Ernst Barlach
Der gestohlene Mond
Ernst Barlach

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Neunzehntes Kapitel

Es war Henny nicht eilig mit dem Kommen gewesen, aber als sie nun doch in der Behausung Waus, längst kein Heim mehr zu nennen, ihm gegenüber saß, war er von ihrer gerade im Augenblick nicht erwarteten Gegenwart überrascht, ja leicht befangen und wie beschämt von einer unverdient großen Gnadengabe. Er sah schnell – sie war verändert, und wußte doch nicht, da die banale Frage, ob zu ihrem Vorteil oder Nachteil, sich verbot, auf welche neue Bahn es mit ihr gegangen sein mochte und ob er wünschen durfte gutzuheißen, was ihr als über ihre Jahre ausgeprägt in der Gestalt zwar wohl anstand, was er aber fürchten mußte, als Spuren bedrängender, aufwühlender Geschehnisse zu erkennen. Konnte es gar als Gewinn gelten? fuhr es ihm durch den Sinn. Wau wäre versucht gewesen, die erste banale Frage zu beantworten, indem er sich gestand, er habe früher an ihrem Aussehen Gefallen empfunden, sie wäre in seinen Augen schön und oftmals zugleich lieblich 89 gewesen. Jetzt war ihr Strenge zugewachsen, ihre Schönheit gemindert, aber es mutete ihn an wie die Modelung nach dem Bilde eines Erzengels, und das Gefallen an ihr hatte, hier wachsend, dort gemindert, die Stärke von früher gewahrt. Ein Überlegener im Wechselgespräch hätte ihn dann vielleicht zurechtgewiesen und gesagt: Das alles ist dein Werk, Wau. Früher suchtest du das Eine und fandest, was du suchtest, jetzt ist dein Blick geöffnet für das Andere, Zweite und Höhere. Beides war schon immer ihr Teil, wohl aber mag sein, daß das Zweite nun ausgemeißelter und durchgeformter ist, so daß es vor dem Ersteren als das Bedeutendere erscheint. Ein Pfiffikus aber hätte wohl das eine Auge zugekniffen und verlautbart: Wo hast du deine Augen, Wau, sie trägt sich nur anders, und daher kommt der neue Anschein, denn es ist nur scheinbare Veränderung, die dir auffällt. Die Frauen stilisieren sich vermöge der Konfektion nach Belieben, sind die alten, guten, lieben und bleiben es auch bei der nächsten Veränderung. Heute beliebt die Strenge, und morgen, wenn sie will, gelingt ihr das anschmiegsame Weibchen – alles Konfektion! Und Wau, wenn er Zeit zu derlei Ausdeuterei gehabt, würde den Pfiffikus vielleicht befragt haben: Aber warum beliebt sie heute Strenge? Worauf ihm denn wohl jener die Antwort nicht schuldig geblieben wäre.

Wau entraffte sich seiner Befangenheit und fragte geradezu: Bist du jetzt glücklich, Henny? Sie, ohne gleich zu antworten, bog sich im Stuhl zu ihm hin, legte den Arm auf die Lehne, barg die Wange in der Hand und sah mit treuherziger Güte, ja fast heiterer Herzlichkeit in seine Augen. Wau fühlte sich einen Augenblick von dem Vorempfinden ungewisser Seligkeiten durchschauert, aber nur einen Augenblick. Dann wandelte sich das Vorempfinden in ein Vorwissen, aber ein solches unseliger Dinge. Ihr treuherziges Blicken voll Güte war das des Reichen auf den Armen, ja Armseligen, ihre Herzlichkeit war von Mitleid erdrungen. Bist du wohl glücklich, Wau, fragte sie endlich, oder hast du auch 90 nur ernstlich vor, es zu werden? Lassen wir das Reden von Glück den Backfischen, wir beide wissen es besser, und du hast es auch wohl anders gemeint. Glaubst du eigentlich, daß schon jemals in der Welt ein Mensch den anderen wirklich – sie suchte ein Wort, fand und verwarf es, sagte endlich, halb zornig – durchschaut hat? Ich sage dir, man weiß nichts von einem anderen, und, was schlimmer ist, man erfährt bei allem Mühen nur das Falsche. – Und als glaube sie, schon zuviel preisgegeben zu haben, und fürchtend, es möge als Klage über erlittene Enttäuschung ausgelegt werden, richtete sie sich im Stuhl gerade und ließ nur noch halblaut wie Belanglosigkeit fallen die schrecklichen Worte: Besinnen wir uns darauf, daß wir nichts für uns sind, immer nur das Gute oder Böse für jemand anders, wie er für uns – ach, diese Gegenseitigkeit, die uns aufhebt, die uns zu nichts macht . . . und doch –, aber das war schon wie ein in Vergeßlichkeit zerpflückter Redefetzen, zerpflückt und achtlos aus der Hand gefallen. Sie wollte es auch wohl kaum gehört und verstanden wissen, denn als Wau in gut verborgenem Jähzorn, aber doch ausbrechend wie gegen eine Ungehörigkeit, in kränkendem Ton der ausgemachten Gelangweiltheit sagte: Ich weiß das – es ist aber schon lange her, daß ich es für wichtig genug hielt, mich darauf zu besinnen . . ., sagte sie wohl wie auf eine Selbstverständlichkeit, auf die ein Eingehen kaum lohne: Ja – lange her, nicht fragen, sondern bestätigen, hielt aber seinen forschenden Blick, den sie fühlen mußte, abgewandt und völlig regungslos wie frei von jeder Hingenommenheit durch Gedanken oder Gefühle minutenlang aus. Dann aus plötzlicher Eingebung und das Ganze der besprochenen Fragen von sich abtuend, immer noch abgewandt, bat sie munteren Tones, doch ohne zu verbergen, daß die Munterkeit erzwungen war, an einem der renommierten Wauschen Gartenfeste teilnehmen zu dürfen. Als Frau vom Hause gewissermaßen . . . fügte sie mit einem Anflug von Schalkhaftigkeit hinzu und vermied dabei immer noch, Wau anzusehen, der nun seine frühere Bemerkung bereute und, 91 Atem schöpfend, sich den herzlichen Wunsch einflößen ließ, ganz befreit, natürlich und daher auch ganz aufrichtig zu sein. Gartenfeste – nun ja, du sollst sehen, wie Wausche Gartenfeste aussehen, aber vorher laß dir erzählen – willst du? Sie sah jetzt auf, fand seinen Blick und nickte. Wau erzählte. Es ging ihm beim Erzählen wie uns allen, wenn wir unsere Angelegenheiten vortragen. Entweder wollen wir beschönigen oder uns mit Vorsatz nicht schonen. Das erste wollte Wau nicht, das zweite geriet, so gut er vermochte, stockend und Überschlagenes nachholend, auch wohl zu weitschweifig in Einzelheiten, wobei es denn nicht fehlen konnte, daß bei der Ausmalung eine ungewollte Beschönigung besonders des Wahlschen Handelns unterlief. Im ganzen, als er schloß, war er zufrieden und endete, ihre Schalkhaftigkeit nachahmend, mit den Worten: Also als Frau vom Hause Henny – auf zum Gartenfeste! Denn bei dem von den eigenen Ohren mitvernommenen Bericht war ihm gewesen, als höre er alles aus fremdem Munde und aus fremder Betrachtung – und so dargestellt, war ihm klar geworden, daß etwas nicht in Ordnung war, war er zur Einsicht gelangt, daß nach dem Rechten gesehen werden müsse, und zwar ohne Aufschub. Er stand auf und sah wartend Henny an, die verwundert fragte: Jetzt gleich – gibt es eine Verabredung für heute? – Während er erzählte und während er seine Anstalten zum Aufbruch traf, spürte er den Wurm des Gewissens an der Arbeit – hatte er nicht eine häßliche Sache ihrem Verlauf überlassen, der fraglos kein guter sein konnte? Und warum die hochfahrende Abtrumpfung jener letzten Worte und Gedanken Hennys? Ja, das wußte er wohl, ihn erbosten solche Überschreitungen der ordentlichen Denkweise ins Gebiet der Ahnungsgewißheiten, er empfand Derartiges als arrogant – unweiblich und geistigen Hochmuts verdächtig, er hätte Vermutungen gelten lassen als Versuche, aus der Ratlosigkeit zu erklärenden Vorstellungen zu gelangen –, aber wie sollte er die hämische Abfuhr wieder gutmachen, die er ihrem Manifest von der Gegenseitigkeit erteilt hatte, in der wir 92 selbst zu nichts werden? Im Augenblick hatte es ihn wie unbescheidenes und allzuleicht gesetztes Besserwissen auf einem dem Wissen schwer zugängigen Gebiet abgestoßen. Was war sie denn für eine Frau, da ihr doch Belehrung von ihm, dem Manne, besser angestanden hätte. Aber war ihm denn nicht vor wenigen Minuten die Vorstellung von ihr als einem mehr männlichen denn weiblichen erzengelhaften Wesen selbst gekommen? Dies alles wogte auf und nieder in ihm, während er vorschlug, sich zum Gang in den Garten fertigzumachen. Sie gingen. Die Pforte, als statiöses Tor ausgestaltet, war angelehnt. Der fragende Blick ins Grüne bekam die Antwort, daß hier alles in gehöriger Ordnung gehalten sei, das Ohr aber, dem Häuschen zu angespannt, empfing die Belehrung, daß Unterhaltung, und zwar solche, die vor allem dem Veranstalter wohltut, sich drinnen rege, denn niemand, der seine Hände an einer Ziehharmonika, wenn auch mit gemäßigter Energie, turnen läßt, tut es unter anderer Überzeugung als der Fütterung von fremden Ohren mit bester Kost. Was ihm gut tut, wie er dies unverhohlen gesteht, wird nicht verfehlen, den Zuhörern noch inniger und fülliger einzugehen, als es ihm ausgeht. Eine zarte Singstimme, oder war es leichtes Kreischen, sogar Wimmern, ward vom Öl des Vortrags eingezogen, verrührt und eingesogen, man konnte zweifeln, war es ein Nebenlüftlein vom klingenden Balg oder eines Wiegenkindleins lustleidiges Wagnis, die leeren Stellen der Unterhaltung auszufüllen. Wau und Henny traten ein. Hatten vordem die weißbehandschuhten Hände eines Lohndieners Waus Unbehagen ausgemacht, so wurde ihm beim Anblick zweier Schlosserfäuste auch nicht wohl. Diese Schlosserhände waren es, die der armen Ziehharmonika auspreßten, was ihr schwelgend an gärender Brünstigkeit innewohnte. Der frischgebackene Ehemann der älteren Schwester Friedas war ihr Besitzer, Vater des Würmchens, mit dem Stimmchen aus den Windeln und den Vorgeschmack eines schlechten Lebens im Munde kümmerlich beklagend, und Karla, die Familienfreundin, spreizte unbefangen 93 ihre Beine, als tue sie es zu möglichst ausgiebiger Kühlung der Hitze, an der ja nicht sie, sondern das von Wahl aus Waus Kasse gelieferte Getränk die Schuld trug.. Die aufreizende Heiserkeit ihrer Stimme schmorte im Raum und polsterte wie Spinnengewebe Winkel und Wände mit Ludergemütlichkeit. Ein und noch ein jüngerer Jemand, ungewiß ob derzeitiger oder zukünftiger Kavalier Karlas oder vielleicht Friedas, zierten Waus andere Liege- oder Sitzgelegenheiten hinter dem Tisch. Wäre Wahl zur Stelle gewesen, er hätte triumphiert und das bereitgehaltene Zauberwort zur Beseitigung des ganzen Spuks über die Lippen springen lassen: Raus mit der ganzen Bagage! Aber wo war Frieda? Wau brachte die Frage nicht über die Lippen, als Karla, alte Bekanntschaft markierend, die Honneurs machte und dem Wauschen Ehepaar eine Sitzgelegenheit fand, ohne sie gerade in die Ecke zu weisen. So, so dachte Wau – also nach dem Rechten soll gesehen werden, aber wie und wo anfangen? Und als er dann einen Seitenblick Hennys mehr fühlte als mit den Augen wahrnahm, ließ er noch eine Pause stillschweigend verstreichen, um danach als ausgemacht ansehen zu dürfen, daß die Ziehharmonika es sich endgültig versagt habe, das Wort zu behalten. Dann wandte er sich an die junge Mutter und fragte ziemlich laut: Wo ist denn Ihre Schwester Frieda? Die Gefragte hatte wichtige Hantierungen mit dem Plunder, den das Kindchen nicht mit auf die Welt gebracht hatte – warf dabei einen Blick der Hilflosigkeit auf Karla – und Karla, heiser und geradezu rauh ansetzend, ließ sich die Eröffnung des Gespräches, wenn auch auf Umwegen, zuschieben, besann sich auf ihre Übungen im gebildeten Gesprächston, und bekannt, wie sie ja waren, begann sie damenhaft zuversichtlich: Ja, ja, Herr Wau, Frieda . . ., worauf Wau, dem in diesem Augenblick Wahl von hinten ins Ohr zischelte, die Gelegenheit ersehend, mit dem Ausräumen wenigstens eines Teils der Unliebsamkeiten zu beginnen, – sie unterbrach und die Frage von vorhin merklich schroff an die Schwester wiederholte, die, im Wortgemenge mit Hinz und Kunz gewiß nicht 94 auf den Mund gefallen, hier ganz versagte, errötete und zur Auskunft offenbar unfähig war. Frieda selbst ersparte ihm weitere Erkundigungen; denn sie stand plötzlich vor der Tür auf der Veranda, wie Wahl die wenigen Quadratmeter überdachten Vorraums so unermüdlich genannt hatte, daß sie sich nun selbst als Veranda vorkam, stand und getraute sich nicht näher, klammerte sich an ihre Last von Paketen und wich sogar bis an den Rand der zwei Treppenstufen zurück, als Henny auf sie zutrat. Henny, die das Drücken leichter Sohlen auf dem leichten Sand des Gartenweges wahrgenommen, bevor dieselbe leichte Sohle fast unhörbar über die Stufen schlüpfte, und die draußen stand, bevor die Erwartete eintreten konnte. Dabei zog sie leicht die Tür nach sich und ließ vermuten, daß sie mit Frieda allein bleiben wolle. Frieda machte Miene, mitsamt ihren Paketen im Boden zu versinken, aber Henny faßte nach den mancherlei knisternden Papierhüllen und legte sie nebeneinander auf das eine der schmalen Bänkchen zu beiden Seiten, auf das andere drückte sie sanft das fassungslose Kind und setzte sich zu ihr nieder. Unterdessen mußte Wau drinnen einsehen, daß es mit dem Ausräumen von Unliebsamkeiten nicht so flott voranging, wie man sich solches Geschäft überschläglich denkt. Der jüngste der beiden Jüngeren, an der Wand hinterm Tisch anscheinend wie für immer postiert, August genannt, erwies sich als Friedas »Bräutigam«, und heute war Verlobungsfeier, zu der noch eine oder gar zwei Mütter, Augusts Onkel Vorholz und weitere Gäste erwartet wurden. Das Vertrauen in Waus wohlwollende Patenschaft bei dieser Festlichkeit war allgemein, niemand mißtraute seinem ferneren Verhalten als Gönner Friedas und ihrer Sippe, nachdem dieser Zustand einige Wochen Zeit gehabt, gewogen und als weiter ausdauernd gewertet zu werden. August war ein ganz bescheidener, anscheinend vor kurzem konfirmierter Junge und ließ sich eine Art von Märchenglück ohne Argwohn gefallen. Wer ihn in den Sattel dieses frisch voranstürmenden Glücks gehoben hatte, ob sich überhaupt Hände 95 geregt hatten und nicht bloß irgendein Tanzbodenschicksal vorlag, kam nicht zur Sprache. Hauptsache war und fest stand, daß Verlobung gefeiert würde, und zwar ausdauernd und nach gutem Herkommen mit Tanz bis zum nächsten Morgen. Dies alles stellte, das wurde Wau sehr bald klar, eine Reihe von Unabwendbarkeiten dar, und der bombensichere Boden, auf dem sie sich gründeten, war sein eigenes Stillschweigen zu Wahls schon vollzogenen Einfädelungen bei Herbeiführung einer Sachlage, die sich nun zwar als herbeigeführt, aber keineswegs als erwünscht erwies. Indes gewahrte er bei sich selbst stärker und stärker Wahlsches Geraune.

Was nun draußen auf dem Bänkchen geschah, läßt sich wohl nur andeutend mitteilen. Daß Henny mit ein paar Worten die beschrieene Wausche Gartenromantik aufhob und Friedas junge Tage in einen gehörigen Schick zu bringen Anstalt gemacht, kann nur als schnell erledigte entscheidende Regelung der bewußten Fatalität vorausgeschickt werden. Sie sagte kurz: Liebes Kind – und als sich Frieda, mehr durch den Ton als den Sinn der Worte angerührt fühlte und in ihrer Fassungslosigkeit sich ratlos umtat und sich zu einer Art Wundergläubigkeit wandelte, fuhr sie fort: Sie können hier nicht bleiben, ich habe einen Dienst für Sie, und Sie müssen morgen mit mir reisen.

Sie forschte nun nicht weiter nach Dingen, bei denen es ihr auf Feststellungen gar nicht ankam. Noch weniger ermahnte sie oder dachte durch vorteilhafte Belichtung der künftigen Tätigkeit ihres Schützlings oder durch Versprechungen zu ermuntern, Vertrauen und gute Meinung zu gewinnen. Sie hatte solche Mittel nicht nötig, es war ihr gegeben, durch bloßes Vertrauen Gutartigkeit hervorzuläutern, wo sie im Schlummer ungelockt durch Ahnung vom Wert des zarten Gutes unter der Elendsdecke des gang und gäben Gemeinseins lag, anzurühren, was nie zum Aufschluchzen unter weckendem Innewerden gelöst war und noch das entzündende Schmerzlein der ersten Lust am eigensten Selbst nicht erfahren hatte. Genug, das Kind erstaunte und erschrak 96 über das Erschauern und Wogen der ungewohnten heißen Erfahrung, da nun eine fremde Frau ihre Bedrängtheit in solche seltsame selige Flut schwerer und doch tanzender Regungen verwandelte. Sie hatte in ihrer Verlassenheit genug geweint und glaubte noch vor kurzem, sich zu Tode weinen zu müssen, aber jetzt erfuhr sie das Glück des tröstenden Weinens ihrer aus Dumpfheit entpuppten Seele – man hatte nach Freundschafts- und Familienverständnis alles zum Guten zu lenken gedacht, und sie hatte widerstandslos gut sein lassen, was man ihr und ihrer Zukunft dienlich erachtete – sie wußte es nicht besser, als daß der angewiesene gangbare Weg nun beschritten werden müsse. Ein Mann und eine Frau kamen derweilen gemächlichen Schrittes näher, Friedas Mutter und Onkel Vorholz. Seine gute, vielleicht zu umfänglich bestallte Leiblichkeit in aufgebügeltes langjährig gedientes Festgewand gehüllt, sie in saubere Notdurft gekleidet. Wenn sie nicht Frau Wunderlich geheißen hätte, wäre man versucht gewesen, sie als Frau Tränenreich anzureden. Ihnen beiden mißfiel Friedas anscheinender Rückfall in kaum überwundene Trostlosigkeit recht wenig. Onkel Vorholz, der in beachtlichem Selbstbewußtsein seiner Biederkeit noch keine Zeit gefunden, den bei ihm üblichen Ton polternder Gradheit zu beugen und abzustimmen, fühlte sich heftig berufen, des Kindes Schluchzen mit markig geschnaufter Beschuldigung vorsätzlich erneuter Kränkung zu übertäuben. Hennys Kälte und Verstummen gegenüber geschrienen Vorhaltungen verdarb alle guten Aussichten auf Verständigung. Was Onkel Vorholz an landläufigen Unterstellungen und Vermutungen aus der empörten Gutherzigkeit aufhäufte, war ebenso lang wie breit, aber unwidersprechlich, denn niemand wäre imstande gewesen, ihn an Lungen- und Zungengewalt zu überbieten. Die Unterhaltung drinnen im Zimmer brach ab, nur Wau sowie seine sonderbare Gastgnossenschaft traten vor und unter die Tür, und die beiden Jungen, der Bräutigam und der sonstige Jemand, glaubten Onkel Vorholz. nichts nachgeben zu dürfen, obgleich ihnen 97 keine Kenntnis von der Beschaffenheit der empörenden Ursache beschieden war. Als endlich Wau seine Uhr zog und während einer atemlosen Pause an Onkel Vorholz die Frage tat, wie lange er zu sprechen beliebe, verstummte dieser jäh und gurgelte sein Finale, als werde die Stimme im Halse abgewürgt. Waus Überlegenheit leitete ihn zur Manierlichkeit zurück, er deutete nur, ein plumper Versuch, sich zu rechtfertigen, auf die wie zerbrochen dasitzende Frieda, und Wau bat Henny mit auffordernder Miene um eine Erklärung, Henny sagte kurz: Ich habe sie in Dienst genommen, und morgen fahren wir. – Nun gut, antwortete Wau, so kann heute gefeiert werden, und wir sind hier in unserem Hause eingeladene Wirte. – Dem fügte er hinzu, indem er sich zu Friedas Mutter wandte: Sie verübeln uns gewiß nicht, daß wir uns hier selbst einladen und Sie als Gäste bewirten, worauf jedermann sich nicht getraute, etwas Einwendendes zu entgegnen. Das Fest ward also eröffnet, indem Wau den Schlosserfäusten stillschweigend die Ziehharmonika übergab. Onkel Vorholz grunzte, indem er Platz nahm, Vorbehalte und wechselte mit Friedas Mutter bedeutungsvolle Blicke. Henny nahm Frieda an ihre Seite, Karla griff sich den Bräutigam, und die konfliktgeschwängerte Luft ward durch die Bälge des Instruments eingesogen, nach Möglichkeit entpestet und als mit Seelenabdünsten geschwängerte Harmonie wieder ausgeblasen. Daß getanzt würde und Karla fortführe, Stühle wegzuräumen, verbat sich Wau mit Hinweis auf die zu leichte Bauart des Hauses, das, wie er in einem Anflug von Bösartigkeit übertrieb, nur zum kleinsten Teile bezahlt wäre, um unauffällig einen Hinweis auf seine Eigenschaft als Besitzer anzubringen, und erteilte hiermit der allgemeinen Vorstellung von dem Verlauf des Abends eine Absage, die Onkel Vorholz veranlaßte, wiederum vielsagende Blicke mit Mutter Wunderlich zu wechseln. Jedoch einstweilen schwieg er und stärkte den verhaltenen Sturmodem durch fleißiges Trinken. Wau unterlief bald darauf der zweite Taktfehler, denn als Onkel Vorholz nun 98 bemängelte, daß der August doch gar zu offenkundig benachteiligt sei, indem ihm der Platz an der Seite Friedas gebühre, und fortfuhr: Alles was recht ist – aber August ist meine Verwandtschaft, und wir wissen ja alle, wie es von heute an mit ihm und Frieda gehalten werden soll – wobei er zu meinen schien, daß Henny sich wohl an ihres Mannes Seite schicken möge –, erinnerte Wau ihn an seine, Onkel Vorholz', sowie der übrigen Eigenschaft als Geladene im Wauschen Hause. Er bewirte sie alle gern, da sie nun einmal versammelt seien, und gewiß sei August ein ordentlicher junger Mann. Aber er als Wirt müsse sich überlegen, ob eine Verlobungsfeier gerade bei ihm und in seinem Hause am Platze sei, worauf Onkel Vorholz, Mutter Wunderlich durch Wink gleichzeitig zum Aufstehen nötigend, sich mitsamt seiner ganzen gebügelten Schwellbrust aufbaute und sagte, was hier zu sagen war –: Denn, fuhr er fort, nachdem er sich längere Zeit eigentlich nur artikuliert geräuspert hatte, man muß es den Herrschaften lassen, daß sie es verstehen, sich herrschaftlich aufzuführen. Und mit der Aufführung, da können wir bestimmt nicht mit. Aber die gute Aufführung scheint den Herrschaften ihr Hauptgeschäft zu sein – und damit können wir auch nicht mit, denn unser Hauptgeschäft scheint uns wichtiger als die Aufführung. Unsere Kinder anführen, dazu sind wir Ihnen gut genug, meine Herrschaften. Ich aber sage Ihnen, es sollte Ihnen was anderes gut genug sein, nämlich es wieder gutzumachen, und kann Ihnen als Ehrenmann versichern, daß es uns eben man knapp gut genug vorkommen täte, wenn Sie es an Ihrer Stelle so ähnlich bedächten wie wir. – Nach noch manchem markigen Satz aber machte er Fäuste und ließ ihre Schwere vor der Front seiner Brust auf- und niederwiegen, aber sie drohten nur in der Aufgebrachtheit seines ungestümen Gemüts und wogen die Last der herrschaftlichen Schuld mit gottgerechtem Zorn – und, siehe, sie war ohnegleichen, und der Schlag, der sie zerschmettern sollte, fiel. Die rechte Faust packte zu und zog die Uhr aus der Weste, und es schien, als hätte 99 er sie aus dem Gedärm gerissen. Jetzt ist es Zeit für mich, nach der Uhr zu sehen, sagte Onkel Vorholz grimmig triumphierend und ohne Räuspern oder Stocken. Die Stunde hat geschlagen, Frieda und Ihr andern alle! Er winkte gebieterisch mit der Linken, legte die Rechte auf Friedas Schultern und schob sie in majestätischer Langsamkeit zur Tür hinaus. Karla schien die Lust anzuwandeln, sich von dem so angeordneten Abgang auszunehmen und als der komfortablen Lebenssphäre zugehörig dem Ehepaar Wau mit der Annehmlichkeit ihrer Gesellschaft zu dienen, aber Onkel Vorholz scheuchte sie aus dieser abwegigen Haltung: Du gehörst zu uns! Es klang herrisch genug, und sie entwich als letzte bei dem demonstrativen Auszug des Häufleins Elendsverwandtschaft mit Droh- und Siegermienen. Ein Mann aus seiner Mitte murmelte hörbar etwas von »Wiedersehn vort Schwurgericht«, die Büsche verschluckten das Scharren der Sohlen, und Frieda war vom Mantel der Sippenmoral umfangen und eingetan ins Gehege der Familienbetreuung.

Nun, fragte Wau, Henny, wie hat dir das renommierte Wausche Gartenfest gefallen? – Nicht schlecht, antwortete Henny, du hast deine Sache so gut gemacht, wie Wahl es nicht besser gekonnt hätte, armer Wau.


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