Ernst Barlach
Der gestohlene Mond
Ernst Barlach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Nachdem Wahl von Wau knapp, aber auch unverblümt genug seine Meinung über die Vorfälle während Hennys Besuchs, zu dessen Ausgang er nützlich beigetragen, erfahren hatte, tat er nicht, was Wau mit Sicherheit erwartete, und trug keine schuldigen Umstände zusammen, die sein eigenes Zutun beiseite schoben, sondern nahm den Backenstreich hin und gelobte Besserung, auf die es ja Wau am allergeringsten ankam. Denn Wahl, das glaubte er zu wissen, konnte in freundschaftlichem Verkehr zwar vorsichtiger verfahren, hätte auch recht gut das allzu dringliche Festhalten an einmal gang und gäbe gewordenen Gewohnheiten, Wau oft als eine Kontrolle auf Schritt und Tritt lästig werdend, lockern dürfen, aber was er unter Besserung verstand, erregte Waus schwerste Bedenklichkeit. Es konnte zweifellos nur schlimmer kommen, anders, aber nicht besser. Nach seiner eigenen Meinung ging es wohl mit Wahl immer 56 mehr voran, sein Aufzug ward immer pompöser, sein Ehrgeiz wucherte sich zu wunderlichsten Formen aus, seine Pläne wurden zusehends massiver, aber auch ungestalter, so sehr, daß sie als schaumartige Wunschgebilde reich entfaltet, aber nur mächtig im Umfang auf- und verdunsteten. Wahls Wahn des bevorstehenden Eintritts in ein Leben voll Glanz und Herrlichkeit trug alle Kennzeichen eines echten Wahns. Ein Schlag, eine wundergleiche Wendung der Dinge, ein rechtzeitiger Genie-Spornstreich in die Weichen einer gegebenen Gelegenheit, nicht Fleiß, nicht Aufsteigen Fuß für Fuß, nicht nüchterne Rechnung waren in Wahls Vorstellung die Stufen zu seiner hochherrschaftlichen Zukunft. Daß er seine Ansprüche an die Zukunft mit lächerlicher Selbstzufriedenheit hegte, indem keinerlei Bestimmtheit ihm mit der Gefahr eines kritischen Zerblasenwerdens drohte, sah von ihnen beiden nur Wau, der seinerseits diese prunkende Leere, diese Erhabenheit als Aufbau von nichts als schmeichelndem Schein mit einer Art von Neid betrachtete, ja fast studierte, als ob er Zeuge eines Naturschauspiels sein dürfe, einer ihm unzugänglichen Beglücktheit durch bloße Einbildung und völligen Ersatz für verantwortliches Tun, durch Verlaß auf Selbsttäuschung. Er konnte Wahl um die frische Freudigkeit beneiden, mit der er sich und seine Beschaffenheit vollauf wie einen preiswürdigen Umstand genoß und mit beglückter Bereitwilligkeit seine Leere als Erfülltheit empfand. Daß inzwischen das Gartenhäuschen ein Hörselberg geworden, konnte Wau nicht verborgen bleiben. Es gab Spuren, die nur in Hörselbergen zurückbleiben. Der Schlüssel zur Gartenpforte rastete und rostete nicht in Wahls Tasche. Wenn Wau gelegentlich dem, was er den Wahlschen Wahn nannte, ein zugleich amüsierliches wie erschrecktes Nachsinnen zugewandt hatte, ging er wohl hier und da zu Betrachtung des eigenen Wahns über, schonsam genug, indem er sich selbst weniger als einen Wahnheger, sondern als einen Mann ansah, dem Wähnen, also Vermuten, Hegen und Gestalten von Überzeugungen und Vorstellungen, 57 Zurechtlegen verborgener Zusammenhänge, Schürfen nach Wahrheit oder deren Schein in wirklichen oder vermeintlichen Tiefen der eigenen Natur zur Gewinnung zureichender Erkenntnisse von sich selbst Gewohnheit war. Nun ja, er fühlte sich gebrandmarkt, die Kette der Abhängigkeit von seiner anerschaffenen Art klirrte, aber doch, wenn auch Sträfling, lohnte es sich wohl zu bedenken, zu welcher Art von Sträfling er bestimmt worden sei. Derlei Gedanken machte er sich in den seltenen Stunden der stillen Einkehr in irgendwelcher Einsamkeit dieser oder jener Gaststätte, entweder wenn es mit dem Alleinbleiben glückte in dem Absteigequartier des Cafés oder sonstigen Winkeln, wo zu gewissen Zeiten niemand einen Gast vermutete. Die Ort- und Zeitgenossen glaubten ihn irgendeiner Bummelei beflissen, ihn, den man des Trostes in unglücklicher Ehe für bedürftig ansah – und Wau ließ ihnen den guten Glauben, daß er wäre wie sie und sich tröstete, wie sie es als selbstverständlich ansahen. Sie irrten sich, und selbst wenn es einmal nach dem aussah, was man bei ihm vermutete, so irrten sie doch. Denn ein paar bescheidene, immer im Beginn schon stockende Schritte auf anmutig verschlungenen Pfaden zu verstohlener Vergnüglichkeit waren von Wau widerwilligst im Gefolge einer Gelegenheit angetreten. Sein Umkehren, wenn er sich unvermutet so unterwegs sah, war so schroff, als ginge es nach dem Zeiger der Taschenuhr und nicht nach dem stärkeren oder gelinderen Belieben seines Gemüts. Er saß am liebsten in einer stillen Ecke in Gesellschaft einer Flasche Wein, also allein, aber nicht vereinsamt, und wußte sich bestens zu unterhalten. Hennys beiläufige Worte von dem Geringen, das manchmal größer scheint als das Ungeheuerlichste, hatten sich an jenem Abend über den folgenden Austausch von entscheidenden Eröffnungen ruhig erhalten. Aber wenn er nun das alles wieder überdachte, kamen auch diese Laute in der Stille aus der Verlorenheit wieder herauf. Das Geringe scheint größer, sagte er, sie hat es nicht richtig ausgedrückt, sie meinte – es ist oft größer als das Ungeheuerlichste, und 58 lobte Bostelmann als den Wager und Vollbringer einer Ungeheuerlichkeit, wenn auch nur in der wünschenden Vorstellung, absurd aber vielleicht noch mehr abstrus. Dazu tadelte sie die Vernünftigkeit unserer zum Untergehen reifen Zeit – aber doch wohl nicht die Vernunft überhaupt –, und was sie sich unter dem mit seinem mißlungenen Werk zugleich sterbenden Schöpfer gedacht hat, gehört wohl zu dem Ungeheuren, das sie als, ach, so klein bezeichnete, denn man muß ja wohl das Schöpferische bejahen, es geschieht tausendfach, was nicht anders genannt werden kann; und was in kleinem menschlichem Umkreis vor sich geht, mag in Größern zum absolut Schöpferischen werden, aber dabei bleibt es, nämlich beim Benennen von etwas Unverständlichem. Was man unverständliche Übergröße heißt, ist wegen ihrer Unverständlichkeit schlechthin gewissermaßen belanglos. Wovor? – vor dem Urteil und in der Vorstellung der von allem diesem Unverständlichen ausgehenden Vernünftigkeit, die sich damit selbst richtet, daß sie es nicht anders und besser weiß. Aber Vernunft, das ist ein anderes . . . wollte Wau behaglich fortfahren, denn allein, wie er war, ließ er im stillen Gespräch seinen vorgestellten Partner hübsch leicht zu zerpflückende Dinge vorbringen, während er sich selbst den Vorteil vorbehielt, weit ausholen zu können und die gegenteiligen Einwände vernichtend zu treffen. Er war in einer als gut bürgerlich zu bezeichnenden Aufgelegtheit, zufrieden und für den Augenblick unangeregt von überheblichen Neigungen, den Boden nüchterner Betrachtungen unter den Füßen zu verlieren, den Ballon seiner Seele mit sträflicher Wichtignahme seines Verhältnisses zu Raum und Zeit aufzublähen, vom Geist des Weins nur leicht beschwingt, gerade genug, um dies lächerliche Streben eines Forschers nicht zu bemerken, eines Forschers, der im Augenblick sich selbst bewies, was er selbst längst anerkannt hatte.

Das Vorkommnis, das ihn im nächsten Augenblick überwältigte und für kurze, fast nicht meßbare Weile aus allen seinen Grenzen vertrieb, aus bürgerlicher 59 Behaglichkeit, aus scheinphilosophischem Zeitvertun mit Angeln nach einem Fisch in mystischen Tiefen, dem er den richtigen Köder hingeworfen zu haben glaubte, – dieses Vorkommnis also war ein unmotivierter Überfall aus unbefahrenen und ungekannten Fernen auf seine ganz unvorbereitete Ahnungslosigkeit, ob Belehrung aus jenen Fernen oder umgekehrt momentane Entrücktheit, also Ausbruch seines Selbst in sie hinein, in eine angrenzende Nachbarschaft, mit deren Kenntnis er bisher verschont oder die ihm bisher gar vorenthalten gewesen, – er wußte es nicht –, nur fand er sich, als er seiner – sagen wir: bürgerlichen Vernünftigkeit wieder mächtig war, schwer atmend in der seinem Tisch gegenüberliegenden Ecke des kleinen, sonst leeren Weinzimmers, ohne sich erinnern zu können, daß er aufgesprungen und aus welchem Grunde er die sechs oder sieben Schritte irgendwohin zu tun sich genötigt gefühlt; immer noch schwer atmend, aber nun nicht etwa mehr erschrocken oder bestürzt, setzte er sich wieder zu seinem Glase, dessen Inhalt noch leicht zitterte, gerade als ob es vor wenigen Sekunden niedergesetzt oder durch ein Rücken des Tisches beim vielleicht unvorsichtigen Aufstehen kaum merklich erschüttert wäre, ein Zeichen, daß zwischen Verlassen und Wiedereinnehmen seines Sitzes nur ein Räumchen, ein Nichts an Zeit hineingehuscht, vorbeigefahren und schon wieder verschwunden war. Er saß, und das Bild, der Träger dieser ihn aus den Bezirken seines bisherigen Erlebens scheuchenden Erfahrung überfüllte großmächtig, wie es vor den Augen gestanden, mit wilder Gewalt sein ganzes Wesen. Er hatte gesehen, und dann war der geteilt gewesene Vorhang zwischen dem Bild und den Augen zugeschlagen, und als Rest blieb ein gnadenloses Erkennen jener Größe und seiner Kleinheit, besser vom Einssein des Ganzen mit dem Teil. Was er nun erinnernd bedachte, als er sein Glas wieder in der Hand gehalten und, ohne daran zu nippen, wieder niedergesetzt hatte, als sei der Wein vom Harren durch eine Ewigkeit verschalt und ungenießbar geworden, war dieses: Es war ein Schatten 60 dagestanden, der von ihm selbst ausging, durch die Wolken stieß, den Mond verdeckte, die Sonne trübte und in den Weltenraum unabsehbar hineinragte, ja ihn erfüllte, denn es blieb kein Raum neben ihm, und wo Welt und Weltgestalt und Raum zwischen den Gestalten der Körper und Sterngruppen war, überall waren sie von dem Schatten, der von ihm ausging, verhüllt und in ihm geborgen, und es war sein Schatten, das erkannte er am Schritt, der dem seinen folgte, und am Heben und Bewegen der Arme und Hände, das dem seiner eigenen Hände entsprach, wie an jeglicher Gebärde, die ihm im einzigen Augenblick bewußt wurde oder die er vollzog, wie man wohl tut, wenn man einen mitwandelnden Schatten auf der Erde eine Hexe zu machen nötigt. Er hatte während der Nichtzeit seines Schauens noch eins wahrgenommen: die Abschätzung eines Körpers in der Unendlichkeit des Raumes, eine Gestalt wie die der Sonne in seltsamer Verzogenheit der Form, glühend, aber wie mit Dunst getrübt, die sich seltsam regte und wie im Krampf zitterte – weit, weit hinten, hoch über die Sonne hinaus, sich dehnte und zusammenzog und stürmisch schlug wie sein eigenes Herz, das im ersten heftigen Erschrecken zu laufen begonnen, so daß man, wäre man seiner wütenden und schmerzenden Bedrängnis unbewußt gewesen, hätte zweifeln können, welches von beiden Herzen dem andern den Anlaß zum Schlagen, mit dem es gegen Lähmung gewaltsam zu kämpfen schien, gegeben hätte.

Waus Blicke, während er noch sann, liefen längs den nüchternen Wänden dieses soeben noch als Stätte glücklicher Geborgenheit stillschweigend gepriesenen und ganz unglücklich proportionierten Raumes. Die Wände waren gestrichen und mit einem experimentierenden Ornament aufgelockert, das der ortsansässige Dekorationsmaler als das der Gegenwart entsprechendste Symbol, als Ausdruck seiner und unserer Zeit aus seinen Vorlageblättern hervorgeklaubt hatte. Da hing das Bild des derzeitigen Staatsoberhauptes im Rahmen des vor kurzem allverehrten Vorgängers, die Pendeluhr in der 61 Ecke querüber maß korrekt Zeit und Stunde nach jenem Wissen von Zeit, das einstweilen noch unveraltet allgemein anerkannt geblieben –, hier ein Stück Hausgreuel gab einem dort an der Wand nichts nach, der ausgestopfte Raubvogel breitete die vermotteten Flügel, der Wein im Glas verlangte frischen Zufluß aus der Flasche – und er selbst – Wau –, war er ein anderer oder noch der alte Wau? Es war wie ein Schuß gewesen, so heftig und auch so durchschlagend, aber sonst schien alles beim alten, nur daß Wau, wie seine Blicke sich an den Wänden stießen, nicht wußte, ob er mit denselben Augen oder solchen einer anderen Fähigkeit zu schauen durch die Wände der Zeit gestoßen und die Grenzen des Raums umgestürzt hatte.


 << zurück weiter >>