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Viertes Kapitel

In einem satten Blau schimmert der Genfer See. Weinberge umsäumen die Straßen, die sich zwischen den schroffen Felsabstürzen und dem Ufer dahinwindet. Zwischen Vevey und Montreux allerdings ist von den Weinbergen wenig zu sehen, Villen und die Parke großer Hotels säumen die Straßen ein. Gleich hinter Territet aber wird der Lauf der Straße wieder frei, und an den Berghängen entlang eilt sie auf Chillon zu, das alte schöne Schloß, das einmal, vor langen Jahren, eine rechte Trutzburg war vor anstürmenden Heeren.

Noch immer stehen seine Mauern breit und wuchtig da, sich mächtig auf die Uferfelsen stützend, und es will fast scheinen, als sei hier der Straße Ende, aber dann kommt sie doch noch weiter, eingepreßt zwischen dem senkrechten Felsabsturz des granitenen Berges und den klobigen Burgmauern kann sie sich gerade noch hindurchwinden.

Aber wer in diesen Burgmauern herrschte, der konnte das weite, fruchtbar sich eröffnende Tal der Rhone sperren vor jedem Angriff und hielt so alles Land in der Hand bis hinauf zu den Quellen des Stromes zwischen den hohen Gebirgsstöcken der Furka und des Grimsel. Dort aber, wo weiter oben sich das Tal verengt und die Bergwände abermals steil an das westliche Ufer des Flusses treten, sperrt noch einmal ein festes Schloß, das von St. Mauríce, den schmalen Uferweg.

Was nun noch weiter in das Tal sich hinaufwand, das waren Saumpfade, schmal und steinig, beschwerlich schon dem einzelnen zum Steigen, unzugänglich einem zahlreichen Feinde: letzte Zugänge zu den Pässen des Simplon, des Monte Moro und des Bernhard. Erlinspiel träumte den alten Bildern des Mittelalters nach, als sein Wagen hier entlang schoß, kaum lauter als auf einer geraden Autobahn, und auch die zahlreichen Biegungen in unverminderter Fahrt umrundend. Was damals Uferstraßen unter der Drohung uralter Trutzfesten war, das bot sich nun als ausgebaute Straße dar, auf denen der Verkehr des Jahrhunderts dröhnte, und die weite Deltafläche der Flußmündung im See, die einstmals sumpfig jeden Vormarsch ersticken ließ, war der Landeplatz schwerster Verkehrsmaschinen geworden, die von hier aus in die Luft hinausschossen, um in stetigem Steigen die Gipfel der Alpen zu überfliegen, tief unter sich als schmale Linien die einstmals mühselig bezwungenen Pässe.

Aber die Pässe, auch sie waren zu breiten Straßen geworden, auf denen die Wagen dahinrollten, als führen sie in den Straßen Berlins; kunstvoll waren die Biegungen überhöht, und die alten Berggeister, von denen die Sagen der Alten noch wußten, mußten Männern weichen, die aus bunten Zapfstellen Treibstoff verhandelten.

Nur ein Paß ist geblieben, wie er immer war, einsam und kaum dem Überschreitenden willig – der über den Monte Moro, einst Übergang vom Tal der Rhone zum dunkel blauenden Lago Maggiore, zur sanft abfallenden Südhangstraße nach dem reichen Mailand, um das so viele große Herren stritten. Ja, dieser Paß ist vielleicht noch einsamer und wilder geworden, und seitdem die alten Maultierkolonnen nicht mehr den beschwerlichen Weg mühsam emporklimmen, hat das Gestrüpp der Alpenrosen den Zug der Straße schier überwuchert und sie den Heutigen verborgen. Auch in den sumpfigen Wiesen des ansteigenden Tales sind die runden Steine, die einstmals den Weg befestigten, verschwunden, und der Wanderer, der heute das Tal besucht, versinkt oft genug bis über die Knie in dem schwarzen, fruchtbaren Schlamm.

Gerade stößt die Straße von drunten in das Tal vor, von Sitten aus, dessen trotzige Burg in Trümmern liegt, und dessen Weine, rot und glühend, heiß sind wie vielfach verbotene Liebe. Alte Pappeln säumen den Weg, und später öffnet sich zur Linken die finstere Schlucht des Lötschentals. Eine Eisenbahn hat sich in dies finstere Nebental gefressen, in kühnen Brücken und weithin gemauerten Lawinengalerien sucht sie ihr Fortkommen. Mit Recht sagt man ihr nach, daß sie eine romantische Bahnlinie sei.

Bis Visp gehen die Straßen zum Monte-Moro-Paß und zum Simplon zusammen, hier aber trennen sie sich, die moderne, große zum Simplon, durch den zudem eine Bahnlinie sich bohrt, und der alte, schmal hergerichtete Weg zum Moro. Hinter Stalden, dem ersten Orte nach Visp, ist er noch ein schmaler Pfad, auf dem ein einzelnes Auto seinen Weg findet, der nach oben züngelt wie aus dem Mund einer Schlange gefahren, in zwei Teile gespalten, im Tal der Saaser Visp zum Monte Moro der eine, im Tal der Matter Visp nach Zermatt der andere.

Zwischen den wild dahinbrausenden Wassern der Visp und senkrechten Felswänden geht es aufwärts, und nur an wenigen Talstufen weitet sich manchmal die Schlucht, so als holte der schäumende Fluß Atem zum neuerlichen Niederstürzen. Hier sind ein paar Häuser angesiedelt, kleine vertrotzte Holzhütten, vor denen zwei oder drei Kühe das saftige Gras abweiden. Erst wenn der Weg sich hinaufgearbeitet hat bis zur Baumgrenze, weichen die senkrechten Felsmauern voneinander, und ein freundliches, grünes Tal tut sich auf, von ragenden Schneebergen umsäumt. Von Süden brennt ungehindert die Sonne hinein in diesen einsamen Kessel, ihn mit reicherem Wuchse begnadend, als er sonst sich in diesen Höhen findet.

Hier auch haben sich Ortschaften gebildet: Saas-Bahn und Saas-Grund, Saas-Almagel und endlich, am weitesten droben Saas-Fee, das Schöne, ganz nahe schon an den großen Viertausendern und ihren Gletschern. An dem Abend nun, als Werner Erlinspiel die Straße nach Saas-Fee emporfuhr, kam ihm kein anderer Wagen entgegen. Leer schien das Tal, der Föhn hatte hart geweht und den Schnee bis weit hinunter in einen trüben nassen Brei verwandelt. Die Spitzen der Berge hielten zäh schwer wallende Regenwolken fest. Langsam, mit lautlosem Motor, fuhr er in den weiten Hochkessel ein, es dunkelte schon sehr, kaum daß die schweren Blockhäuser von Saas-Fee noch gegen den violettblauen Himmel zu erkennen waren.

Erlinspiel ließ sich nun auch Zeit. War er von Berlin aus gehetzt, die breiten Autostraßen hinunter über Stuttgart, Basel und Bern nach Genf und weiter nach Stalden, auf schon schmäler werdenden Wegen – hier oben war ihm feierlich zu Mut, und die Erinnerung stand in ihm auf an ein vergangenes Jahrzehnt, da er hier oben umherstieg, auf Schiern oder mit Eispickel und Kletterschuhen, und den Rausch der Einsamkeit und des kalten, vereisten Gesteins kostete.

Von fern her kam der Klang einer Glocke, die am Halse einer Kuh läutete, er machte die Stille nur tiefer und feierlicher.

Langsam fuhr der Wagen in Saas-Fee ein, vor dem Hause Hans Zurbriggens, des alten Bergführers, hielt Werner ihn an.

Als Erlinspiel noch zur Schule ging, hatte er mit Zurbriggen seine erste Gletscherfahrt machen dürfen, und aus dieser ersten Fahrt waren im Laufe der Jahre viele hunderte geworden. Und in Schnee und Eis, brechendem Gestein und gnadenloser Sonne, in Kälte, Nebel und Sturm war eine Freundschaft aufgewachsen, die ohne alle Worte war, die aber aus jedem Händedruck, aus jedem Blicke sprach.

Jetzt war der Bergführer Zurbriggen alt, in seinem dunklen, mächtigen Vollbart schimmerte es silbern, und der Rücken, der so lange schwere Last getragen, krümmte sich sacht und leicht schon schmerzend, wenn der Föhn von Süden ins Tal fiel.

Aber seine Augen waren noch immer strahlend und klar und erkannten jeden Grat im Gestein, wie vor fünfzig Jahren. Das zerfurchte, wettergebräunte Gesicht war noch immer scharf und Sonne und Wind anheimgegeben. Und wenn ein junges, schönes Mädel an seinem Hause vorbeikam, vor dem der alte Zurbriggen in der Mittagswärme saß und an seiner Pfeife sog, dann konnte er noch immer den Mund zu einem Worte aufmachen, das das Mädchen kichern und erröten machte.

Nun stand er vor seiner Hütte und blanke Freude leuchtete aus den Augen, als er Erlinspiel erkannte.

Er fragte nicht viel, drückte dem Jungen die Hand und schob ihn durch die Tür. Was Erlinspiel wollte, das würde er schon selbst zur rechten Zeit erzählen; unnütze Worte sind nicht im Schwange bei den Männern von Saas-Fee.

Es gab schwarzes Brot und Butter und einen schönen roten Wein, dazu ein paar Eier, rasch in der Pfanne gebraten. Dann saßen die beiden am Feuer, starrten hinein und schwiegen abwechselnd. »Morgen bereden wirs«, sagte Erlinspiel schließlich. Und Zurbriggen nickte. Sorgsam geleitete er den Gast in seine Kammer.

Am anderen Morgen dann kam Erlinspiel mit seinem Wunsche heraus. »Glauben Sie, daß ich eines von den beiden kleinen Häuschen auf der Kuppe kaufen kann, die oberhalb der alten Kapelle liegt?« fragte er Zurbriggen geradezu.

Der Alte nahm die Pfeife bedächtig vom Munde, dachte eine Zeit nach und sagte dann, ohne nach dem Warum und Weshalb zu fragen: »Das könnte wohl angehen, Werner. Aber das größere würd ich nicht nehmen, das fällt im nächsten Herbst von allein zusammen. Aber das kleinere ist gut aus Lärchenholz gefügt und warm und ordentlich. Eine Küche hats drunten und eine Stube, und droben unterm Dach zwei Kammern. Daneben der Stall und der Stadel sind auch gut instand, das kann man nehmen.«

Wem es denn gehöre, fragte Werner, denn nun war er besonders darauf aus, dies Haus aus Lärchenholz zu bekommen. Es hatte aber mit seiner Absicht die Bewandtnis, daß diese beiden Häuschen etwas abseits vom Dorfe lagen und so hoch, daß kein Bergsturz sie erreichen konnte. Auch war die Granitkuppe, darauf sie erbaut waren, von den Gletschern der Vorzeit so abgeschliffen, daß danach ein paar Jahrzehntausende keinerlei Eindruck mehr auf sie machen konnten. Nur an ihrem Nordhange hatten sich einige stämmige Lärchen angesiedelt. Auf dem völlig freien Südhange aber hatte sich spanntief saftiger Rasen als grünes Kleid ausgebreitet.

Wem es gehöre also. Der Alte wendete schlau den Kopf. Der Witwe von seinem Vetter halt, und sie sei schon recht alt und betagt und werde nimmer am Haus eine Freude haben, sie gäbe es sicher leicht her. Ja, dann wolle er einmal hinübergehen und mit der Frau reden.

Werner war es zufrieden. Er stieg, indes Zurbriggen zu seiner Verwandtschaft verschwand, zu dem Lärchenhause hinauf. Er sah es gründlich an, rüttelte an den Fensterläden und stieg auf den Dachboden hinauf, er prüfte Türe und Keller und schätzte, mehrmals hin und wider schreitend, die Entfernung zwischen dem eigentlichen Hause, dem er beifällig zunickte, und dem Stall und dem Stadel ab. Und ganz augenscheinlich wurde auch diese Prüfung von dem Anwesen bestanden, denn Erlinspiel begann leise vor sich hinzupfeifen, gemächlich setzte er sich in die Sonne vors Haus und begann in seinem Notizbuch zu zeichnen.

Erst gegen Mittag kehrte er zurück. Zurbriggen wartete schon. Ja, das Haus wäre zu verkaufen, berichtete er, und nannte als Preis eine recht stattliche Summe. Man sah ihm an, daß er handeln wollte, wie es üblich ist, wenn einer ein Geschäft vor sich bringen will; aber Werner Erlinspiel schlug sofort zu, und nun war der Alte doch erstaunt. Er fragte nicht, und Erlinspiel sah nicht einmal auf diese wetterzerfurchte Stirn, hinter der abseitige Gedanken wach wurden. Er zog seine Taschenbuchskizzen hervor und begann langsam und eindringlich, sie Zurbriggen zu erklären.

Das Vorratshaus sollte durch einen gedeckten Gang mit dem Wohnzimmer verbunden werden, eine Veranda den Gang begleiten. Die Küche sollte in den Keller gelegt werden, dieser durch den Unterbau der Veranda und des Stadels vergrößert werden. Der Stall sollte so bleiben, wie er wäre, nur hergerichtet und neu geweißt werden und Raufen für zwei Kühe erhalten, der Raum zwischen dem Stall und dem Stadel endlich sollte durch eine hohe Mauer abgeschlossen werden. Ob er das alles besorgen wolle?

Zurbriggen blinzelte. Er überschlug im Geiste den Verdienst, der auf diese Weise ins Dorf und vor allem zur Zurbriggenschen Verwandtschaft kommen würde – er fragte auch jetzt nicht, er war sonderbare Mucken gewohnt, dazu hatte er in seinem Leben zuviele Engländer über die Gletscher geführt. Warum sollte sein Werner Erlinspiel nicht auch einmal sonderbare Einfälle bekommen?

Aber als der nun erzählte, er wolle in dem ummauerten Teil einen kleinen Garten einrichten und bäte, etwas gute Erde dorthin zu fahren, konnte er doch nicht anders, als brummen, daß die Winter in Saas-Fee lang wären und wohl kaum Blumenzucht hinter Mauern erlaubten.

Aber Werner lachte zum ersten Male eine Bemerkung des alten klugen Mannes hinweg – und Zurbriggen versprach, alles herzurichten. Im Herzen war ihm wohl, ein hübsches Stückchen Geld würde so auch für ihn abfallen.

Erlinspiel war es wohl zufrieden, daß Zurbriggen wenig fragte. Daß er gar nichts gegen die Veranda und gegen die Mauer einzuwenden hatte, erstaunte ihn, war ihm aber sehr recht, denn so entstand aus den drei Bauten, Haus, Stall und Stadel, ein allseitig geschlossener kleiner Hof, der sich vortrefflich gegen unerwünschte Besucher verteidigen ließ.

Den Nachmittag über besprachen sie die Einrichtung des Hauses. Zurbriggen wußte, wo man alte Schränke und Truhen auftreiben würde, und wenn alles so rasch gehen müsse, wie Werner meine, dann werde er sich eben gleich auf den Weg machen. Ein paar geschickte Handwerker gäbe es im Dorfe selber, das solle man nur seine Sorge sein lassen.

Werner überlegte, ob er dem Alten auch noch den letzten Wunsch sagen sollte – den Aufbau des Gewölbes aus Kupfer und Blei im Keller unter dem Stadel. Dann aber ließ er es. Er fand, er habe schon zu viele Seltsamkeiten angeordnet, gefordert und erbeten, die ohne Neugier angenommen worden waren. Bei diesem letzten Auftrage würde selbst die Zurückhaltung und Geduld eines Zurbriggen zuschanden werden, und gerade dies Gewölbe war nicht anders als mit der Wahrheit zu erklären, eine Wahrheit, die Erlinspiel so spät als möglich bekannt machen wollte.

Und während draußen die blauen Schatten der Nacht einfielen und der Alte mit der Geschichte begann, die er so gern erzählte und die Werner schon viele Male gehört hatte – der Erstbesteigung der Nordwand des Zinal-Rothorns –, lehnte Erlinspiel sich sachte in seinen Stuhl zurück, schloß die Augen und unter der leisen Stimme des alten Bergführers schlief er ein, das Gesicht Gerdis sehend, vor den zerrissenen Flächen des Allalin-Gletschers.


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