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Einundzwanzigstes Kapitel

Schwer waren die Fiebertage von Barnhöft.

Da waren die Tage des Wartens gewesen, auf Lars, den Gefährten, dann die Unruhe, die Angst, und dann die schreckliche Gewißheit, daß Lars nie mehr wiederkehren würde.

Peter hatte versucht, vom Lager zu kriechen, Feuer zu zünden und Eßbares zum Bett zu schleppen, das elende Fieber aber machte so schwach, und das Bein wurde immer giftiger, geschwollener und heißer an Schmerzen. Nun brannte lange kein Feuer mehr im Haus, er lag da und wartete, wartete, daß ihn einer fände, ein Mensch oder der Tod.

Kurzkalt waren die Tage und endlos die Nächte, der hereinwehende Schnee stillte den Durst.

Er konnte nicht mehr denken. Die ersten Tage, die erste Woche waren die Gedanken über ihn hingezogen, wie graue Wellenzüge, endlos anbrandend, wie die Wogen draußen am Strand, und jede trug ein wenig festes Land davon. Nun war er leergedacht, im Dämmer gingen die Tage. Es war wohl nichts mehr mit ihm. Das Strohdach, von dem der Schnee in langen Fahnen herunterwehte und niederglitt, tanzte vor seinen Augen. Es hob sich hoch empor, es kam wieder, lastete sich auf und drohte die Brust zu zerdrücken. Dann wieder flog es hinauf, daß es war, als wäre es der Himmel. Die Pfosten und Pfeiler wanden und drehten sich, sie verrenkten sich auf eine lächerliche Art und konnten sich doch nicht fassen.

Ach, sie brauchten sich nicht mehr fassen, einsam starben auch sie. Er zog die Decke über den Kopf, die Schneeflocken sollten ihm nicht ins Gesicht fallen, die kalten, die hereinwirbelten aus allen Ritzen und aufgeschlagenen Türen. Jetzt würde er einschlafen, zum letztenmal, und nie mehr erwachen. Wer lebte denn noch? Lars war tot und die Menschen in den Dörfern und Städten, die Whiteoak war tot und dieses Haus war auch schon tot, Gerdis war sicher tot, und Werner und alle, alle … Und das Kind, es war nicht mehr ins Licht gekommen, – wie hätte es denn Sehnsucht haben können nach dieser Welt, die zerfiel. Ins Licht, – das Licht hatte ja alles zerstört, oh wie grausig die Lichtflut gewesen war …

Peter zitterte, seine Zähne schlugen im Fieberfrost aufeinander. Ein Ring war um die Stirn geschmiedet, ein eiserner Ring, der nicht nachgab, nicht zersprang, – und es gab doch gar kein Eisen mehr, war doch alles weich, weich wie Blei … aber er, er hatte einen eisernen Ring, – einen eisernen Ring … um die Stirn … Der Sturmwind fauchte, der Sturmwind schrie, der Schnee raste aus tiefen Wolken herab.

Er peitschte den Maultieren in die heißen, zitternden Flanken, die von dem rasenden Laufe auf- und niederschlugen, in dem sie von Warnemünde nach Barnhöft jagten, einen einsamen Mann auf Schiern hinter sich schleppend.

Oh, Peter lebt, der gute verträumte Peter hatte sich durchgeschlagen nach Deutschland, er lebte und wartete auf ihn, am Leuchtturm von Warnemünde hatte es gestanden.

Oder war er weitergewandert? Die Schrift schien schon alt zu sein. Zwei Wochen her oder drei.

»Lauft, meine Muli, lauft.«

Barnhöft, das kann nicht weit sein, ostwärts wies der Pfeil und auf eine Landspitze zu.

Irgendwann mußte jetzt ja wohl Weihnachten sein? Die Zeit war abhanden gekommen, es gab nur noch Nacht und Tag, lange Nacht und kurzen Tag, und später wieder langen Tag und kurze Nacht. Ob er einen Weihnachtsbaum mitnahm nach Barnhöft? Als Weihnachtsmann eintrat? Und Peter als erstes eine Photographie seines Sohnes in die Hände drückte? Welch lächerliche Verrücktheit, eine Photographie in einer Welt, die in die Steinzeit zurückgesunken war … Ach Peter, daß du noch lebst! Lauf Muli, lauf!

Ob Gerdis jetzt auch einen Weihnachtsbaum schmückte für Peter, den jungen, Peter, den hellen?

Es war doch weiter, als er gedacht, von Warnemünde nach Barnhöft. Es wurde Nacht, hochüberschneite Wiesen wechselten mit verlassenen Ortschaften, mit schweigenden Wäldern. Auf Minuten schien der Mond durch verblassendes Gewölk. Die Tiere fielen in einen müden Trott, sie waren heiß, er mußte halten und sie abreiben. Die Kälte biß. Gegen Morgen erst fand er den Lotsenturm von Barnhöft, der ganz oben auf einem bewaldeten Hügel steht, dem einzigen weit und breit.

Werner sah sich um. Gegenüber Barnhöft hatte es geheißen in der Schrift am Leuchtturm zu Warnemünde. Wo war hier gegenüber? Auf Hiddensee vielleicht? Das wäre übel. Weit draußen waren zwei kleine gemauerte Türme, die wie Kröten zwischen den Sandbänken saßen, das konnte es nicht sein. Aber dort, wo sich schilfumsäumt das Land im Wasser verlor, da lag ein Haus, ein verfallenes, kleines Haus. Kein Rauch war zu sehen, keine Fußspur zu entdecken. Nein, auch dort konnte Peter nicht sein. Dieses Haus lag da, wie die vielen, die er kannte, – drinnen die Schränke offen, die Möbel umgestürzt, Zeichen der eiligen Flucht, – oder schlimmer noch, in der Ecke ein Bündel Kleider, aus denen eine knöcherne Hand und ein grinsender Schädel ragten …

Aber nichts anderes war rundum, dem die Beschreibung gelten konnte. In diesem Haus mußte Peter sein, oder gewesen sein. Ein schlimmer Schreck durchzuckte ihn. Sein und gewesen sein, – konnte das nicht dasselbe sein? Oh tödliche Ahnung! Er pfiff den Maultieren, er jagte sie gegen das Gehöft. War da nicht einmal ein Pfad gewesen? Er glitt zu schnell voran, es war nicht genau wahrzunehmen. Er riß den Revolver heraus, knallte zwei Schüsse in die Luft. Der Wind verwehte den Schall, er lief weit über die weiße Ebene, verlor sich in der Ferne. Nichts rührte sich rundum. Nein, Peter wird nicht hier sein, er wird weitergezogen sein, vielleicht ist er schon in Potsdam?

Die Tür zum Hause stand auf, dicht lag der Schnee in der Diele. Werner schirrte die Maultiere ab, streifte die Schier von den Füßen. Es war noch dunkel im Haus. Vorsichtig leuchtete er mit der Taschenlampe. Blind waren die Scheiben, ein erloschener Herd, aber Menschen waren hier gewesen, hier lag eine buntverzierte Hose, eine Lappenhose … Dort war eine Tür, ein Bett. Er schlug die Decke zurück. Weißen Gesichts, regungslos lag dort ein Mensch. Peter.

Werner wagte sich nicht zu bewegen. War Peter tot? Gespenstisch spielte das gelbe Licht der Taschenlampe über das wächserne leere Gesicht. Kein Zucken der Augenlider verriet, ob Peter das Licht wahrnahm, kein Hauch leisesten Atems verdichtete sich zu einer kleinen Wolke vor den blassen Lippen.

Werner neigte sich vor, er kniete nieder, er zog ein Haar aus seinem Schopf, legte es auf den Mund. Das Haar schwang ganz leise, ganz leise …

Fast unmerklich schwang es, von einem zarten Hauche getrieben. Oh, Gott hab' Dank! Feuer erst einmal, Wärme, Hitze, – wo war hier Holz, – Werner sprang auf, er schlug ein paar Schemel zusammen, spante sie mit seinem Messer auf. Er zündete den Herd an, türmte das Holz auf, knisternd sprang die Flamme hoch. Und nun die Türen zu, und den Schnee hinaus, oder besser in den Topf dort mit dem Schnee und aufs Feuer damit, – eine Suppe zu kochen, eine heiße, lebenspendende Suppe.

Werner arbeitete, daß ihm der Schweiß von der Stirne lief. Zwei Steine legte er in die Glut, Wärmsteine für Peter. Das Haar schwang leise auf blassen Lippen, von einem kaum spürbaren Hauche bewegt …

»Peter?« Es kam keine Antwort, aber der Atem war spürbarer geworden, und ein flatternder rascher Puls ließ sich ertasten. Werner schob die heißen Steine ins Bett, die Hitze des Feuers kroch in alle Winkel des alten Hauses, – der Schnee auf der Diele zerrann zu langen Wasserfahnen.

Werner häufte Decken auf den Kranken, die Stirn kühlte er mit nassen Tüchern. Er ließ ihm langsam heißen Tee zwischen die Lippen fließen, die sich willig öffneten.

»Peter«, redete er, »lieber, guter Peter, wach doch auf. Ich bin es ja, der Werner. Ist doch wieder so wie damals auf der Schitour, als du die Lungenentzündung bekamst, mußte dich der Werner pflegen. Ich habe noch eine Flasche Rum dabei, die darfst du austrinken, und dann bring' ich dich nach Potsdam zu Karl Schmitt und nach Saas-Fee zu Peter, dem kleinen Peter, und Gerdis, Gerdis, hörst du Peter?«

Die Augen Peters öffneten sich nicht. Aber die Lippen versuchten einen Namen zu bilden, dicht preßte Werner sein Ohr hin.

Noch war nichts zu verstehen, nur ein Stöhnen kam.

»Trink, Peter, trink«, flüsterte Werner. Mein Gott, hatte er deshalb den Freund gefunden, daß er ihn begrübe im Schnee von Barnhöft? Es durfte nicht sein. Was nur war zu tun? Er wußte nicht einmal, was Peter fehlte.

Die bleichen Lippen bewegten sich wieder.

»Ger – – dis – – –«

Nichts als dieser Name, fragend, in herausgestoßenem kleinen Atem geformt.

»Mein Gott, Peter, ich bin 's doch, Werner, dein Freund, und ich komme doch von Gerdis und hole dich doch, zu ihr und zu Peter.«

Wieder dies mühsame Suchen nach einer Silbe im Gesichte des Kranken. »Ger – – dis?« Weitweg, sehr ruhig, kam jetzt der Name, so wie ein Kind noch einmal den Namen der Mutter flüstert, mitten im Einschlafen, um dann hinüberzugehen in das Land der bunten Träume, lächelnd, zufrieden, glücklich.

»Gerdis.« –

Es war ein Aushauchen nur noch. Der Körper Peters streckte sich, der Kopf sank zur Seite.

Mitten im Sterben aber öffneten sich die Augen, und sie sahen groß und frei den knienden Werner an.

»Danke«, sagte eine mit einem Male laute und feste Stimme. Dann losch alles aus. Das Gesicht verfiel, die Augenlider sanken wieder herab.

»Peter!« Werner schrie es, vielleicht, daß er so mit einem letzten Anruf den Freund halten wollte auf seiner Fahrt, die er antrat in die ewige Nacht.

»Peter!«

Doch Peter hörte den Freund nicht mehr.


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