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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Es schneite unaufhörlich. Die weißen Flocken fielen, sie hörten nicht auf zu fallen, nachts oder am Tage. Sie fielen, rasch, lautlos, sie erstickten den Wind, sie begruben Häuser, Menschen und Wälder.

Nichts war der Schneefall der letzten beiden Monate gegen den, der nun vom Himmel herabkam, der meterhoch locker und pulverig die Erde bedeckte.

Geisterhafter Totentanz, Schnee der Gloria …

Werner schob sich mühselig dahin. Es war völlig still um ihn, nicht einmal das Schlurren der qualvoll vorgeschobenen Schneeschuhe im tiefen Schnee war zu hören.

Ja, das hatte er also auch nicht bedacht, das Wetter änderte sich in Europa, auf der ganzen Welt. Die Sonne sah anders aus, nun sie Gloria aufgenommen hatte. Die Hitze im Sommer war so selbstverständlich erschienen. Und nun kam der Schnee.

Was verdunstet war auf der Welt, fiel als Schnee hernieder, und wohl neuer Schnee dazu. Merkwürdig: neuer Schnee? Wo er herkam?

Werner lachte, es war ein verzweifeltes, trostloses Lachen.

Am Weihnachtsmorgen hatte es angefangen, als die letzte Schaufel Erde auf das einsame Grab von Barnhöft gefallen war.

Noch ehe er dreißig Kilometer südlich war, mußte er absitzen, eine Spur für die Tiere treten. Am Abend war er nicht weit vorangekommen, aber er hatte eine Scheune gefunden, halb versunken schon im Schnee, für sich und seine Tiere.

Am anderen Morgen aber erschrak er: Hoch ging der Schnee über die Scheune hinweg, die Bäume ringsum waren verschwunden, die Büsche, nur zwei alte, riesige Pappeln, stachen spitz aus der weißen Todeslast hervor. Es schneite ununterbrochen weiter, er wartete eine Stunde, zwei, einen ganzen Tag und eine Nacht, es schneite unvermindert. Die Nahrungsmittel wurden knapp, das Futter für die Tiere.

Wollte er nicht in acht Tagen wieder in Potsdam sein? Die acht Tage waren herum, und er stak hier irgendwo in Mecklenburg gefangen im Schnee.

Sorgsam prüfte er die Lasten, ließ zurück, was entbehrlich war, opferte sogar die Axt. Aber nach einer Stunde endlich begonnenen Wegs fiel das erste Maultier. Es sank ganz langsam in die weiße Tiefe, legte sich und kam nicht wieder auf die Füße. Ein paarmal verdrehte es die Augen, dann starb es, still und geduldig, wie es im Leben gewesen war.

Ehe noch der Abend kam, verlor Werner das zweite Tier. Es hielt plötzlich an, bis zum Halse im Schnee, schnoberte um sich, brach dann vorn in die Knie und sank kopfüber in dem tiefen Schnee unter, wie ein müder Schwimmer im Wasser versinkt.

Auch dies geschah ganz lautlos. Werner stand allein und, tief im Schnee eingegraben, wühlte er nach dem Gepäck des toten Tieres. Nun trug er einen kargen Proviant, eine Karte, den Kompaß, die Uhr Peters und seine eigene, dazu zwei Wolldecken.

Er stapfte durch den Schnee vorwärts. Nein, er wollte nicht mehr denken. Er wollte nur das eine noch: Potsdam erreichen, die einzige Zuflucht. Würde es monatelang so schneien? Oder nur eine Woche? Er wußte es nicht, er konnte, das war sicher, auch nicht drei Tage hier abwarten in der Öde. Potsdam, Potsdam, knirschte er bei jedem Schritt. Er ging südlich/ nur südlich, der Schweiß lief ihm in Strömen vom Körper, die Schier waren kaum noch unter dem Schnee vorwärtszuschieben.

Potsdam – Potsdam …

Irgendwo mußte er doch auf ein Zeichen stoßen, das ihm verriet, wo er war. Voraus mußte Potsdam liegen. Man konnte es nicht verfehlen, auch bei diesem Schneefall nicht.

Nachts wühlte er sich ein Lager in Tannenzweigen. Er fror bis ins Mark, taumelte lange, bevor eine graue Helligkeit östlich heraufkroch, wieder davon.

Jetzt mußten irgendwann Seen kommen, die mecklenburgischen Seen. Vielleicht konnte er erraten, welchen er fand.

Er querte lange einen Wald, der Schnee lag hier weniger hoch, er lastete auf den mächtigen, dicht ineinander verfilzten Ästen.

Lange Zeit schob sich Werner durch diesen Wald und er wünschte, er möchte kein Ende nehmen vor Potsdam. Manchmal brachen rauschend Äste, von der Last bezwungen, zu Boden, dann kam eine stäubende, endlose Lawine Schnees nach.

Das mußte irgendwo sein, zwischen Neustrelitz und Fürstenberg, am Stechlin vielleicht. Da gab es noch solche mächtigen Wälder. Ruhig, wie ein Spieler, ganz unpersönlich, seine Gewinnmöglichkeiten abschätzt, schätzte Werner sein Leben. Er hatte Peter gefunden. Daß er ihn sterbend nur fand, – es war Schicksal. Aber er hatte ihn in die Erde gebettet und Gerdis würde wissen, wo sie sein Grab suchen konnte. Ja, sie würde es wissen, wenn, wenn er Werner durchkam.

Und hier standen alle Aussichten schlecht. Viel wahrscheinlicher war, daß nie jemand in Saas-Fee von ihm wieder etwas hören würde, von ihm und den Potsdamern und Peter …

Das beste war, er setzte sich wie Peter in irgendein Haus und wartete das Ende ab, das leise, schwebende Ende des Schneetodes, das schwere, schmerzende des Verhungerns.

Für einen Tag noch hatte er Nahrung. Nun also, wenn er nicht in drei Tagen Potsdam fand, war das Ende da. Oh Gerdis!

Die Bäume wurden dichter, aber zwischen den Stämmen schien es heller zu sein. Es war, als drängten sich die Zweige einem Licht entgegen. Er strebte dorthin, bog die Zweige auseinander. Lasten Schnees stürzten auf ihn nieder. Aber vor sich sah er eine endlose, ebene Fläche. Nichts störte sie in ihrem Gleichmaß, soweit der rieselnde Schnee zu durchblicken war. Es war ein See, ein großer, wie es schien, ein weithin gedehnter.

Nein, jetzt nicht die Karte studieren, noch war nichts zu erraten. Erst am anderen Ufer würde er versuchen, sich zurechtzufinden, vielleicht verriet eine Bucht, eine besondere Landmarke, welcher See der vielen dies war.

Eine neue Hoffnung belebte den Einsamen. Er glitt hinaus in das tanzende Weiß über den See, der, gefroren, tief drunten unter den Schneelasten lag.

Der See dehnte sich, ihm schien, daß er nun Stunden schon geradeaus lief. Es dämmerte schon wieder. Die Tage waren so kurz! Gab es überhaupt einen See, der so endlos sich zog, von Norden nach Süden? War er vielleicht auf die Müritz geraten? Dann hatte er einen ganzen Tag zu tun, sie abzuschreiten. War sie in der Mitte überhaupt gefroren? Oder lag da nur, trügerisch auf unbewegtem Wasser schwimmend der Schneesumpf, in den er hineinschritt?

Es war ihm gleichgültig geworden, was ihn erwartete. Stumpf trottete er voran, warf er den mächtigen Körper Schritt für Schritt gegen den weichen, müde machenden Schnee.

Ging er im Kreise? Zeigte der Kompaß falsch? War hier eine neue Wasserfläche entstanden, die auf keiner Karte verzeichnet stand? Bei den Regenfällen des Oktober?

Vor ihm erschien ein grauer Schatten, dunkler als die Dämmerung. War das das Land? Klopfenden Herzens schob sich Werner auf den dunklen Schatten zu, er wuchs und wurde dichter, gerade Linien zeigten sich, ein Abhang stieg an, Erlinspiels Knie zitterten. Irgendwo schien einen Augenblick ein Licht zu flackern, aber das waren wohl nur die überreizten Nerven. – Säulen waren das ja, und Bögen, ein offener Hof. Nein, das war kein Bauernhof, das war ein Zauberschloß aus Schnee und Eis, ein Blendwerk, eine Hexerei. Noch machte Werner einen Schritt, dann schrie er auf. Es war das Schloß von Rheinsberg, unwirklich verhüllt vom Schnee …

Er stieß auf die Halle, er fand einen alten Kamin. Er machte Feuer, stundenlang saß er davor und hielt den jeder Wärme beraubten Körper der köstlich anströmenden entgegen. Allmählich wurden die Glieder wieder geschmeidig, spürte er seinen Körper als etwas Ganzes, einheitlich zu bewegendes.

In einem Nebenzimmer fand er eine breite Porzellanvase. Er schleppte sie in die schneeverwehte Halle, füllte sie und stellte sie vorsichtig dann an die Flammen. Sie zersprang nicht, langsam kochte er, aus dem letzten getrockneten Fleisch eine Suppe.

Dann plötzlich hörte er ein Geräusch.

Es klang, als wenn schlurrende Schritte immer rund um einen Tisch liefen, ein fernes Gemurmel erklang dazu.

Werner war mit einem Schlage hellwach. Alles Dämmern in der langentbehrten Wärme, alle wunschlose Sattheit und die Müdigkeit fielen von ihm ab. Waren hier Menschen, so waren sie Feinde, sicherlich eher Feinde als Freunde.

Er prüfte seine Waffe, dann schlich er dem Geräusch nach.

Was er sah, war gespenstisch. Am Ende einer langen Galerie war ein kleines Kabinett, das von spärlichem Flammenschein erhellt war. In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch, auf dem Tisch war eine Pyramide von Totenschädeln aufgeschichtet. Um den Tisch bewegten sich mit seltsamen, verrenkenden Bewegungen drei Gestalten, sie lallten dabei und stöhnten, warfen sich nieder und standen wieder auf, drehten sich, wendeten sich, hoben die Arme hoch, verschränkten sie, und schritten wieder weiter unter einförmigem Gesang, der in seiner Gleichartigkeit erregend wirkte.

Entweder waren das Irre, die hier im Schlosse ihr Wesen trieben, oder ein neuer gespenstischer Kult war hier aufgebrochen aus dem Grauen der letzten Monate, ein abscheulicher, zerstörender, kindischer Kult. Werner schlich langsam näher. Wenn nur diese drei Männer da waren, drohte keine Gefahr.

Eine Diele knarrte. Werner verbarg sich erschrocken, aber das Singen riß nicht ab, das Schlurfen der Schritte hielt nicht ein. Niemand hatte den Eindringenden bemerkt. Nun stand Werner ganz nahe. Die Flammen zuckten unruhig. Die Schädelpyramide auf dem Tische warf unheimliche Schatten. Er sah, daß die Hälfte der Schädel schwarz gefärbt war, die andere Hälfte war weiß gebleicht.

Nun war auch der Sinn des Singsanges zu erraten. Es war offenbar ein Lied, das flüchtende Scharen gesungen haben mußten, als sie flohen vor der Pest und dem rieselnden Schnee, es mußte verstummt sein unter der weißen Decke, und klang nur hier noch, aus irrem Munde geisterhaft aus den toten Letzten hervor, Toten, die noch umherschritten und lallten:

»Der schwarze Tod, der weiße Tod
Sind Herren in der Welt.
Und Gott ist tot, und das Weib ist tot,
wir sind vom Licht gefällt.«

Die Männer schwangen die Arme hoch. Nun sah man, daß der eine der Männer alt und grauhaarig war, jünger die beiden anderen. Alle aber hatten sie irre, erloschene Augen, sie starrten einen Augenblick lang Werner mitten ins Gesicht, dann beugten sie sich und küßten den obersten Totenschädel. Sie wimmerten, weinten, sie stießen erschütternde Schreie aus wie sterbende Tiere.

Dann fielen sie wieder zurück in den schlurfenden Trott und leierten weiter die schreckliche Litanei.

Es war nicht zu sehen, was eigentlich zwischen dem Tisch und dem Kamin sich befand. Aber ganz offenbar war dort noch etwas aufbewahrt, denn die Männer schlugen jedesmal die Hände vors Gesicht, wenn sie zwischen Kamin und Tisch standen.

Werner hielt es nicht mehr aus. Er sprang mit einem Satz in den Raum, warf mit mächtigem Schwung den Tisch mit den Totenschädeln um.

Die Männer heulten tierisch auf, sie heulten, als hätte der Teufel sie gepackt. Dann rannten sie aus der Tür, schlugen hin, sprangen auf, rasten furchtbar schreiend die Galerie hinunter, fielen eine Treppe hinab, verschwanden.

Vor dem Kamin lag, nackt in einem rohen Sarge, ein Weib. Sie mußte schon lange tot sein, aber ihr Körper war erhalten, offenbar war sie im Schnee eingebettet und wurde nur hierhergetragen zu diesem schrecklichen Kult …

Erlinspiel schauderte. Nun hatte er auch dieses Letzte noch gesehen … Langsam, müde, schritt er wieder in seinen Raum.

›Der schwarze Tod, der weiße Tod … Und Gott ist tot und das Weib ist tot‹ … arme, geschlagene Menschen!


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