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Zweites Kapitel

Als das Telephon schrillte, schlief Werner noch fest.

Erst langsam drang das Läuten zu ihm, noch später erst begriff er, daß es der Fernsprecher neben seinem Bette war. Und wieder erst nach einiger Zeit war er so weit, daß er den Hörer abnehmen konnte. So eindringlich hatte er geträumt, er der seit Jahren keinen Traum mehr gekannt, und es waren stürzende Trümmer in diesem Traum gewesen und brennende Häuser, davonjagende, sterbende Menschen und blühende Wiesen, umsinkende Türme und eine friedliche Halde im Gebirge, gekrönt von einem kleinen Hof, vor dem eine dunkle Frau stand, mit einem Kinde. Das Kind aber hatte hellgraue Augen und die glatten Haare der Mutter. Glocken läuteten und Schüsse fielen, aber fern schon und kaum mehr zu hören. Lerchen sangen.

Nun aber, da er den Hörer am Ohre hatte, wurde Werner hellwach. Denn es sprach Gerdis Kagemann. Sie sprach mit kurzen jagenden Sätzen, die sie nicht ganz zu Ende führte, atemlos und erregt. Ihre warme tiefe Altstimme schwang wie eine Cellosaite.

»Bitte, liebe Frau Gerdis, wo stecken Sie«, fragte Werner, als ihn die erste Überraschung verließ. »Hier im Hotel, in der Halle? Kommen Sie bitte herauf, ich bin in fünf Minuten fertig. Haben Sie schon etwas gegessen? Nein? Es ist acht Uhr. Wir werden zusammen frühstücken. Wollen Sie mir den Portier geben?«

Erlinspiel ordnete an, er war wieder der Mann, der schwierige Augenblicke nicht kannte, der, wie man so schön sagte, sogleich zu disponieren pflegte.

In weniger als drei Minuten war er gewaschen, er fuhr in die Hosen, ins Hemd, zog die Strümpfe über, die Hausschuhe aus Lackleder an, band sich den Seidenschal um, zog den Morgenmantel an, und war bereit, als der Boy für Gerdis die Tür öffnete.

Gerdis war noch bleicher geworden. Man sah ihr an, daß sie Stunden gewartet hatte, ehe sie nun Erlinspiel gegenüberstand, Stunden verzweifelten, geängsteten Wartens, die noch in ihren Augen waren. Aber sie legte ordentlich den Hut ab und den zarten, weißen Mantel, ehe sie zu erzählen begann.

Ja, Peter hätte es doch nicht mehr ausgehalten, nach dem Gespräch, er wäre noch um ein Uhr zu Professor Vanderstraten gefahren. Gegen drei Uhr sei er zurückgekommen, schweigsam, bedrückt. Gegen fünf Uhr morgens sei ein Telephonanruf gekommen, von Vanderstraten persönlich, Peter solle sogleich in die Sternwarte kommen. Und eine Stunde später habe ein Bote einen Brief gebracht …

Es klopfte. Der Kellner brachte das Frühstück. Er verteilte rasch und geübt die einzelnen Tassen und Teller und Bestecke auf dem Tisch, rückte die Butter zurecht und den Aufschnitt, schob Tee- und Kaffeekanne auf die Seite, stellte Spiegeleier auf eine kleine Wärmepfanne. Die Brötchen, eben dem Ofen entnommen, dufteten.

Der Kellner verließ das Zimmer. Erlinspiel nahm eines der Brötchen, bestrich es aufmerksam mit Butter, legte eine hauchdünne Scheibe Schinken auf und schob es Gerdis hin, dann schenkte er ihr den Tee ein. »Essen Sie, kleine Frau«, sagte er. »Das ist in solchen Lagen immer das beste. Außerdem sind wir doch vorbereitet, nicht wahr?«

Gerdis lächelte schwach und dankbar. Sie biß ein ganz kleines Stückchen von dem Brote ab, sie nahm ein ganz kleines Schlückchen Tee.

»Und was ist das nun für ein Brief?« fragte Erlinspiel.

»Ich habe ihn mitgebracht.« Sie öffnete ihre Handtasche. »Es ist zu schrecklich.«

Werner faltete das kurze Schreiben auseinander. Es trug das Zeichen der Sternwarte.

 

»Liebe Gerdis. Die dauernde Beobachtung des neuen Sterns ist mir soeben übertragen worden. Sie wird mich, wenigstens bis auf weiteres, so sehr in Anspruch nehmen, daß ich dem Wunsche von Direktor Vanderstraten folgend bis auf weiteres in der Sternwarte Wohnung nehmen werde.

Ich halte es für das beste, wenn Du in der Zwischenzeit die geplante Erholungsreise antrittst und hoffe, daß sie Dir gut bekommen wird.

Viele Küsse
Dein Peter.«

 

Erlinspiel las den Brief sehr sorgfältig. Für Frau Gerdis Ungeduld las er viel zu lange an ihm.

»Was halten Sie von ihm?« fragte sie.

»Unglaublich«, antwortete Erlinspiel, ganz in Gedanken. »Wirklich unglaublich.«

»Nicht wahr?« und mit einem Male weinte Gerdis, sie weinte laut, und die Tränen liefen ihr auf das graue Kleid. »Mir einen so blödsinnigen Brief zu schreiben! Liebe Gerdis, und geplante Erholungsreise, und dem Wunsche folgend bis auf weiteres!«

Trotz der Tränen mußte Werner lachen.

»Aber liebste, beste Frau Gerdis«, sagte er, »glauben Sie denn, daß Peter diesen Brief verfaßt hat? Geschrieben hat er ihn schon, aber so weit kenne ich ja nun meinen guten Peter auch, um zu wissen, daß seine Briefe an Sie ganz anders aussehen!«

»Wieso?« fragte Gerdis. Vor Staunen hörte sie auf, zu weinen.

»Wollen wir wetten«, lächelte Erlinspiel, »daß alle Assistentenfrauen und sogar die Frau Professor selber genau solche Briefe bekommen haben? Und daß jetzt irgendein Mensch von der Regierung im Observatorium sitzt? Den Brief, liebe Frau Gerdis, hat man Peter in die Feder diktiert.« Werner dachte nach. »Geschickt ist das gerade nicht. Aber wenigstens wissen wir nun Bescheid.«

Gerdis legte die Hände in den Schoß.

»Es wird schrecklich werden«, sagte sie leise. »Nun ist das erste eingetroffen, es wird auch alles andere eintreffen. Und wir werden alle zugrunde gehen.«

»Es wird alles eintreffen«, entgegnete Erlinspiel, »aber wir werden nicht alle zugrunde gehen. Das habe ich«, – fügte er mit einem Lächeln zu, »das habe ich – gesehen.«

Gerdis schwieg. Ihre großen Augen sahen voll zu Werner auf.

»Sie haben mir geglaubt«, sagte sie einfach, »ich glaube jetzt Ihnen.« Sie gab ihm die Hand, Werner küßte sie. Nun, da alles festzustehen schien, war er wieder ganz ruhig. Und er fing sogleich an, den Plan zu entwickeln, den er nachts auf der Fahrt nach Berlin erwogen hatte.

»Sie müssen wieder nach Neubabelsberg fahren, Gerdis, und Peter besuchen. Natürlich wird man Sie nicht vorlassen. Man wird Ihnen sagen, daß Peter gerade an einer schwierigen Berechnung arbeitet und nicht gestört werden kann. Dann lassen Sie ihm einen Brief da, einen Brief, den wir jetzt zusammen aufsetzen werden, wissen Sie, als Rache, daß er auch nicht selbst seinen Brief verfaßt hat. Und dann stürzen wir beide uns in die Vorbereitungen, – aber wir werden nicht ins Blaue hinein arbeiten, wir werden Ihre Gesichte zugrunde legen und danach uns einrichten. Und so werden wir Sie und Peter und das Kind retten. Und ich werde auch davonkommen«, schloß er, ein wenig plötzlich.

»Und was sollen wir tun?« fragte Gerdis.

»Der einfachste Fall wäre die große Panik. Dann brauchten wir uns nur an einen stillen Flecken zurückziehen und das Ende der Panik abwarten. Ein paar Gewehre und Maschinenpistolen würden genügen, um uns gegen wildgewordene Banden zu verteidigen. Und Peter würde den Schutz der Behörden haben, Polizei, Truppen, – es ginge alles vorüber. Nach einem halben Jahr säßen wir wieder ruhig und still hier in Potsdam.«

»So wird es sicher nicht sein«, warf Gerdis dazwischen.

»Ich fürchte das auch. Dann bleibt die Theorie der Sintflut, der Flutwelle und des Feuerbrandes. Sie schaltet aus. Sie stimmt nicht zu Ihren Gesichten, Gerdis. Auch giftige Gase werden die Erde nicht ersticken. Sie haben nichts von all dem gesehen. Trotzdem wollen wir unsere kleine Festung so hoch hinauflegen, als es geht. Und mir ist schon ein passender Platz eingefallen.«

Ehe Gerdis fragen konnte, fuhr er fort: »Das Spektrum der Gloria zeigt neue Linien, die wir nicht deuten können. Sie lassen auf Stoffe jenseits des periodischen Systems schließen, auf Ultraelemente, oder besser gesagt, auf neue Erscheinungsformen der Materie. Entschuldigen Sie, wenn ich so wissenschaftlich rede, aber es muß sein. Auch Peter nimmt an, daß es sich um einen gasförmigen Körper bei der Nova Gloria handelt. Wäre es ein fester, tüchtiger Brocken, könnte man an Erdbeben denken, die in furchtbaren Ausbrüchen mit Vulkankatastrophen die Erde in einen Trümmerhaufen verwandeln. So aber wird der Gasball nicht derartige Kräftewirkungen auf der festen Erdrinde hervorrufen können. Was also bleibt übrig?«

Gerdis hatte unbeweglich zugehört. Nun erschienen auf ihrer Stirn wieder die beiden Falten.

»Sie werden es wissen, Werner«, sagte sie einfach. »Ich habe keine Vorstellung von den Ursachen. Ich weiß nur, daß die Folgen entsetzliche sein werden.«

»Ja, sie können schrecklich werden, um so schrecklicher, als wir uns die Wirkung der Dinge, an die ich denke, nicht im leisesten vorzustellen vermögen, weil wir kaum oder nur ganz ungemein schwächere Ähnlichkeiten auf der Erde kennen. Ich denke, daß Strahlen nicht erlebter Stärke und völlig unbekannter Art uns treffen werden, Strahlen, die weit über die Wirkung von Röntgenstrahlen, Radiumstrahlen, ja auch Höhenstrahlen hinausgehen. Ob sie alles Leben zerstören? In Ihren Gesichten wanderten die Menschen auf den Straßen. – Ob sie Wasser und Erde vergiften, verändern? In Ihren Gesichten standen noch Häuser, liefen noch Straßen einher, fuhr noch ein Segelboot auf den Wellen. – Warum also keine Dampfer, keine Autos, keine Flugzeuge, nicht einmal Wagen? Irgendwie müssen die Strahlen wirken, wenn ich mir auch nicht ausdenken kann, wie diese Wirkung aussehen wird. Wir müssen uns also vor diesen Strahlen schützen. Am besten wäre es, wir verkröchen uns tief unter die Erde …«

»Aber wenn nun doch irgendein Gas auf uns herunterkommt, eines, das schwerer ist als die Luft. Es sind doch Linien im Spektrum von sehr schweren Stoffen?«

»Gut, Gerdis, und deshalb können wir uns leider nicht in Bergwerke verstecken. Außerdem haben Sie gewaltige Einstürze gesehen. Und es wäre doch nicht nett, wenn uns nachher, kaum, daß wir unten sind, das ganze Bergwerk auf den Kopf kommt.

Nein, wir müssen uns schon selber unseren gloriasicheren Unterstand bauen.«

»Oh, in Potsdam, ja? Im Keller von unserem Häuschen! Dann sind wir ganz nahe bei Peter, und Sie sind auch dabei …«

Sie schwieg erschrocken.

Erlinspiel lächelte. »Das geht leider nicht«, sagte er bedächtig. »Wir müssen auch an die entferntesten Möglichkeiten denken. Der Platz muß erdbebensicher sein, sofern man im Augenblick des Geschehens auf der Erde überhaupt erdbebensichere Zonen annehmen will. Er muß vor einer Flutwelle, die vielleicht doch kommen könnte, geschützt liegen, also sehr hoch. Er muß vor Gasen sicher sein, die schwerer sind als die Luft, also gleichfalls möglichst hoch liegen. Und vor allen Dingen, er muß möglichst weit entfernt sein von Großstädten, die bei einer Panik, einer Hungersnot, bei Seuchen und Gemetzeln die größte Gefahr bilden. Es muß ein Platz sein, der bestehen kann, auch wenn die ganze Kultur Europas zusammenstürzt, jeder Verkehr aufhört, jede Verpflegung – alles. Ein Platz, an dem man leben kann, auch wenn überall sonst das Leben endet, sofern nur das Geschick die Lebensmöglichkeit auf dieser Erde uns erhält. An einen solchen Platz müssen wir gehen, Gerdis, dort werden wir ein Gewölbe bauen, gasfest und einsturzsicher, aus Kupfer und Blei, damit die Strahlen uns nicht treffen, die wir annehmen, und nicht elektrische Entladungen, die möglich sind. Blei schirmte bisher alle bekannten Strahlen ab, nehmen wir also an, daß es auch den unbekannten standhält, und Kupfer – nun, es leitet gut die Elektrizität ab, in die Erde, ins Wasser. Wir werden Proviant mitnehmen und ein paar Waffen und alles, was wir brauchen, um es ein Jahr lang auszuhalten. Mehr allerdings« – und Erlinspiel lächelte trübe – »weiß ich auch nicht vorzuschlagen.«

»Und Peter?« fragte Gerdis.

»Ich denke, daß Peter, wenn es soweit ist, zu uns kommen kann. Wenn er aber nicht vorher die Sternwarte verlassen darf, dann muß er so rasch als möglich uns zu erreichen suchen. Denken Sie daran, daß Sie wandernde Menschen in Ihren Gesichten sahen. Man kann also in unsere Zuflucht gelangen.«

»Und wo soll diese Zuflucht sein?« Gerdis fragte es ganz leise, sie flüsterte.

Und unwillkürlich flüsterte Erlinspiel auch, als er antwortete: »Saas-Fee im Wallis. Urgestein, Granit, ganz oben am Monte Rosa. Nicht weit vom Rhonetal. Wald und Wiesen und ein kleiner schäumender Fluß, eine Straße, so schmal, daß nur ein Wagen auf einmal in vielen Windungen hinauffahren kann, ein paar Hotels, die geschlossen sein werden, wenn der Stern erst seine Wirkung auf die Gemüter ausübt, und sonst nur die verräucherten Holzhäuschen der Bodenständigen.«

»Und von dort also wollen Sie die Kultur neu organisieren?«

»Ja, wenn es sein muß«, antwortete Erlinspiel fest, »soll von dort aus die neue Menschheit zu einem neuen Wege antreten. Und Sie, Gerdis, sollen sie führen …«


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