Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Als Gerdis wieder im Zuge nach Potsdam saß, las sie noch einmal den Brief, den Werner aufgesetzt hatte. Sie hielt ihn auf den Knien und sah dabei die ruhigen, beherrschten Bewegungen Erlinspiels, hörte seine klare, sichere Stimme, und ihr war, als sei alle Gefahr schon gebannt. Sie konnte sogar jetzt schon lächeln, lächeln über diesen süß-törichten Brief, den sie da vor sich liegen hatte, und der in einer Stunde in Peters Händen sein würde.

Noch einmal las sie ihn durch, dann leckte sie entschlossen den großen Briefumschlag an, schloß ihn sorgfältig und schob ihn in ihre Tasche. Ein Herr, der ihr gegenüber saß, lächelte. Sie sah zum Fenster hinaus. Draußen stand das junge Grün festlich in warmer Sonne.

Dieses aber war der Brief:

 

»Liebster, bester Peter!

Deinen Brief habe ich richtig bekommen und bin gleich nach Babelsberg gekommen, um Dich zu sehen. Mir wurde aber gesagt, Du seiest Tag und Nacht beschäftigt und würdest gerade im Augenblick ein bißchen schlafen, so daß es besser wäre, wenn ich Dir schreibe, Für Dich ist das sicher unter diesen Umständen das beste, wenn Du in der Sternwarte wohnst, Du kannst dann immer auf dem Posten sein. Ich werde Tag und Nacht an Dich denken und wünsche Dir vollen Erfolg.

Ein großes Ereignis ist noch heute morgen, gleich nachdem Du weg warst, eingetreten: unsere Musch hat Junge bekommen, fünf Stück, reizende, kleine Dinger, die ganz rosa Schnäuzchen haben. Ich werde baldmöglichst Deinen Rat befolgen und in eine etwas verfrühte Sommerfrische gehen, sobald ich nämlich für die kleinen Muschis ein Unterkommen gefunden habe. Hoffentlich ist Dir mein Plan recht. Werner hat vorgeschlagen, nach Saas-Fee zu gehen, im Wallis. Wie schön es da ist! Ob Du mitteilen kannst, daß Du einverstanden bist? Werner will dort ein kleines Haus für uns mieten. Einzelheiten könnte Werner Dir ja schreiben, wenn Du das gern möchtest, und Dir alles Nähere erklären. Auch ihn trifft es natürlich hart, daß er Dich jetzt nicht sprechen kann, nachdem er solange fort war und so manches mit Dir zu bereden hatte, aber Du wirst wohl auch für ihn keine Zeit haben.

Freuen tu ich mich natürlich schrecklich, mal in die richtigen Berge zu kommen. Aber die Vorbereitungen, die ich alle noch treffen muß! Das Bergkostüm paßt nicht mehr, und ich muß ein neues haben und so viele andere Sachen auch. Sonst geht es aber ausgezeichnet, Werner wird heute zum Tee herauskommen. Schreib bald.

Viele ganz liebe Küsse von Deiner
Gerdis.«

 

Sie fuhr gleich an der Sternwarte vorbei. Dort murmelte ein kräftig aussehender Pförtner, den sie bisher noch nie gesehen hatte, etwas von großer Konferenz und Nicht-stören-können, er versprach dann aber doch, den Brief so rasch als möglich an Peter Kagemann zu besorgen.

»Na trösten Se sich man, junge Frau«, sagte er schließlich gutmütig. »Lange kann det ja nich dauern. Un denn is die Freude desto jrößer.« Dabei sah er Gerdis ermunternd an. Sie wurde sich nicht klar darüber, ob dieser neubestallte Wächter wirklich ahnungslos war oder sehr geschickt log. Sie drückte ihm eine Mark in die Hand, die er andächtig in die rechte hintere Hosentasche versenkte.

Schon am Nachmittag kam ein Junge gelaufen und brachte Peters Antwortbrief.

Gerdis riß ihn mit zitternden Händen auf. Aber je aufmerksamer sie ihn las, desto weniger verstand sie ihn. War der Brief, den ihr Erlinspiel diktiert hatte, schon seltsam gewesen, so war Peters Schreiben völlig unverständlich.

 

»Liebste Gerdis!« schrieb Peter. »Ich bin selbstverständlich gern einverstanden, daß Du mit Werner nach Saas-Fee fährst. Auch nicht die leiseste Unruhe habe ich mehr, seitdem ich weiß, daß Du die paar Wochen, die meine Arbeit hier dauern wird, unter Werners Schutz verbringen wirst. Aber sicher wird es Dir ebenso gehen, pfleg Dich gut, und erhole Dich in den herrlichen Schweizer Bergen.

Ich glaube, daß ich mich bald daran gewöhnen werde, hier zu wohnen. Die Kollegen sind alle nett zu mir, und allmählich werde ich mich damit abfinden, Dich nicht jeden Tag zu sehen, ja, für eine längere Zeit überhaupt nicht.

Gerade fällt mir noch etwas ein, was Du vielleicht vergessen wirst, wenn ich Dich nicht daran erinnere. Annas zweiunddreißigster Geburtstag! Du weißt, wie sie ist, und sie hat es verdient, daß wir uns um sie kümmern, besuch sie also bitte nächsten Donnerstag und bring ihr auch meine Glückwünsche. Ein Tag spielt ja für Deine Reise schließlich keine Rolle. Werner wird das auch einsehen.

Und nach dem kleinen Zwischenspiel werden wir wieder ganz vergnügt miteinander sein, das versprichst Du mir, ja? Und Pfingsten machen wir zusammen eine kleine Reise, vielleicht von Saas-Fee aus, zu dritt.

Tausend Küsse für Dich und herzliche Grüße an Werner

Dein Peter.«

 

»Welch schreckliches Deutsch«, murmelte Gerdis. »Und was ist bloß mit Anna los?« Allmählich machte ihr die Geschichte Spaß, es war ein Gegengewicht zu ihren Tagträumen voller Angst und Schrecken. Hier war ein Bubenstreich, so ein richtiger Tertianerunfug im Gange, mit geheimnisvollen Briefen und übertölpelten Professoren. Das nahm dem Unheil ein wenig von seiner Furchtbarkeit, es machte es menschlicher, erträglicher.

Sie legte den Brief auf den Schreibtisch.

Wenige Minuten darauf schlief sie tief und fest.

Die Sonne spielte auf ihrem blassen Gesicht. Ihre Hände, zu kleinen lockeren Fäusten zusammengeballt, lagen vor ihrer Brust, die leicht und regelmäßig atmete.

Eine kleine blaue Ader an ihrem Halse zuckte im Takte, den das Herz schlug.

Wenn Gerdis jetzt träumte, so waren es sicher kleine und gute Dinge.

* * *

Werner weckte sie aus ihrem Schlaf. Es war schon Abend, das Zimmer lag im Dunkeln.

»Hat Peter geschrieben?« war Erlinspiels erste Frage, er stellte sie, noch ehe er den Automantel abgelegt hatte, ja, noch ehe Gerdis dazu gekommen war, die kleine Tischlampe einzuschalten.

Gerdis lachte leise. »Ja, aber er schreibt lauter krauses Zeug, Dinge, die er längst weiß und die ich längst weiß, und Geschichten von einer Anna, die ich wieder nicht kenne und er sicher auch nicht.«

Jetzt lachte Erlinspiel auch.

»Also doch! Dann hat alles geklappt.«

Er entdeckte den Brief auf dem Schreibtisch und begann ihn sofort zu studieren. Während er las, wurde sein Gesicht ernst. Gerdis beobachtete es und sogleich sprang sie die Furcht wieder an.

»Was ist«, fragte sie. Erlinspiel wehrte leicht ab, noch war er nicht zu Ende, vielleicht auch, daß er einige Augenblicke Zum Nachdenken wollte.

»Erklären Sie doch, was die Briefe bedeuten«, bat Gerdis. »Stehen Sie doch nicht so stumm da.«

Statt einer Antwort ging Erlinspiel zu den Fenstern und ließ die Läden herunter, dann ging er noch einmal auf den Flur hinaus und schloß sorgsam die Haustür.

Als er wieder zurückkam, hatte er in den Augenwinkeln schon wieder einen kleinen schalkhaften Zug.

»Wir haben die Herren Professoren und Kriminalbeamten glücklich bemogelt«, sagte er nun. »Erinnern Sie sich, daß wir von der Geheimschrift sprachen, Peter und ich, die wir auf der Schule angewendet hätten? Nun, sie hat uns auch dieses Mal wieder geholfen.

»Schauen Sie, in Ihrem Brief an Peter hatten Sie geschrieben: Liebster bester Peter. Das sind drei Worte. Wenn Sie nun alle Sätze nehmen in Ihrem Brief, die mit einem Vokal anfangen, und aus ihnen das dritte Wort herausziehen, dann haben Sie meine Mitteilung, die ich an Peter schickte.«

»Und wie war die?« fragte Gerdis erregt.

»Sie war sehr kurz. Sie hieß: Tag – Ereignis – baldmöglichst – mitteilen – Werner – trifft – Vorbereitungen. Und nun studieren Sie einmal selber Peters Antwortbrief. Sie müssen in den Sätzen, die mit einem Vokal anfangen, immer das zweite Wort herausnehmen, denn nicht wahr, Peter schreibt oben als Anrede: Liebste Gerdis!«

Nun lächelte Gerdis, es war ein Lächeln, über dem die Furcht lag, wie ein Gewitter über einer sonnenbeschienenen blühenden Landschaft. Aufmerksam sah sie den Brief an. Mit einem Bleistift unterstrich sie jedes Wort, das sie fand.

Und dann stand die Mitteilung da, hart, nicht wegzuwischen: »Bin – nicht – sicher – glaube – zweiunddreißigster – Tag – nach – Pfingsten.«

Zweiunddreißigster Tag nach Pfingsten.

Das waren … das waren rund zweieinhalb Monate noch. Zweieinhalb Monate Leben! Zweieinhalb Monate Qual. Zweieinhalb Monate Warten.

Gerdis brach in Tränen aus. Sie weinte leise, wie ein Kind weint, dem seine Puppe zerbrach oder das zum ersten Male den Glauben an einen geliebten Menschen verlor.

Erlinspiel schwieg. Er überschlug, wie er seine Vorbereitungen in dieser kurzen Zeit treffen könnte. Er dachte daran, daß in wenigen Tagen die Nova Gloria am Himmel aufflammen würde, wie ein Sonnenrad, heller leuchtend als alle anderen Sterne, den Mond mit ihrem Lichte farblos machend und die Nächte erfüllend mit einem nie gesehenen Glanz, der Schrecken und Panik aufwachsen lassen würde bei den Menschen und Tieren.

»Sehr gut hat das Peter gemacht«, sagte er. »Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wie er wohl das genaue Datum in seinem Briefe unterbringen würde, ohne daß jemand es merkt.«

Gerdis sah von ihrem Weinen auf. »Nicht wahr«, schluchzte sie, »er ist so klug.«

Da konnte Werner nicht anders, er ging hin und küßte Frau Gerdis lange und sehr gerührt die Hand.

* * *

»Und nun müssen wir an die Arbeit gehen. Sie dürfen nicht mehr weinen, Frau Gerdis. Schreiben Sie Peter oft, Sie wissen ja nun das Geheimnis mit der Überschrift und den Sätzen, die mit einem Vokal anfangen. Viel Zeit ist nicht mehr, packen Sie zusammen, was Sie brauchen, Ihre Sachen und Peters, auch die Wäsche und Kleidung für den Winter. Und auch für …«

»Für Gloria –.« Gerdis schluckte an ihren letzten Tränen, »für Gloria sind die Sachen alle schon in Arbeit.«

Bei Gott, dachte Erlinspiel, für Gloria sind wirklich schon allerhand Sachen in Arbeit. Er lächelte der Frau zu.

»Haben Sie wieder etwas gesehen, dunkle Gerdis?« scherzte er.

»Nein, nein«, wehrte sie ab. Und nun errötete sie: »Die sind alle schon lange bestellt. Gleich nach der Hochzeit …« Sie brach ab.

»Und wenn es ein Bub wird?«

Gerdis schüttelte den Kopf.

»Nun gut. Und jetzt sind wir tapfer, ja? Für Peter und für Gloria.«

Er nahm Gerdis Kopf in seine breiten festen Hände und sah ihr fest in die Augen.

Nach einer Weile schloß sie die Lider.

Hinter ihrer Stirn waren Gedanken zu ahnen.

»Für Gloria«, sagte sie leise.

»Und dann nehmen Sie ein paar Kleinigkeiten mit, die zu Ihnen gehören, Schmuck oder dieses kleine Porzellankätzchen da. Aber wirklich nur ein paar kleine liebe Sachen. Wir werden viele andere Dinge notwendig brauchen.«

»Und viele Bücher«, sagte Gerdis, und jetzt war ihr Ton ganz fest.

»Ja, viele Bücher. Denn wir müssen soviel als möglich vom Wissen der Menschheit und von der Schönheit, die sie erdachte, mit hinüberretten in die neue Zeit. Und Schallplatten und Bilder. Es wird wahrscheinlich nach diesem Tage nach Pfingsten kaum mehr Läden geben, in denen man alles kaufen kann.«

»Und Seife und Zahnbürste. Ich verstehe schon. Ich verstehe schon. Ich werde den kleinen Haushalt hier schon zusammenpacken. Und der Rest …« Sie stand einen Augenblick lang nachdenklich. Dann kam sie dicht an Erlinspiel heran, hob den schmalen dunklen Kopf und flüsterte: »Sagen Sie einmal, Werner, sind Sie wirklich – so – so reich, wie Peter immer sagt? …«

Erlinspiel lachte. »Noch viel reicher. Geld ist das letzte, an das wir denken müssen. Allerdings, auch hier dürfte Eile gut tun. Denn so gegen Pfingsten herum wird die Lage der Banken nicht gerade beneidenswert sein, und wie die Preise dann aussehen … Vielleicht bekommt man alles geschenkt. Vielleicht aber … Nun, das wird sich zeigen. Geld ist mein Ressort, kleine Frau, verstanden? Und nun sage ich Ihnen auf Wiedersehen. Ich fahre morgen früh nach Saas-Fee. Seien Sie bitte jeden Abend gegen 9 Uhr zu Haus. Ich rufe Sie täglich an. Und schauen Sie zu, daß Sie recht viel von Peter hören.«

Das Abendessen hatten sie vergessen, es fiel Gerdis erst auf, als Werners Wagen schon weit vorn an der Straßenbiegung verschwand. Langsamen Schrittes ging sie zurück. Sie horchte auf das Leben in ihrem Leibe, sie ging durch alle Zimmer, und sie nahm die kleine goldene Kwannon aus der Wandnische über ihrem Bett und stellte sie auf den großen Tisch im Herren-Zimmer. Davor legte sie einen Kinderball und eine kleine Klapper. Ihr Gesicht war bleich und unbewegt.


 << zurück weiter >>