bereitung des Formgipses nötige Wasser aus einem Wasserhahn am Vorderhause entnahm und über den Hof trug. Wenn er auch hin und wieder einige unnützige Wortklapperei für den Hausbesitzer, einen Mehlhändler, sowie für die Kinderhälterin abfallen ließ, so galt er doch für sonderlich, 183 und manche nannten ihn hochnäsig. Auswärtige Zeitungen schrieben in auswärtig-hochtrabendem Ton über ihn, und auswärtige Exemplare einer absonderlichen Sorte von Zeitgenossen besuchten ihn. Bedürftige andere Zeitgenossen klopften bei ihm an, und wenn sie gingen, so mochte es einer dem anderen gesagt haben, daß hier in dem Pferdestall nicht bloß Groschen lose säßen, und nach den Bedürftigen klopften die wegelagernden Zeitumstände, die von Stadt zu Stadt durchs Land zogen, die Pelze schoren und den Überfluß an Gutem in ihre Taschen leiteten. Der Große Geist stieg die steile Treppe, mehr eine Leiter, zu seiner Abgelegenheit unterm Dach nicht wie in früheren Zeiten mit einer Aktentasche, sondern mit einem in Papier geschlagenen Bücklingskasten unter dem Arm auf und nieder. Mit seinen Bücklingen strich er an dunklen Abenden durch die Kneipen der Vor- und Nebenstadt, trug Pfennige und verschmähte Fische heim, fror erbärmlich in Winternächten unter den Dachsparren und unter seiner verschabten Wolldecke und schmachtete daselbst in heißen Sommerzeiten. Seine Schwester, eine von anscheinend zahllosen Kindern vernutzte Frau, setzte ihm hin und wieder einige vom Munde abgesparte Bissen auf seine Stiege, die zu halbieren und zu vierteln sich die hungernde Kinderhälterin wohl nicht oft versagen konnte, wenn der Große Geist auf seinen elenden Geschäftswegen abwesend war.

Zwischen dem Bodenraum über dem Pferdestall des Bildschnitzers und dem Gelaß des Großen Geistes befand sich eine Räucherkammer. Ehemals hatte eine fette Zeit hier Schinken und Würste an den von Ruß geschwärzten Tragleisten aufgehängt, aber nun waren die Schinken von Sagenhaftigkeit umwoben und die Würste längst verdaut, und was da nun wob, waren Spinnen, und was da verdaut wurde, war jede geflügelte Sorte von Geschmeiß. Der, wie Wahl ihn bespöttelt hatte, vom Roß gefallene apokalyptische Reiter Geist stand eines Abends in ganzer Länge seiner drohenden Auf- und Ausgerecktheit vor Wahl, der mit Daß in 184 einer Spelunke saß, wie man Ohms schäbige »Bier- und Weinstube« hätte nennen können, wenn ihr irgendwelche, selbst die bescheidensten Merkmale abzumerken gewesen wären, daß lichtscheues Gesindel zu heimlichem Treiben in ihr jemals unterschlüpfen könnte. Sie war das Musterbeispiel dafür, bis zu welchem Grade Behagen abgetötet und Heimeligkeit als Pflegestätte von Heimlichkeiten ausgetrieben werden kann. Wahl war, um eine Ecke biegend, von Daß gestellt und hatte, um die Unterhaltung zu ölen und ihren Verlauf zu glätten, kurzerhand die Tür zu Ohms Bier- und Weinstuben einladend geöffnet. Da saßen sie nun, und da stand nun der Große Geist und präsentierte seine Bücklinge, indem er ein kurzes »frisch geräuchert« zur Empfehlung eines Restes übelriechender und wie in Starre verkrampfter Ausschußware von einst lebensfreudig das Meer bewimmelnden Schwimmern in salzigen Fluten hinzufügte. Wahl war es zwar, als würge ihn eine Rachehand an der Kehle, aber er ließ sich dergleichen nicht anmerken, tippte vorsichtig, indem er seine dampfende Zigarette zwischen dem gespreizten Zeige- und Mittelfinger vibrieren ließ, mit dem Nagel des kleinen Fingers auf einige der Toten im Kistensarge, nickte bei jeder Berührung und griff, sein Rauchstäbchen ablegend, in die Tasche mit dem scharfen Abfertigungswort: macht?, während Daß, die Nase über das Kästchen streckend, einige hämische Bemerkungen über das faule Zeug, vor dem sich seine Katze kotzen würde, dazu tat. Der Große Geist schien plötzlich nicht mehr hören zu können und blickte fragend rechts auf Wahl und links auf Daß herab, nicht eben achtungsvoll, weder nach rechts noch nach links, schien auch eine ersprießliche Entwicklung des Geschäfts nicht mehr zu erhoffen, klappte den Deckel zu und setzte sich, von Ohm einen Schnaps erbittend, den er sogleich bezahlte, an den benachbarten Tisch, wo er, immer noch stattlich und gespenstisch dürr über die Platte ragend, ohne das Glas zu berühren, in eine eingebildete Leere starrte und ohne Regung und 185 Teilnahme an der Trostlosigkeit von läppischen Bemerkungen hie und da im Raum verharrte.

Wahl sah sich zwar durch die Nähe des Großen Geistes in der Aussprache mit Daß gestört, aber nicht zu seinem Verdruß, denn der Beginn der Unterhaltung war wenig erfreulich gewesen, und die Ansätze zur Fortführung ließen einen schlechten Ausgang vermuten. Das alles mochte gern unterbrochen werden und für heute als abgetan gelten. Zwar die stumme Wacht des Gespenstes am Nebentisch behagte ihm auch nicht, aber war er nicht Wahl, der Obsieger? Sollte der Große Geist nicht kleinzukriegen sein? Er wandte sich und richtete an ihn beiläufig, als sei sonst alles in bester Ordnung und als hätte er mit dem gespenstischen Sündenbock für seine eigenen Verfehlungen nur einige Zeit rein zufällig nichts zu tun gehabt, über seine linke Schulter in der Richtung auf dessen Platz den schon beim dritten Wort kaum verständlichen Hauch von Frage: Na, Geist, wie geht's sonst?

Der Angeredete schien noch immer taub. Doch kratzte er sich an den Bartstoppeln und hob sein Gerüst langsam vom Stuhl, machte ein paar lange Schritte, als wolle er zum Schenktisch gehen und so zeigen, wie es mit ihm »gehe«, lenkte aber rechts ab und schien der Retirade zuzustreben, aber auch dorthin trieb es ihn wohl nicht, sondern er bog wiederum rechts ab und umkreiste so den Tisch Wahls anscheinend absichtslos wie durch bloßen Zufall. Dann saß er wieder steif auf seinem Stuhl und faßte einen Punkt der Leere vor ihm ins Auge. Wahl, der Obsieger, blieb ohne Antwort und hatte nur den fatalen Erfolg zu verzeichnen, daß die allerdings nicht zahlreichen Gäste auf den Fortgang dieses Beginns eines offenbaren Austrags von Spannungen neugierig wurden und aller Blicke sich den beiden Tischen zuwandten.

Wahl hatte Kaltblütigkeit genug, sich achselzuckend Daß wieder zuzuwenden und, freilich mit Widerstreben, die geschäftlichen Fragen zwischen ihnen weiter zu erörtern, was er mit hinhaltender Zerstreutheit tat, die 186 Daß durchaus mißfiel. Er begehrte Geld, gutes Geld, und begriff gar nicht, was Wahl noch hin und her zu reden hatte, anstatt ja zu sagen und zur Brieftasche zu greifen. Schließlich, als Wahl, von allerlei Umschweifen müde, bedauerte, sein Scheckbuch nicht zur Hand zu haben, Bargeld aber nicht genug in der Tasche zu führen, machte er eine Kopfbewegung mit einer Art Augenzwinkern zu all und jedem im Lokal, als wolle er sagen: Wir werden schon sehen, paßt nur auf, ließ sich vom Wirt einen Briefbogen geben, den er vor Wahl mit samt einer Feder auf den Tisch legte: Wir Geschäftsleute, Herr Wahl, wissen uns zu helfen, Scheck hin, Scheck her – eine Anweisung an Ihre Bank mit Ihrer deutlichen Klaue von Unterschrift dazu, und ich möchte den Bankjüngling sehen, der morgen nicht mit frischem Griff in die Kasse langt. Dann lachte er aus seinem verrosteten Halse mit dem Klang einer Kinderrassel und fuhr den nächsten Gaffern ins Gesicht mit den Worten: Als ob die Abwicklung von Geschäften unter guten Freunden an so was Schaden nimmt . . ., packte sein Bierglas mit der ganzen Pranke übers Oberteil und setzte sich zu dem Großen Geist an den Tisch, indem er hinzufügte: Während Herr Wahl schreibt, will ich den stummen Geist hier mal in Schwung bringen, und zu Geist: Will dir zu saufen geben soviel du verträgst, und wenn du das binnen hast, soviel dazu, bis du längelang hinschlägst – Ohm, zwei große Korn!

Ohm brachte wasserhellen Korn, aber der Große Geist traf keine Anstalten zu trinken, regte auch kein Glied. – Hast das Saufen wohl verlernt, spöttelte Daß, will's dir zeigen, und paß gut auf! – Er trank und rülpste alsbald, indem er sich den Mund wischte. Nanu, grollte er, als der Große Geist in seiner Haltung verharrte, und warf dabei einen Seitenblick auf Wahl, der Feder und Papier vor sich liegen ließ und rauchend die Lage studierte. – Wenn Herr Wahl nun bald unterzeichnet hat, wollen wir hier alle dun werden. Herr Wahl besinnt sich aber lange, und bis dahin – – na, prost, zum Donnerwetter! Dabei drückte er Geist das 187 Glas in die Hand und stieß mit dem seinen hart daran. Geist regte sich endlich und nippte ein wenig, wobei er mit hohlen Augen Daß anstarrte. – Willst dich wohl heute noch aufhängen? fragte Daß, du siehst darein, als hättest du deinen Geist schon ausgepustet, Geist. Er sah wieder auf Wahl, der nun sein Wohlbefinden zurückgewonnen hatte. Er stand auf, entzündete eine frische Zigarette, und indem ihm beim Sprechen der in die Lunge geschlagene Rauch wie sichtbar gewordener Wortdunst entfuhr, erklärte er leichthin: Ich kann natürlich auf Herrn Waus Konto keine Anweisungen geben, das sollten Sie wissen, Daß. Am Ende bin ja nicht ich, sondern Herr Wau hier zuständig. Morgen ist auch ein Tag, und ein besserer. Ich habe heute auch sonst noch Geschäfte, und Sie sind ja in der besten Gesellschaft. Wünsche gute Unterhaltung für den Abend! Sprach's und ging, indem er eine Münze aus der Hosentasche holte und lässig auf die Tischplatte warf.

Der Große Geist hob nun langsam sein Glas und sog den Inhalt bis auf den letzten Tropfen aus, dabei fixierte er über den Glasrand weg mit einem zugekniffenen Auge den verblüfften Daß. Er rülpste nicht und wischte sich nicht den Mund, aber er sagte, indem er auf seinen Bücklingskasten klopfte: Seine Geschäfte sind so gut, aber nicht besser als meine Fische – faul wie meine frisch geräucherte Ware.

Sie saßen noch lange zusammen, Daß und der Große Geist, in Ohms Bier- und Weinstube, und der Maulheld Daß verwandelte sich unversehens in einen beflissen hörenden Schweiger. An Wahls Adlerschwingen war eine leichte Lähmung unverkennbar, als er in Waus Türrahmen stand, und dem Durchgang eines Obsiegers durchs Tor des Triumphes entsprach keine seiner Mienen und Gesten, als er sich fast verlegen in den vertrauten Sessel fallen ließ. Wir werden uns wieder versöhnen, dachte Wau, denn es hatte den Anschein, als sei Wahl zu nichts anderem gekommen, als um den Mißklang ihres letzten Auseinandergehens zu beschwichtigen. Wer weiß wozu es gut ist, daß Wahl bei 188 gedämpfter Trommel Klang gekommen, dachte er weiter, vielleicht ist er heute besser als später empfänglich für einen Löffel mit gesundem Brei. – Nur zu, Wahl.

Aber Wahl, der Draufgänger, ließ auf den Anfang warten, und so entschloß sich denn Wau, es ihm zu erleichtern, und sagte: Na, Wahl, immerhin hast du die sämtlichen Fetzen des Bogens in deine Hände zurückbekommen und in deinen Taschen nach Hause getragen – von Daß prinzipiell nichts, also brüten wir nicht weiter über einen Fall, der keiner mehr ist.

Nun ja, das war der Beginn, aber das Ende ihrer Aussprache lag unabsehbar fern, und die Strecke zwischen beiden Punkten weitete sich so und gefiel sich in so kühn geschweiften Kurven, daß die beiden Pfosten ihre Bedeutung als Begrenzung verloren. Wahl ließ sich zunächst in einer Schilderung vom Charakter seines Geschäftsmitinhabers Lundberg aus und führte Wau zu dem Gipfel, der eine Übersicht über das krause Geschehen der letzten Geschäftsjahre bot, über das, was er seine »Lage« nannte, lauter Höchstleistungen der Herbeiführung von Möglichkeiten rechtlicher Um-, Miß- und Ausdeutungen, die in Waus eines Ohr hinein- und zum andern hinausgingen. Eine Symphonie von Zahlen rauschte vorüber, und die Gruppierung in strengen Sätzen durch alle Wahlschen Gemütslagen und Nöte durchstürmte kunstgerecht den weiträumigen Bau seiner Einbildungen von Zukunft und kommender Wahlgerechtigkeit in Erfolg und unverfallbarer Krönung seines Daseins, deren Förderer und Vollzieher möglicherweise bereits vor der Tür standen. Das alles ein bißchen gewaltsam und laut, als wolle er die eigenen Zweifel durch Schall übertäuben und vertreiben. Dann, als er im rechten Wahlschen Fahrwasser schwamm, kam er gewissermaßen in beglückter Leichtfüßigkeit auf seine »auswärtigen Verbindungen«, wie er die mannigfachen Anknüpfungen seiner weiblichen Lebensaussichten nannte. Hier konnte er mit imponierenden Namen und Angaben von hohen, ja besonders hohen, fast höchsten Förderinnen seines Glückes aufwarten, deren zarte Tritte 189 auch auf der Schwelle seines Hauses scharrten, was um so weniger unverkennbar schien, als dieselben Förderinnen natürlich als solche nicht nur seines, sondern auch ihres eigenen Glückes kamen und es desto eiliger hatten. Und dann schweifte Wahl ab und ließ vor Waus Augen Wau selbst auf dem Plan erscheinen, wobei er ihm als Mensch, Freund und Weggenossen so langer Jahre volle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Er malte Waus Zurückgezogenheit und karge, ja in vieler Augen fast ärmliche Lebenshaltung in recht natürlichen Farben aus, und Wau konnte es nicht unterdrücken, einzuschalten: Das mit der Ärmlichkeit, Wahl, hat seine Gründe – und der eine dieser Gründe bist du selbst.

Bei diesem Einwurf begann der Gang auf der Strecke zwischen Anfang und Ende der Unterhaltung lebhafter und endlich stürmisch zu werden, denn Wahl mußte den Kummer erfahren, daß Wau bei aller geschäftlichen Unmündigkeit einige Zahlen im Kopfe hatte, die alle miteinander eine stattliche Mauer von Quadern ausmachten, eine solche, die Wahl mit seinem Kopfe nicht einrennen konnte und deren Abtragung, Quader für Quader, er von Beginn ihres Aufbaus an niemals ernstlich erwogen.

Das alles, hatte er geglaubt, würde sich dereinst, ja dereinst, freundschaftlich regeln lassen. Er schweifte nun mit gesteigerter Energie ab und lief in die Grenzenlosigkeit von Schilderungen seiner Sorgen, Taten, Wagnisse und umsichtigen Verhaltens in Waus allereigenstem höchst persönlichem Interesse hinaus, trieb sich großartig um und entdeckte weit und breit an zahllosen Stellen fast zu seinem eigenen Erstaunen die unverkennbaren teils schon verwischten, teils ganz frischen Spuren seines Fleißes und schweren Mühens zum Abbau von Waus Wehe und zum Aufbau von Waus Wohl. Einmal mußte doch alles bekannt sein, ob mit, ob ohne Bostelmanns Einverständnis, die Stunde, die heute schlug, war doch wohl die rechte, und ihrem Ruf mußte gehorcht werden.

So sehr Wahls ganze Veranlagung das Ausweichen 190 vor Entscheidungen förderte, heute, gerade jetzt und bei Häufung von diesen, jenen und anderen Beweisen seiner unentwegten Freundschaftssorge, immer stärker dürstete ihn nach restloser Offenbarung des bisher verhehlten Tuns.

Es stand ihm gut, dem Wahl, das empfand er zu eigener herzlicher Genugtuung, zahllos wie sie waren, seine Fürsorglichkeiten zu bannen und wie einen Reigen rührender Gestalten von Verehrungswürdigkeit geweiht und bestrahlt vor ihrer beider Augen vorüberzuleiten, und er hätte wohl kein Ende seiner Beschwörung selbstgeschaffener Gestalten gefunden, wenn nicht Wau anscheinend weiterhorchend aufgestanden und den Schlüssel einer Lade am Schreibtisch umgedreht, diese aufgezogen und ein zuoberst liegendes dünnes Bündel loser Papiere zur Hand genommen hätte. Wahls Zunge stockte, als er Waus Finger zwischen den Papieren suchen sah, während Waus Blicke auf dem Munde Wahls ruhten, als warte er auf den Ausschlupf des nächsten und folgenden Wortes. Seine Finger aber schienen selbst finden zu können, was sie suchten, zwei und ein drittes und viertes der Blätter knisterten, dann lagen beide Daumen in der Kerbe des aufgeschlagenen Bändchens, und die andern acht Finger stützten je zur Hälfte die eine und die andere Rückseite. Willst du wieder Gedichte von dem – nun, wie heißt er doch – vorlesen? fragte Wahl endlich verhalten und bei aller Versuchung zur Unwilligkeit furchtsam.

Wau aber beantwortete seine Frage nicht, sondern wartete einige Sekunden auf etwaige weitere Wahlsche Worte. Dann, als nichts als Rauch und nur Rauch aus Wahls Munde kam, las er den Absatz aus den zurückgelassenen Papieren Hennys, worin sie ihre Erwartung über Waus gütiges Verhalten gegen die Frieda ausdrückte. Dann, während seine Finger die Blätter ordneten, sagte er mit Vorsatz vieldeutig: Siehst du, Wahl, so wird's gehen, und klärte noch, was kaum nötig gewesen wäre, die Herkunft dieses Wunsches von testamentarisch bestimmter Art auf.

191 Nun hätte ja Wahl in gefaßterer Gemütslage den Sinn der wenigen Sätze Hennys rasch ermessen, doch waren die Vorstellungen von eigenem Tun und Treiben im Sausen ihrer Flügelmächtigkeit durch weite Räume her und hin allzu weit aus den Bahnen des Gleichmuts und gewohnter Bedachtheit geraten. Waus Worte schienen ihm ernsthaft und bedeutsam bis zur Unwahrscheinlichkeit, und im Augenblick, da Waus Hände die entfalteten Blätter zusammenschlugen, unterlief Wahl eine Ungehörigkeit, indem er wie zum Aufstehen ansetzte, im Sessel einige Handbreit hochschnellte und zugleich nach dem vor seinen Augen von Waus Fingern geglätteten Papier faßte, ein Zugriff, den Wau mit einem leichten Ruck abwehrte, wobei er den Arm nur wenig über die Schulter rückwärts bog, ausreichend, um die Blätter aus der Greifweite der Hand Wahls zu bringen. Dabei aber sahen sich beide in die Augen, und es waren diesmal die Augen Wahls aus der Schreckensnacht beim Vollmond, die Augen seines Feindes Wahl, die mit dem Drohen einer wirklichen Bosheit sekundenlang den seinen standhielten. Das Ganze geschah rasch, und es bohrte sich etwas wie der Stich einer durchstoßenden dünnen Stahlklinge in Waus tiefstes Wissen. Aber schon saß Wahl wieder zurückgelehnt mit übergeschlagenen Beinen und ließ die Arme auf der Lehne des Sessels liegen wie Äste an seinem ziemlich stämmigen Leibe, die ohne Stütze brechen würden.

Es war alles wie nicht gewesen, und der Stich der Klinge schien so schnell geheilt, wie er geschehen war. Wahl fragte: Willst du sie etwa heiraten? Und Wau, halbwegs vorbereitet und sich bewußt werdend, eine Vermutung dieser Art angeregt zu haben, antwortete, während er den Schlüssel der Lade wieder umdrehte, einen etwas lächerlichen Ingrimm zwischen den Zähnen und doch das Herz voll von plötzlich aufgeflackerter wilder Lustigkeit: Ja, ich heirate sie, und damit basta!

Die Bahn des kalten Stahls in seinem Gefühl blieb fühlbar, aber wie war es mit Wahl? War nicht auch Waus Feindschaft im Hintergrunde der Augen der 192 seinen begegnet? Brannte seine Wunde, oder war er auf diese Art unverwundbar?

Er eilte nach einem beinahe linkischen Abschied durch die Späte mondscheinheller Straßen in der Richtung des Bostelmannschen Hauptquartiers, aber je näher er kam, desto gelassener ward sein Gang, und nahe der Tür kehrte er um. Bostelmann, nein, heute nicht, obendrein Bostelmann, von dessen Prüfung der Dinge er sich nichts Gutes versah, es war an Daß und Wau übergenug des Unliebsamen.

Zu Hause griff er zum Scheckbuch, nahm den Zauberstab seines Füllfederhalters zur Hand und verlieh dem obersten der Wische den Wert eines Sümmchens mit nichts als einigem Streicheln der Feder übers Papier, schrieb auch einige Worte dazu des Inhalts, daß er Herrn Wau nicht angetroffen, einstweilen möge Herr Betriebshelfer Daß Beiliegendes für ein Zeichen seiner Achtung und Zufriedenheit ansehen, und verschloß beide Papiere in einen Umschlag, den er sich die Umstände machte, nach Mitternacht noch in den Postkasten zu werfen – man mußte den Daß ja doch wohl bei Laune halten, ließ er sich durch eine Ahnung mahnen. In welcher Verwendung nun aber, nachdem er aus Waus Munde so Unfaßliches gehört, vermied er heute zu planen. Das leise Geräusch beim Fall des Briefes auf den Boden des Kastens aber tat Wunder. Für diesen Abend war alles Nötige getan, sein Kopf war wieder kühl, sein Urteil kalt und leistungsfähig, und plötzlich sah er klar, Wau hatte ihn genarrt, nein, mystifiziert, er selbst hatte sich von dem Unmöglichen schrecken und verwirren lassen. Dies erkannt, überlegte er augenblicks, zu was Gutem das alles gedeihen könne. Hatte nicht diese Hexe, die Frieda, von seinem Vater gesprochen, als handele es sich um die Notwendigkeit, ihn wissen zu lassen, was zu wissen ihm zieme? Was verschlug dagegen ihre Erklärung in dem Protokoll, falls sie auf dem noch heilen halben Musterbogen mit geraden und guten Wahlschen Worten einem Nachredner unter die Nase gehalten werden könnte, wenn sie sprach und Vater Wahl hörte! 193 Welches Unheil konnte sie noch über die Wahls bringen, lauter Dinge, deren keines er zu erleiden gewillt war. Den Rest der Nacht zergrübelte er zu ebenso wertlosen Fetzen wie die des zerrissenen Musterbogens. Diese Nacht übertraf an Gräßlichkeit weit die Nacht des wasserhellen Korns und der Folterung der Frieda.

Er oder ich, stöhnte es in ihm, und, er wußte selbst nicht mal, daß mit diesem »Er« vielleicht das gespenstische Brüderchen, sicher aber auch Wau verflucht worden. Sein Kontorfeger und Laufbursche hätte gewiß diesmal kein Aufhebens von dem »guten Nerv« seines Herrn gemacht, sondern sich selig gepriesen, nicht selbst in dessen Haut zu stecken.

Auch Waus Nacht war keine solche, daß von seiner nächtlichen Ruhe hätte gesprochen werden können. Es ist schon gut, leidlich wohlbeschaffene Absichten zu hegen, dachte er, aber am Ende kommt es doch auf das Tun des Herzens an und nicht auf sein Lassen . . .


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