Ernst Barlach
Der gestohlene Mond
Ernst Barlach

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Dreißigstes Kapitel

Die Veränderungen an dem zarten Leibchen des Kindes, wie Henny in ihrer Mahnung an Wau Frieda genannt hatte, erforderten einige Änderungen an der Hülle dieses Leibchens, leichte und billige Zustutzung, für deren Vollzug die Mussehl bei einer Begegnung ein oder anderes Abendstündchen ausreichen lassen wollte. Eine kurzfristige Unauffälligkeit der allbekannten Tatsache war immerhin erwünscht, und also fand die Mussehl mit Nadel und Schere Zugang in dem ungeräumigen Gehäuse von Mutter Wunderlich, die zwar Besitzerin eines sogenannten Hauses, eines winzigen Frontstückes im Sandgang war, das aber doch mit Hilfe einer Nummer als ordentlicher selbständiger Bestandteil der Straße in der Reihe der anderen galt. Kein Backstein und keine Fenstersprosse war mehr Wunderlichsches Eigentum, aber immer hieß doch die Bewohnerin Besitzerin, solange sie und ihre Nummer im Grundbuch des Rathauses auf einer Seite für sich standen. Die Mussehl kam und kam noch ein und anderes Mal, gut gelitten, wie solche einschmeichelnden Erbärmlichkeiten immer da sind, wo sie gerade sind. Um Zunge und Fingerhantierung frisch zu halten, tat die Kaffeekanne das Ihre. Wallendes Wasser war immer zur Hand, und der Ausfluß in die Tasse war zwar dünn, aber entschieden noch 167 bräunlich, und der letzte glich dem ersten so gut wie recht und schlecht einander gleichen, wenn man es mit einem oder zwei Buchstaben gleich oder anders nicht peinlich genau nimmt.

Es ließ sich nicht verkennen, daß Frieda durch die Besuche der Mussehl eine leichte Besserung ihrer trübseligen Gemütslage erfuhr. Die Angst, die mehr und mehr in ihr mächtig geworden, wich auf Stunden, wenn die Mussehl sich einstellte, die mit ihrer bescheidenen Sicherheit in allen Dingen gleichsam Hebammendienste an ihr vorprobierte, indem sie äußerlich abschwächte, was ihre Mutter und ihre Geschwister ohne Arg, aber ohne Bedenklichkeit als ein unverkennbar »so weit gekommen« bei den unwichtigsten Gelegenheiten zu erinnern nicht unterließen. Weiter hatte die Mussehl die Gabe des Erzählens, und wenn sie ihren Faden ins Nadelloth hatte schlüpfen und den Knoten am Ende mit Hilfe von etwas Spucke geschürzt hatte, lehnte sie sich zurück und verhieß mit eindringlichem Verweilen ihrer Eulenaugen auf den Mienen der Wartenden die befriedigendste Fortsetzung des unterbrochenen Berichts über nichts und alles. Ihre Art zu unterhalten brachte Frieda Vergessen der sonst ständig gegenwärtigen Unheimlichkeit.

Sie sprach Gutes von den Guten, und es kam immer ein wenig so heraus, als sei es aus ihrer Güte so und als Eigenschaft dem Guten von ihr verliehen. Aber, versteht sich, was sie von den Bösen zu sagen hatte, war eben der Bösen selbstige Schuld, denn was nun einmal leider war, wie es war, konnte und durfte nicht beschönigt werden, wenn alles nach Recht und Billigkeit vor sich gehen sollte.

Von Wahl gab es nur Gutes zu berichten, wenn auch die Erwähnung Wahls, des Sohnes, im Schoße der Familie Wunderlich der Mussehlschen Engbrüstigkeit gedämpfter als anderes erpreßt wurde und hauchverloren wie der Rest eines verwehten Windes und magersten Tones nur gespitzten Ohren hörbar wurde. Aber Wahl war ein Mann, der Vertrauen verdiente, wenn 168 andere es auch nicht wahrhaben wollten, das ehrbare Wohlwollen selbst, Wahl der Sohn. Vom Vater Wahl wußte das Mussehlsche halb erstickte Vögelchen in der Brust so wenig zu piepen, als wäre Wahl der einzige Mann in der Welt außer Adam, dessen Vaterlosigkeit gerichtsnotorisch feststand.

Eines Abends, als die Mussehl zum Heimgang rüstete, bog sich Frieda vorsichtig aus dem Fensterchen der Stube, wandte den Kopf rechts und links zum Abhorchen und Ausspähen der dunklen Straße, und da ihr Schauen die Ausgestorbenheit der Straße als unverdächtig bestätigte, so erklärte sie, die Mussehl einige Schritte geleiten zu wollen, um eines Atemzuges frischer Luft willen.

Draußen verstopfte ihr die frische Luft offenbar die Kehle, und als die abgestandene Stubenluft endlich ihr Restchen auszuhauchen begann, war es der Ton eines ebenso halb erstickten Vögelchens, wie das der Mussehl eines gewesen.

Wenn Wahl wirklich ein so ordentlicher Mensch wäre, piepte es, so möchte sie ihn wohl, wenn es anginge, einmal sehen, da sie etwas zu sagen hätte . . . wobei sie abbrach und dem scharf gespannten Ohr der Mussehl die Mühe des angestrengten Horchens nicht ersparte. Sie dürfe es niemand sagen als Wahl selbst, wenn es anginge, kam noch eine matte Lautwelle als ganze Antwort auf der Mussehl ermunterndes Fragehüsteln hervor, dann war die Stubenluft ausgeatmet, und Frieda sog die frische Nachtluft, das Stillschweigen selbst, in sich, schwieg und wartete. Wartete nicht gar lange, denn die Mussehl benannte, künstlich zögernd, als besänne sie sich dabei aufs Rechte, die Stunde und als Ort des Treffens ihre eigene Wohnung, zog sie noch mit bis dahin und nötigte sie für eine Minute hinauf, indem sie das verschüchterte Kind mit der Gelegenheit vertraut werden ließ, damit ihr das Kommen auf den Glockenschlag durch Befangenheit an fremder Stelle nicht so hart verleidet werde, daß sie vor der unbekannten Haustür verjagt umkehrte.

169 Wahl erstaunte, als Weinrebe, aufgeregt, als hätte er einen Goldklumpen auf einem Misthaufen gefunden, auf ihn einstürmte und versicherte, nun sei alles gewonnen, er staunte und ahnte keineswegs Gutes. Aber er hatte bei guter früherer Routine in allerlei Unpäßlichkeiten seines Lebens letzthin tüchtig zugelernt, er klopfte Weinrebe lobend auf die Schultern und sagte, guten Glauben markierend: Gut, gut, Weinrebe, bravo, alter Kunde in faulen Sachen, gehe hin und sag ihr – er meinte die Mussehl –, ich bin zur Stelle wie der Erbe bei der Testamentseröffnung. Los, marsch, Mensch, damit nichts schief geht. – So scheuchte er ihn davon, denn Weinrebe hatte sich wegen dieser promptesten aller Erledigungen einer Triumphfeier bei ungezählten Flaschen versehen.

Wahl traf seine Vorbereitungen mit überlegener Sicherheit. Es schien ihm geboten, zwar nicht in Trauerhabit wegen seines leider so tief unglücklichen Vaters, so doch in ernsten Farben zu erscheinen, aus dunklem Rahmen streng und schwer gemutet herauszuschauen und den Bann eines Abstands der unerschütterlichen Hochvornehmheit von der Ahnungslosigkeit und Simplizität des bewußten und gehaßten Quartiers zu beschwören.

Vor dem bestimmten Glockenschlag saß die bei erzwungener Steifheit offenbar fassungslose Frieda auf ihrem Stuhl am Fenster gegenüber dem leeren Stuhl Wahls, der sich verspätete. Die Mussehl spann ihre Fäden der gut gespielten Gleichmütigkeit und sprach vom Wetter. Dann knarrten die Treppenstufen, und Wahl trat ein.

Schon der erste Blick auf Frieda mißfiel ihm. Sie stand nicht auf bei seinem Erscheinen, wie er es als selbstverständlich vorausgesetzt und was sie bei Begegnungen im Wauschen Gartenhause getan, erwiderte auch seinen Gruß nur mit einer wirren Gebärde, als wüßte sie nicht, was sich ereigne, sondern bewahrte ihre Steifheit, als er ihr gegenüber saß, und ließ das Schweigen sich ausbreiten, als wäre man eben zu nichts 170 als stummer Geselligkeit hergekommen. So sprach denn die Mussehl weiter vom Wetter und betätigte sich in ihrer zukünftigen Rolle als Zuhörerin, indem sie eine Unterhaltung spann, die in jedem beliebigen Augenblick wie ein Zwirnsfaden abgerissen und achtlos beiseite getan werden konnte.

Wahl war ein zu erfahrener Mann, um sich bei Frauen den Luxus des Scheines der Ungeduld zu gönnen. Er ging wohl endlich ein paarmal im Zimmer hin und her, aber mit der wohltuenden Miene eines Freundes, der warten kann und will. Es mochte kommen, was wollte, keineswegs aber durfte die Zusammenkunft abgebrochen werden, und bis das Wollen des Kommenden reif und von Freiwilligkeit erfüllt war, hieß es, behutsam auftreten. Freilich war Friedas Tüchlein in ihren Händen vom unablässigen Drehen und zerrenden Winden verknüllt und zum Gebrauch gegen jetzt ausbrechende Tränenflut unzureichend geworden. Sie bog sich mit dem Gesicht aufs Knie hinab und schüttelte sich unter den Stößen eines Kampfes innerer Spannungen, deren Wut zum Ausgleich gebracht zu sehen Wahl hoffnungslos fern schien. Wahl und die Mussehl wechselten ernste Blicke, und Wahl zog seine Achseln bedenklich hoch. Situationen dieser Art dürften ihm vom Lenker aller Dinge eigentlich nicht zugemutet werden, da er keine Organe bekommen hatte, deren Mechanismus hier verwendbar war. Er dachte schon an Abbruch der so drohend aussichtslos gewordenen Veranstaltung, als plötzlich Frieda aus ihrer Zusammengebrochenheit auffuhr. Sie richtete sich steil auf und sah auf Wahl, während ihre Tränen ohne Schluchzen fortrannen, öffnete den Mund und quälte offenbar ein Wort, das wie ein Stein im Grunde versenkt und für immer unbeweglich im Tiefsten zu liegen verdammt schien, sich zu rühren und zu kommen, wohin es sollte, als Laut ins Freie.

Wahl begegnete ihrem Blick wie dem eines Sterbenden, der die entscheidende Schwere des nächsten Augenblicks bestätigt. Es war endlich weniger ein gesprochenes als gestoßenes Wort, ein Werden aus Atemlosigkeit, 171 ein Regen des fast erstorbenen Hauches, die Geburt eines bis zum Letzten widerstehenden Bekenntnisses. Noch ehe sie seine Einsilbigkeit ganz vollendet, gewahrte sie mehr ahnend als erkennend in Wahls Mienen Härte und Kälte. Ihr Vater, hatte sie gesagt und fortfahrend den Vornamen des alten Wahl genannt, als sie schon wieder verstummte, aber doch nicht im Schrecken über das zum schneidenden Ablehnen des weiter zu Hörenden anspornende scharfe Einziehen der Luft durch Wahls Zähne. Er warf mit der Hand etwas wie eine schäbige Unmöglichkeit beiseite und ließ, bevor er eine Antwort gab, die er nach seiner Gewohnheit niemals übereilte, das Auge, dessen Bosheit zu verhehlen er nicht die Selbstbeherrschung hatte, von Friedas nun fast bis zum Abstoßen verzerrtem Gesicht nicht ab. Sie aber, als fürchte sie, einmal zurückgewiesen, das Vorhaben nicht vollenden zu können, dessen Anfang schon ihre Kräfte überstieg, stand auf und tat einen Schritt auf Wahl zu. Dann gewann sie Mut, als stärke sie die straffe Haltung, Mut zu sagen: Er war es; er und niemals Herr Wau, niemals Herr Wau, allein Ihr Vater. Dann überdrang ein himmlisches Lächeln, aus irgendwelchen schweren Verliesen ihres Innern befreit, ihr Antlitz, auch stand sie plötzlich auf leichten Füßen und drehte ihre Gestalt, als wäre sie durchwogt von leichtem Lustfrösteln, und wandte sich wie erlöst von der früheren Gebanntheit und Steife und Gehemmtheit zur Mussehl mit der Frage: Sie haben es doch auch gehört, auf welche Frage deren gewandte Engbrüstigkeit entgegnete: Gehört, o ja, gehört, aber wohl schlecht, wenigstens schlecht verstanden, worauf Wahl seinerseits, in der Mussehl Ausweichen Beistand witternd, nun völlig sicher in Ton und Gebärde zum Sitzen aufforderte, damit, wie er verhieß, alles dieses genügend geklärt und in Gemächlichkeit besprochen werden könne. Sie saßen nochmals auf ihre Plätze nieder.

Wahl hatte nicht ohne Nutzen mit Lundberg und mit sonstigen und sehr vielen Prozeßgegnern zu tun gehabt. Hier und heute in diesem Elendsloch dieses Quartiers 172 fühlte er sich bei einem kürzlichen Zuwachs an Fechterkünsten der bewußten Art geradezu überwältigend siegerisch, denn nicht anders als ein anberaumter Termin vor Richtern und Schöffen erschien ihm allgemach die heutige Gelegenheit. Er ließ eine schickliche Atempause eintreten, die Erwartung mochte Zeit haben, etwas mürbe zu werden. Dann schob er Vater Wahl wie ein aus dem Leim gegangenes unnützes Möbel beiseite und um die Ecke. Von dem Kranken, eines Selbstbewußtseins kaum oder gar nicht mächtigen Manne, zu sprechen, sei eben unangängig. Er schlug in fürstlichem Tone einige zusätzliche Einzelheiten an die Glocke, gedämpft wie einen Trauerzug geleitend, wenige, aber genügende und abschließende. Dann wäre ja, fuhr er fort, unter allen Wissenden die Beteiligung Waus in gegenwärtiger – hm, ja, wie sagt man am besten –, nun ja: Fatalität, von je her nicht anders angesehen, als Fräulein Wunderlich selbst im Gegensatz zu früheren Verlautbarungen bekundet habe. Er wisse für seine Person seit langem, aber jetzt vollends gäbe es für niemand sonst einen Zweifel mehr, daß sie im Augenblick die volle und gültige Wahrheit gesagt, nämlich daß Herr Wau, sein guter Freund Wau, zu Unrecht in Anspruch genommen sei und vielleicht ohne die heutige Aussprache weiter mit beleidigender Beschuldigung gekränkt und in Anspruch genommen worden wäre. Er danke daher dem Fräulein Wunderlich, und das um so mehr, als sie sich zweifellos bewußt sei, daß, was sie heute gesagt, natürlich Änderungen in Maßnahmen zur Folge haben würde. Diese seine Feststellung variierte er mit unmißverständlichen Hinweisen, solchen, die einen einfacheren Kopf als den der Frieda hinlänglich belehrt haben würden. Die Mussehl hob mit der Linken ihre Nadel, kniff das eine Auge zu und visierte mit dem anderen gegen das Fenster, um mit der Rechten dem Faden an seinen Ort zu verhelfen. Durch das Nadelöhr konnte sie Friedas ratlosem Blick nicht begegnen, dem Blick, der ihr die Frage zuwälzte: Und das ist Wahl, dieser gütige Mensch? Die Schneiderin, das spürte sie schnell, konnte 173 ihr nicht beispringen, oder gar wollte es nicht. Auch von dort aus der Sofaecke kamen Kälte und Erbarmungslosigkeit auf sie zu, sie war gefangen und preisgegeben, und die Ahnung, überlistet zu sein, langte einen Augenblick mit würgenden Händen nach ihrer Kehle.

Wahl aber hatte sich nicht in dunkelstrenge Farben geworfen, um letztlich zu versöhnlicher Onkelhaftigkeit umzulenken, auch neigte er nicht zu Gütlichtun gegen die Kinder des Volkes aus den niederen Schichten, er fühlte sich im Gegenteil durch Friedas Dasein an sich und nun gar durch Geltendmachung einer Art von drohenden verwandtschaftsähnlichen Beziehungen ernstlich gekränkt. Mit solchen Ansprüchen tat man ihm denn doch allzuviel an; sie in seine Rechnungen einzustellen, lehnt doch ein Mensch von Rang wie er gereizt ab.

Das Bild Friedas war in Erstarrung und Stille statuenhaft zusammengefaßt. Sie mußte alles über sich kommen lassen, was ihr offenbar beschieden worden. Wie es auch kommen würde, war unbewußt in ihr lebendig geworden, auf Schonung wäre ihr kein Anspruch vergönnt. Sie war kalt im Inneren, wie auch körperlich die Wärme sie verlassen hatte, und sogar ihren Anteil am Licht des Tages, den Widerschein von aller Farbigkeit der Welt hatte sie preisgegeben, so war ihr Gesicht von grauer Hoffnungslosigkeit entfärbt. Möchte Wahl es nur vollziehen, wie er vorzuhaben schien, henkerhaft düster und streng, wie er vor ihr saß.

Wahl schlug eine schriftliche Feststellung, er sagte nicht gerade Protokoll, vor, die sie mit ihrem Namen unterzeichnen möge. Warum? Weil ihr und den Ihren bei etwaigem Schwanken der Gemüter bei mangelnder Sicherheit der Aussage – er sagte nicht gerade vor Richtern –Weitläufigkeiten und Kosten erspart würden. Also der Einfachheit zuliebe; übrigens sei ja Fräulein Mussehl Zeugin aller ihrer Worte gewesen. Die Mussehl nickte, und Wahl setzte sich schnell zu ihr an den Tisch und beschrieb einen Bogen von Musterschnitten, der zur Hand lag und den er kurzerhand in zwei Teile 174 riß. Dann las er, und es wäre kaum nötig gewesen, bei einem gewissen kurzen Satz fürstliche Gewichtigkeit im Ton hauchender Halbverständlichkeit einzulegen. Als Frieda unterschrieb, ahnte sie nicht, daß sie »gern und willig« jeden Anspruch ihrerseits, sei er immer, wie er gedacht werden könne, an Wahl senior als tatsächlich unbegründet preisgebe. Sie hatte zwar hingewandt gelauscht, aber nichts unterschieden und verstanden. Wahls Kammerton mochte sein übriges getan haben. Im Hauptteil des Gemächtes ward Wau ebenfalls von jeder Schuldigkeit entbunden und die Regulierung des Ganzen Wahl überlassen.

Es hieß nun aber auseinandergehen. Wahl faltete umständlich an seinem halben Musterbogen und war sich einer freilich auch nur halben Genugtuung bewußt. Er besaß schwarz auf weiß ein Urteil gegen diese Hexe, dessen solche oder andere Weise der Vollstreckung seinem oder Waus Ermessen, Laune und Belieben anscheinend aufs sicherste anheimgegeben war, aber hätte es nicht etwa anders und gar besser kommen können? Bei einem Seitenblick auf die wie ein schon verschiedenes Geistchen dastehende Frieda stutzte er. Geschäfts-, Welt- und Lebemann wie er, sagen wir von seiner Art, schlug sich ihm eine Möglichkeit auf. Es war, als hätte er das Kind bisher niemals richtig angesehen. Welch ein artiges Zimmermädchen wäre diese Hexe im Betriebe eines Luxushotels irgendwo da hinten, weit weg, sehr weit! Entsprechend kokettes Kostüm, weißes Häubchen, prima Schuhe und vor allem Seidenstrümpfe – ein Racker von der besten Sorte und von bester Abgeschobenheit –, aber nein, leider, es war zu spät, sonst wäre es mit einem flotten empfehlenden Federstrich im Umsehen geschafft und Ruhe und Sicherheit vor Belästigungen verdoppelt. Aber vielleicht – –. Hätten Sie nicht Lust, fragte er so nebenbei, als käme es nicht darauf an, ob sie antworte oder nicht, später in einer guten Gegend in sehr gutem Hause unterzukommen, ich meine nur? – Wann? gab sie zögernd von sich, und es blieb Wahl ungewiß, ob sie seine Anspielung auf einen 175 Termin, der ihr gewiß nur zu gut bekannt war, verstanden hatte. – Wann, sagen Sie? antwortete Wahl, denken Sie einmal nach, ich kann es ja nicht raten. – Frieda verstand seine Meinung erst wirklich jetzt. Vielerlei wirbelte ihr durch den Kopf. Ich glaube nicht, daß Ihr Vater so krank ist, wie Sie sagen, war ihre ganze Erwiderung, leise, aber sicher als Ergebnis einer Reihe von schnellen Überlegungen, und Wahl fühlte plötzlich seine vollen Taschen ausgeleert. Diese Hexe, dachte er fast laut, und der Musterbogen in seiner Brusttasche schien ihm zum mindesten die Hälfte seines Werts eingebüßt zu haben. Es kochte seltsam böse in ihm, und er war ein paar Augenblicke ratlos. Aber ehe er etwas zu sagen fand, fuhr sie schon fort: Ich will ja nichts von ihm, aber er soll es wissen, – und trotz einer Art Krampf der Kinnbacken, ausbrechend, aber in plötzlichem Wechsel der Stimme leicht heiser und tief dazu: Viele sollen es wissen, Ihr Vater und auch Herr Wau, was für einen Sohn er hat. Auch das soll er wissen, und wenn er davon wirklich krank wird . . .

Nun, das war ihr entfahren. Wahls dunkles Habit und Wahls schwerwürdige Haltung hatten es nicht hindern können, aber er wußte nun Bescheid: Das Kind ließ sich über Erwarten gefährlich an. Der Atem, der solchen Absichten Ton verlieh, mußte abgedrosselt werden.

Hm, sagte er gemütlich und gedehnt, mein Kummer ist groß, Fräulein Wunderlich; gewiß, ich bin auch nur ein Mensch, aber sagen Sie doch – wegen Herrn Wau, da rate ich Ihnen ernstlich ab. Ich habe ihm nun so lange gut zugeredet, Geduld zu haben, alle Kränkungen hinzunehmen und Sie sowohl wie Ihre Familie um Gottes willen zu schonen. Sonst säßen Sie alle längst im Loch, kann ich Ihnen versichern. Grund genug hätte er, und mehr Geld, als ich sagen will, ist ihm erpreßt. Sie wissen es nur zu gut und haben es selbst freiwillig bekannt, daß alles das Nachreden waren und blanke böse Verleumdungen. Wenn er nun erfährt, welch ein unwürdiger Freund ich bin, so möchte er seine bisherige 176 Geduld bereuen, und jedenfalls ist meine Fürsprache und Mahnung zur Güte und Nachsicht . . . Hier begann etwas in der Brust der Mussehl zu röcheln, und nach und nach kam eine Stimme über die Schwelle ihrer Lippen: Hören Sie's, Frieda, immer nur Gutes für Sie bei Herrn Wau? Ich habe es immer gesagt . . .

Aber Wahl, der nicht auf Rührung und Reue bei Frieda hinsteuerte, schnitt ihr das Wort ab: Sie haben's zu gemütlich gehabt in Ihrem Zustand, so sehr ich es Ihnen gegönnt habe. Aber damit ist's aus, und Sie und Mutter Wunderlich werden sich noch umsehen! Das kommt nun so, wie es ist, hübsch in den Anzeiger, und wenn Onkel Vorholz und die ganze Nachbarschaft zu lesen anfangen, finden sie unter der Überschrift »Eine Wunderliche Familie« den ganzen Salat. Da gibt's noch manche Tische, wo sie's laut vorlesen, bei Solt oder wo sonst die Feinsten von euch oder eurer Sorte hocken und wo sie auch danach sind, und bei dem Kapaun, wie heißt er noch, Drümmel oder Rummel, wo sie mit den Dreckstiefeln reintrampeln, überall wird vorgelesen, und überall gibt's was zu wundern über die Wunderlichs . . .

Es wurde der Mussehl zu arg, denn Wahl hatte sich erhitzt und proklamierte seine Drohungen nicht eben im Kammerton. Sie winkte ihm warnend ab. Und Frieda? Wenn man weiß, was ihrer Schicht eine Drucklegung persönlicher Verhältnisse bedeutet, darf man sich nicht wundern, daß sie die erstickende Erbarmungslosigkeit des Schicksals ihr und ihrer Familie nahen sah. »Dat steit dor in«, nämlich im Blatt oder Buch, sagt man bei ihnen und beweist damit die unbezweifelbare Wahrheit der Sache. Sicherer ist nichts, als was gedruckt wird. Ein Wort verhallt, eine Meinung kann geändert werden, aber das magische Zeichen des druckschwarzen Wortes bringt Verderben oder Glück, vor ihm zerbricht der Gleichmut aller naiven Gemüter. Frieda fand die Klinke zur Tür aus diesen Entsetzen über sie stürzenden vier Wänden.

Dies war ihre andere Folterung.


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