Ernst Barlach
Der gestohlene Mond
Ernst Barlach

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130 Fünfundzwanzigstes Kapitel

Es wäre wohl gut gewesen, wenn Wau Wahls und Bostelmanns nach überstandenem Kater entfesselten Streit über die Bonität von Weinrebes hätte anhören können. Bostelmann verwarf und lehnte ab, Wahl pries und ließ Weinrebe wohl nicht als Helfer am Werk, so doch als brauchbares Werkzeug gelten. Wozu denn aber um Gottes willen, wenn ich das nur wüßte, rief Bostelmann aus, bei was für einer Abart von Projekten ist er brauchbar, Herr Wahl! – Wahl warf leicht hin: Bei unseren, Ihren und meinen, unseren gemeinsamen und uns beiden wohl bewußten, worauf Bostelmann nichts zu erwidern fand, wenn man nicht ein Hochziehen der Augenbrauen und gleichzeitiges Zudrücken der Lider hätte als Zeichen übler Geneigtheit auslegen wollen, an bewußte Verabredungen erinnert zu werden.

Diese Antwort mißfiel Wahl ausnehmend, und er wog die Bostelmannsche Unbeständigkeit haargenau ab, indem er an den Fingern abzählte, bis zu welcher Menge ihre Vorsätze sich doch wohl beliefen, während Bostelmann, an den Sammelband denkend, seine Formulierungen belauerte. Endlich bequemte er sich, weil Wahl den Daumen der Linken zum zweitenmal abbog, als wolle er ihn abbrechen, und somit zum elften der vom apokalyptischen Sozius anscheinend vergessenen Umstände auszuholen schien, Na ja! zu sagen, also gut, bei welcher Aufgabe aber wollen Sie denn nun den Herrn von Weinrebe einsetzen? – Das lassen Sie meine Sorge sein, Bostelmann, gab Wahl leichtsinnig zurück, worauf Bostelmann ihn gewissermaßen zurückpfiff: Ihre, Herr Wahl, wieso? Ich denke, wir sprechen von unseren gemeinsamen Projekten, also bitte: Nichts ohne mein ausdrückliches Einverständnis . . .

Und so ging es munter weiter, aber Wau war nicht zur Stelle und wußte von keinerlei gemeinsamen Zurüstungen der beiden Föderierten. Er fühlte sich in dieser Zeit auf lange erfrischt wie durch wirkliches Geschehen nach einem Traum, der trotz seiner 131 Widersinnigkeit ihn in einen so ernsten und zugleich heiter belebten Zustand zutiefst dringender Empfindungen brachte, daß er einmal wieder aller Mißlichkeiten ledig schien. Er träumte eine Reihe Episoden von Begegnungen mit seinem verstorbenen Vater, einem Manne, der zwar bei seinem Tode nicht älter war, als Wau selbst mittlerweile geworden, kaum leicht angegraut, der aber nun, obgleich von gewohnter Gestalt und Auftreten, doch gegenüber dem Sohn den Abstand der Überlegenheit eines reifen Mannes gegenüber einem Kinde bewahrt hatte. Sie sprachen miteinander, wohl bewußt der Andersart ihrer beider infolge der gegenseitigen Entrücktheit durch ein Lebensalter, und Wau kam sich seltsam scheu und fast schuldbewußt vor, als sei er den berechtigten Erwartungen des Vaters an seine Gestalt und Wesen etwas schuldig geblieben.

Der Vater schien von Sorgen und Verantwortungen unbestimmbarer Art zwar nicht gehoben, aber doch ihre Wichtigkeit und Notwendigkeit erkennend und wohl mit Mühe aber auch Erfolg ihnen gewachsen, wie dem Wesen einer Fremde und ihren nun schon lang gewohnten Anforderungen zugehörig, doch wieder und zugleich der gegen die seine kindlichen Welt seines Sohnes zugewandt, sowohl fern wie nah, anders und vertraut, im ganzen bei aller Väterlichkeit wohl nicht entrückt oder doch einer notwendigen Aufhebung ihrer Gemeinsamkeit gewärtig. Das Seltsamste aber war, daß Wau bei einem Bericht über Geschehnisse in den Grenzen der mit dem Vater in Jugendjahren gemeinsam bewohnten Landschaft – wobei er das Bestreben hatte, alte markante Namen von Städten und Gegenden zu nennen in der Vorstellung, damit Interesse oder Freude aufzurühren, wie man auch Weitgereiste an unvergeßliche Umstände früherer Gemeinsamkeit erinnert – erwähnte, daß er da und da, er nannte den Namen des Städtchens, in dem sein Vater gestorben war, das alte Grab besucht habe, wobei er im Traum keineswegs einen Widerspruch darin fand, einem anscheinend und offenbar Lebenden von dem Besuche an seinem Grabe zu reden. Er fühlte 132 sich nach dem Erwachen und Tage darauf mit Bedauern einer Wirklichkeit entrissen, deren Selbstverständlichkeit und Verklärtheit ihn beglückt hatten. Wenn Waus Vater bei Lebzeiten heiteren Abschied genommen, sich abgekehrt und auf irgendeinen Weg der Wahrnehmung von Berufsgeschäften aus war, so konnte man an einer gewissen Neigung des Kopfes von hinten erkennen, daß er vor sich hinsann und den Anlaß, Fort- und Ausgang jenes heiteren Gespräches noch einmal in Gedanken wie einen Raum durchstrich, oftmals mit ausgemachter Freude am Auffrischen einzelner Stellen des soeben erlebten Aufwandes an Laune oder Torheit zu gutmütig-spöttischer Glossierung im stillen.

Diese nur zu bekannte Kopfhaltung beobachtete Wau an dem davoneilenden Vater nach der letzten aus Traumverborgenheit und Irgendwie geschehenen flüchtigen Begegnung, und er erinnerte sich hierbei, ein paar Worte über die Schwere eigener Lebensfragen fallen gelassen zu haben, auf die der Vater zwar aufmerksam gehorcht, deren weitere Erörterung aber der Abschied verhindert hatte. Jetzt erinnerte sich Wau ziemlich betroffen eines gewissen Zuckens in den Augenwinkeln des schon zum Fortgehen sich Wendenden, der sich plötzlich eines eiligen Vorhabens bewußt war und nur eben schnell noch etwas Notwendiges zu besorgen dachte. Ein flüchtiger und unbeschwerter Abschied anscheinend, aber doch ein solcher auf immer, denn der Traum endete mit ihm. Ja, sagte sich Wau, da geht er und lächelt, macht sich gewiß ein bißchen lustig über meine Sorgen, als ob er wüßte, was ich nicht weiß, und daß da kein wahrer Anlaß zu sorgen und zu klagen ist. – Wie schon angedeutet: er fühlte sich lange Zeit hierdurch erfrischt, wie es das wirklichste Geschehen nicht besser hätte vollbringen können. Man könnte auch sagen: mit herzlichem Vertrauen ins Gute gesegnet.

Wahl und Lundberg hatten ihre Geschäfte im edelsten Wetteifer der Freundschaft begonnen; es konnte besonders Wahl nicht wagemutig genug zugehen. Der Überbietungen an Erfindungen und Kombinationen bei 133 Erschließung des Südens war kein Ende, der eine trieb den anderen voran, um unversehens vom anderen selbst zum immer haltloseren Sturme gespornt zu werden. Das war der glänzende Beginn, der wilde Anstieg. Aber dann kam die Mühe des fortgesetzten Steigens, und in ihr erwies sich Lundberg als der Ausdauerndere. Was Wahl satt bekam, Kleinkram und tägliche Plackerei, war eben gerade für Lundberg die bekömmlichste Übung seiner Kräfte, hier stümperte, dilettierte und erledigte mit Aufschieben der sonst draufgängerische Wahl, hier war Lundberg in ruhiger Sicherheit waltender Meister. Nicht gar bald, aber im Gang der Dinge zur rechten Zeit gab es Gelegenheiten, die zu nichts Wichtigerem als unerquicklichen Auseinandersetzungen benutzt werden mußten. Solchen Gelegenheiten pflegte Wahl auszuweichen, da das Flattern nun einmal die Art war, wie er von Umstand zu Umstand seines Lebens gelangte. Traf es sich dann, daß eine solche Gelegenheit eigenbeweglich am Ort seines Flatterns eintraf, so waren die Auseinandersetzungen für Wahl Übungen unbekömmlichster Art, während Lundberg, ohne in Schweiß zu geraten, in behaglicher Zähigkeit, ja mit Genugtuung tat, wozu ihn die Natur geschaffen, indem er dem Geschäftsfreund geschäftlich zusetzte und in der Tonart und im Tonfall der strengen Sachlichkeit seine Sätze modulierte. Wahls empfindliche Ohren aber benötigten dringend der Schonung.

Um sich der Schädigung durch solche Mißlaute zu entziehen, versetzten sie sich künstlich in den Zustand der teilweisen Ertaubtheit, indem sie wie durch ein Sieb besonderer Ordnung nur das Erwünschte und eigentlich Überflüssige der Bestandteile von Lundbergs lang und breiten Sätzen passieren ließen, und wenn Lundberg etwa proklamierte: So kann es entschieden nicht weitergehen, konnte Wahl ihm zwar nicht wie Bostelmann raten, unbesorgt zu sein, es solle seine eigene Sache sein, wie es weiterginge, aber es fiel ihm doch jedesmal irgend eine Wendung bei, mit der er dem Problem den Hals umdrehte, so daß ihm für den Augenblick die Luft 134 wegblieb, mit der es Wahls Ohren zugesetzt hatte. Lundbergs Lachen war ihnen bekömmlicher, aber Lundberg selbst fand solche Art, das Wichtige komisch zu machen, auf die Dauer unrichtig. Sie bekamen im Ernst miteinander zu tun, und schließlich riefen sie die Meinung von Anwälten an und fochten ihre Sträuße auf dem Boden der Gerichtsstätten aus. Daß Lundberg stets mehr, Wahl aber immer weniger als genügende Geldmittel besaß, war für Wahl ein hinreichender Beweis für die Güte seiner Sache, denn: nicht wahr – triumphierte er Wau gegenüber –, wie können Geschäftsfreunde so ungleich begütert dastehen, da dem Stand des Gewinnes bei ihren Geschäften ein freundschaftliches und billiges Ebenmaß gebühre?

Wau widersprach nicht – er hatte selbst zu tun mit Abtragung von Verbindlichkeiten, die Wahl eigenmächtig für ihn aufgehäuft hatte. Wahl wunderte sich selbst, wie hoch solche Ansprüche an Wau gewachsen waren, die er doch alle in fürsorglicher Meinung veranlaßt hatte. Eigentlich, meinte er, dürften solche Erledigungen gut und gern einstweilen ruhen, und Wau möge es ihm nicht verargen, wenn er ihm das Lange und Breite seiner eigenen unverschuldeten Schwierigkeiten darlege und bei dieser oder jener Unumgänglichkeit auf ihn rechne. Wau widersprach auch hier nicht, ihm war Haben und Nehmen ferner als je, und Geben ließ er als eine Sache gelten, die immer ihren Vorrang behielt. Wahl war ja auch ein zartfühlender Nehmer und erleichterte Wau die Ausübung des Gebens, indem er sich zuvorkommend mit Unterschriften Waus einverstanden erklärte und ihm die Fülle des freudigen Danks dennoch nicht schmälerte. Es war ein Vergnügen, Wahl gefällig zu sein, wenigstens im Augenblick des Falls, und Wahl schien sich dieses Umstandes wohl bewußt, und es war nicht zu verkennen, daß er Wau ein Vergnügen dieser Art herzlich gönnte.

Ein Zufall brachte es in diesen Tagen zuwege, daß Wau, durch den Sandberg kommend, in die Klöterstraße einbiegend, Karla begegnete, Karla wandelnd auf 135 Sohlen weißer Schuhe, wandelnd, was Wau bei sich vermerkte, wie auf Engelsfüßen. Denn diese Füßchen schweben übers Irdische hin, berühren den Boden Tritt für Tritt und werden doch Schritt für Schritt von ihm wieder hochgefedert. So kam sie auf Engelsfüßen herangeschwebt und verschwand. Und die andere Gestalt, Waus nächste Begegnung, freilich auf der anderen Straßenseite, das Urbild eines unselig gesegneten Kindes? Sie ging, wie Frauen zu gehen pflegen, die meinen, verhehlen zu können, was sonnenklar und offenbar ist. Frieda, kaum alt genug, um wissen zu dürfen, was an, in und mit ihr vorgegangen, in aller Unschuld zum Zornerleben des Irdischen verurteilt und Waus ungewissen Blick schauend, willens, mit dem Gemäuer der Häuser zu zerschmelzen, wenn es anginge, kam näher, schleppte ihren Schatten vorüber und verschwand gleichfalls. Waus Herz ward heiß in der Brust. Er wußte zu gut, daß er nicht der Vater dieses vorübergetragenen Wesens war, aber daß er dafür galt und daß sein die Schuld und sein die Berufung zum Teilhaben an allem Zukünftigen dieser zwei Kinder sein würde. Dieser Abgrund vor seinen Füßen tat sich auf, als solle er stürzen und versinken.

Aber Wau wäre nicht Wau gewesen, wenn er sich so hätte verschlingen lassen. Er ließ das Wort Schuld und den Schein dessen, was Schuld erwies, in sich zunichte werden, vergehen und auslöschen. Er überschritt den Abgrund vor ihm wie auf .Engelsfüßen, dachte nicht und wußte nicht, wie ihm geschah, als er aber jenseits festen Grund spürte, war ihm zugleich, wie auf dem Engelswege empfangen, ein Wort geboren, das er in sich hegte wie eine heißblütige Frucht im Weiberleibe, und er sagte, in seinem Tiefsten erglüht: Er ist der Dritte von uns dreien, und alles andere ist einerlei. Des Grotesken dieser Vorstellung wohl bewußt, belebte sie ihn doch mit sonderlichen Regungen. Er ging wundersam leichten Fußes und auf das Regen seiner Gefühle wie Schwingen von Flügeln achtend im Gemach auf und ab, sprach in sich mit sich selbst und gab doch keinem 136 seiner Worte Laut, formte sie dennoch mit heiterer Bedächtigkeit, als wäre es ihm aufgegeben, jedes einzelne nach dem Lot zu setzen und mit dem Eisen der ziemlichsten Vernunft zum unerschütterlichen Ruhen und Lasten eines auf dem anderen zu graden und zu glätten.

Wie allein er war, so zwiefach war sein Bedacht von Frage und Antwort. Er spürte das Walten des weltfüllenden Schattens, dessen, was ihm als sein Eigentliches bewußt geworden, und sprach vor ihm, als ginge alles zu mit Rede und Gegenrede.

Was ist der Schatten, zu dem ich mein Wort erhebe, wenn nicht ein Schaffender? Und ich, mit Worten Gemästeter, wer hat mir eingegeben, daß ich rede wie ein Buch – und warum tut er es nicht mit schaffenden Worten?

Es sei, da es sein soll: Der Endlose, der Mächtige, der unhörbar den Weltraum Durchschwingende hat über mich den Fluch des Wortemachens verhängt. Brauchte ich nicht zu reden, vielleicht könnte ich schaffen. Worte, du Guter, sind der Abfall seiner Größe, der Unwert seines Werts, und wo ich aufhöre zu sein, da hat auch das Wort sein selbiges Ende. Was bleibt mir, als durch meinen Unwert seinen Wert zu erweisen? Darum, immer Worte gemacht, viele und frische, es kann nicht genug werden der strömenden und stürmenden Töne, und immer besser weißt du es nun: Je mehr ihrer und solcher und gleicher im wilden und wütenden Sausen meines Odems, überall und immer, zwischen und über ihnen schafft der schweigende Schatten – und also redend und meine Wortschwingen schlagend rühre ich an das stille Schaffen, und wie anders als so kann ich am Schaffen teilhaben, als in Mehrung seines schaffenden Schweigens durch rasenden Mord am eigenen Schweigen im Reden ohne Unterlaß beizutragen?

Das, sage dir selbst, ist dein gesegneter Fluch, durch den ich mitwirke an schaffender Gewalt.

Da bin ich rühmlich aufgehoben: Im Nichtsein als dem Abhub des Seins, oder wäre das Nichtsein etwas 137 anderes als die nächste Folge des Seins? – Und so bin ich als Schlechtester wohl der Bruder der Besten.

So aber er uns dereinst des Fluches zum Wortemachen entledigt, dürfen wir tun wie er und uns des Schweigens befleißigen, schweigen wie er und schaffen wie er, da er uns am Tun seiner Gewalt zuläßt.

Mit den Worten, summte es in Wau, hören auch unsere Begriffe auf, und im Sturm des schöpferischen Geschehens vergehen sie wie der Odem unseres Leibes und Mundes im Wirbel der schaffenden Himmel.

Und du, so besann sich Wau, du willst die Begriffe zerbrochen wissen, die es ohne gestaltetes Wort nicht zu sein vermögen, so daß es sie nicht im Sein leidet? Worauf besinnst du dich nun? Ich besinne mich auf das Höchste des Geschehens, sprach der eine Wau zum andern. Das Höchste ist, daß das Gewesene dereinst nicht gewesen sein wird und mit ihm alles Leid aller gewesenen Zeiten.


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