Ernst Barlach
Der gestohlene Mond
Ernst Barlach

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Als Fräulein Viereck am Morgen nach dem Skandal im Mehlhornstraßenviertel zum Frühstück Wau einen gut geschmalzten Bericht erstattete, hörte er ihr wie immer hinlänglich geneigt aufmerkend zu, stellte aber keine ihre Aufgeregtheit würdigenden Fragen, machte sich auch aus Bezeugung dankbar erschrockener Erschütterung kein Geschäft, nahm vielmehr offenbar das Kapitel mit seinem ganzen Text hin wie eine der sonstigen Viereckschen Atemübungen längst gewöhnter Art. Er hatte am Abend vorher die Botschaft von dem Freitod Hennys erhalten, und als er, während Fräulein Vierecks Sprudel noch schäumte, aufstand und ihr dadurch eine Pause im Vortrag nahelegte, erklärte er nur, in wichtiger Angelegenheit verreisen zu müssen, fragte nach seinem Koffer und fügte einige häusliche Anordnungen hinzu. Das gekränkte Fräulein beschaffte alles Erforderliche mit auftrumpfendem Fauchen ihrer gehetzten Seele, opferte Gemütsruhe und die ihr so notwendige Gemächlichkeit der Morgenstunde einem rechten Willkürakt und schnaufte durch geblähte Naslöcher wie von urplötzlichem Asthma gequält – aber Wau ließ sie sich sowohl quälen wie von einem Jähzorn spornen, der nur zu freudig, wenn er gekonnt, die Ordnung des Bestandes aller Dinge zu Brei gerührt hätte. Er tat weder Fragen, die durchbohrend kurz beantwortet werden konnten, noch achtete er ihrer Anstalten und des ganzen Fräuleins überhaupt. Er packte und ging.

Ein bißchen, dachte er flüchtig, als er auf der Straße war, ist sie von mir und – nun ja von ihm, Werner, 146 entwichen, wie ich soeben von meinem Fräulein, als ob es ihr nichts ausmache, wessen wir von ihr bedürftig wären, aber das waren nur flüchtige Regungen. Er war des Todes ständig gewärtig und nahm sein Nahen oder wie jetzt seinen überraschenden Überfall hin. Nicht eben gleichmütig, nicht ohne Erstarren seines Innern, nicht ohne Versuchung zum Aufbegehren gegen die Möglichkeit dieses Geschehens. Aber im tiefsten Innern wußte er, daß es so recht war, und hegte, dessen kaum innewerdend, eine Art von zweifelnder Unzufriedenheit darüber, daß ihm über Wichtigkeit und Richtigkeit hierbei die Mitentscheidung vorenthalten sei. Da der Tod sich in seiner Nähe zu schaffen machte, warum war er nicht selbst tot? Eine kindische Art von Eifersucht auf die Bevorzugung eines andern, als ob er, Herr Wau, hätte gefragt werden müssen – aber auch dieses waren ganz flüchtige Bedenken, und noch manche andere ähnlicher Art trogen ihn über die Ahnung, daß sich das Scheiden Hennys von ihm und allem, was sie von sich abgetan, in die Reihe der mit ihm verwachsenen untrennbar ihm zugehörigen schweren Erfahrnisse ordnen würde. Er kam an und vernahm, was ihm beschieden war zu kennen und was für immer in ihm die hehrste Gestalt in der Schar der früheren Toderleider und so Geweihten schuf und was sein Wissen vom Notwendigen und Verhängten und des von der Unerbittlichkeit selbst grausam Vollbrachten bis ins Glühen einer Offenbarheit senkte und vertiefte.

Die Passion ihrer Sterbetage war von einer zur andern Station gleichsam als Tribut für die Befreiung vom Müssen des so gearteten Menschlichen willig der Gnadenlosigkeit dargebracht. Mit ihr sah Wau, alles Verhehlen und Beschönigen ablehnend, dem Grenzenhaften ins ratlose Gesicht und ertrug mit ihr den Anblick des Schuldbewußten, wie er von ihr gedacht und gestaltet war, dessen Werk und der mit seinem Werk selbst nach ihrem Ratschluß zu vergehen hatte. Sie wußte, und Wau wußte es mit ihr, daß ein solcher nicht dulden konnte, sein Werk verworfen zu sehen, daß er 147 Tadel und Urteil erdrücken mußte, und daß er, Auflehnung und Eigenmächtigkeit erdrosselnd, mit Härte und keiner Milde geneigt verfuhr. So war es geschehen, und so wurde es Wau zu eigen. Und doch, in die glühenden Tiefen der Offenbarheit versenkt, und jener Minuten und des für immer zerschlagenen Stundenglases gedenkend, gerannen in ihm unversehens Hochfahrenheit und Besserwissen zusammen. Alles Leid muß einmal kein Leid gewesen sein, war das Wort, das der Rest einer schon fast vergangenen Minute in ihm zur Wirklichkeit und Wahrheit erhoben hatte. Seine Hochfahrenheit aber neigte sich tief vor dem Bilde der ihn und sich selbst und mit ihnen beiden das Ganze der menschlichen Unwichtigkeit verwerfenden Henny, die ihren Schöpfer sterben und vergehen hieß, damit ein Neues erstände in echter Fülle und Bewährung, und die selbst kein Besseres wünschte, als dem Nichts zu verfallen. Kann man hochmütiger sein als sie, fragte sich Wau. Sie wagt das Wort der Verdammnis ihrer selbst, des einzigen, dessen sie sicher und vertraut ist, und mit ihr, da sie sich selbst ausschaltet, mit allem ihr zugeteilten Eigenen folgert sie die Unzulänglichkeit und beschließt das Verderben ihres Schöpfers! Wau fühlte sich mit der toten Henny für immer vermählt und enger als in ihren keimenden, knospenden, reifenden und vergehenden Liebes- und Ehejahren.

Als Wau die Tote sah, erschütterte ihn die Weihe, die ihre Schönheit ins Unergründliche und Unfaßbare steigerte. Nein, dachte Wau, über diese Aussage von sich selbst hat sie nun keine Gewalt mehr, so muß es nun sein Bewenden haben und dabei bleiben, daß auch sie sich zutiefst unbekannt war und all ihr Wissen und Dünken vom eigenen Wesen fehlgeraten. So offenbart im Tode glitten Deuten und Wortgerechtigkeit ins Verhängnis eines bitteren Irrens, und so war ihr Leben ein solches der Selbstverkennung, und obendrein hast du den Urgrund deines Seins gering bewertet. Vielleicht bin ich der einzige, der die Ahnung des wahren Wissens von dir unaussprechbar genug besaß, aber wohl 148 wirklich nur eine Ahnung mit Tasten grober Finger nach dem Hauche deines webenden Seins.

Als der Sargdeckel aufgelegt und die Schrauben zugedreht wurden, kehrte sich Wau ab und ließ alles Weitere herkömmlich verlaufen ohne sein Beisein. Es war ihm, als hätte er eine Ungehörigkeit zugelassen, und er fühlte sich mitschuldig wie am Vollzug einer Untat. Was notwendig und unvermeidlich, war darum noch nicht von der Pflege einer letzten, der allerletzten Zärtlichkeit entbunden. Das Letzte, welches das Beste leise beteuern sollte, durfte keinem Roheitsakt ähnlich sehen, kein Gleichnis einer Abmachung sein, deren eine Bedingung das Verschwinden auf Nimmerwiedersehen des anderen Kontrahenten war. Ein gut verschrobener Sargdeckel – dann bittet der zurückbleibende Teil um gütiges Ungeschorenbleiben in alle Ewigkeit!

Wau hatte Ähnliches schon bei vielen früheren Gelegenheiten empfunden, aber diesmal dünkte es ihn wie Biß einer Viper, er erkrankte von ihrem Gift und mußte sich einer bösen Wallung, einer Durchschüttelung seines ganzen Gefüges überlassen. Er wußte, seine Schritte würden stocken bei dem Wagnis, dem grausamen Schrein zu folgen, ihn der Grube anheimfallen zu sehen, Sand auf den Deckel zu werfen, lauter Vollziehungen nach Pietätsparagraphen, die er nur zu oft nach Vorschrift der Landesüblichkeit bei Trauerfällen durchexerziert hatte. Diesmal konnte er keine Zeugen ertragen, die eben nur den landesüblich gemeinten Schmerz als den regelrechten gelten ließen, und noch weniger konnte und wollte er bezahlte Worte eines bestallten Verantwortlichen für trostreichen Verlauf der Veranstaltung anhören. Das Würdige schien ihm diesmal verächtlich, und der Versuch seiner Unterwerfung unter das Erforderliche mußte unterbleiben.

Seltsame Sorgen, die wir uns machen, dachte Wau, als ihn der Zug heimführte und er Füllen und Mutterpferde auf der Weide ihr grasendes, sprungfedriges, dem Dasein hingegebenes, keinen Ausgang bedenkendes, frommes und geselliges Hürdenleben treiben sah. 149 Es überfuhr ihn mit unsagbarer Heftigkeit, daß er es wußte: Nach den Weidejahren kommen die Fronzeiten, und wenn Alter und Kraftlosigkeit sich geltend machen, kommt der Schinder. Er biß die Zähne aufeinander, und es wurde ihm, als müsse er hemmungslos weinen, was er seit vielen, vielen Jahren nicht getan. Etwas trotzte in ihm auf gegen diesen und jeden Hang der Dinge, der solches herbeiführt. Eine Wildheit, ihm selbst fremd, rüttelte empörend an ihm, aber als die Stunden des Aufruhrs ausgetobt hatten, wiederholte er: Seltsame Sorgen, die wir uns machen.

Zu Hause empfing ihn Fräulein Viereck mit einem von Tränenbächen verwaschenen und entstellten Gesicht. Wau hatte die papierene Botschaft von Hennys Tode auf seinem Tische liegenlassen, und Fräulein Viereck hatte die ganze vorrätige Flut ihrer Mitleidszähren über sie ergossen. Wau entzog sich Weiterungen, konnte aber nicht hindern, daß sie seine Hand erhaschte und küßte, eine Beileidserweisung, die eher einer Waschung oder Salbung aus ihrer von vielem Weinen arg verstockten Nase glich. Aber Wau erkannte durch den dick aufgetragenen Firnis die Farbe des echten Gefühls und wehrte kaum der Nötigung, diese Huldigung an sein schmerzenreiches frisches Witwertum zu dulden.


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