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Achtzehntes Kapitel

Peters Bein wollte nicht heilen. Mit dem Arm ging es besser voran. Aber am Bein hatte sich eine offene Stelle gebildet, auch ging die Geschwulst nicht zurück. Lars hatte alle Möglichkeiten erschöpft, die die einsame Insel bot, denn eine Insel war es, ob sie auch mit dem Lande zusammenhing durch einen schmalen schilfverwachsenen Gürtel, so einsam, als läge sie mitten im Ozean. Er hatte heiße Umschläge gemacht, die Schwellung war nur schlimmer geworden. Er hatte es auf Peters Zureden mit kalten versucht, aber da waren die Schmerzen unerträglich geworden. Dabei verging die Zeit. Es war wohl Ende November. Es war bitter kalt und es hatte schon geschneit, zwischen dem Schilf war morgens das Wasser zu Eis erstarrt. Wenn Werner, seinem Versprechen nach, Anfang Oktober aus dem Schweizer Tal aufgebrochen war, mußte er bald in Warnemünde sein. Und dort lag keine Nachricht! Dann war alles verloren, Werner würde umkehren, ganz nahe bei ihnen, niemand wußte dann voneinander. Peter zermarterte sich den Kopf. Endlich, nach manchen Tagen des Überlegens, bat er den Freund.

»Sag, Lars, wie wäre es, wenn du das Boot nähmst, es liegt ja noch immer am Landesteg, und versuchtest, nach Warnemünde zu kommen. Vielleicht, daß morgen kein Nordwest weht. Ich bin so unruhig. Ich habe das Gefühl, daß Werner schon auf der Suche nach uns ist, daß er gar nicht mehr weit entfernt ist. Male an den Leuchtturm von Warnemünde eine Nachricht für Werner an, und daß wir hier sind, er soll uns holen. Damals hab ich gelacht, als er das vorschlug mit dem Leuchtturm, aber es ist alles eingetroffen, was Gerdis gesehen hat. Alles, alles. Ach hätte ich nicht gelacht damals, hätte ich nur geglaubt. In zwei, drei Tagen kannst du wieder hier sein, so lange behelfe ich mich schon. Willst du, Lars?«

»Natürlich will ich, du Dummer. Und wenn Ostwind ist, bin ich in einem Tag wieder zurück.«

Zwei Tage später kam Ostwind auf. Es wurde sehr kalt, aber hell und klar. Schön ist das Leben, dachte Lars, als die Whiteoak vor dem Winde den Dars hinaufsegelte. Das Meer war tiefblau, die Sonne war unwahrscheinlich strahlend.

Er hatte Zeit, noch einmal im ganzen Schiff zu stöbern, die Yacht lief von allein. Er fand eine alte Flasche Jod, es war noch ein Rest darin. Das würde sicher gut sein für Peters Bein. Herrgott, war das ein Tag! Vielleicht stand sogar der sagenhafte Herr Werner auf dem Leuchtturm und winkte ahoi!

Merkwürdig still war es in Warnemünde. Daß kein Mensch auf die Mole gerannt kam, wenn so ein schmuckes Boot daherflog? Lars schüttelte den Kopf. Sollte wirklich die ganze Stadt davongezogen sein, Kind und Kegel und alte Weiber? Es war doch hoher Nachmittag, da konnte doch kein Mensch schlafen?

Er kreuzte den Leuchtturm an, fand auch einen guten Anlegeplatz an der Mole, wo er die Whiteoak festlegen konnte. Mit weißem Bootslack malte er seine Nachricht auf den Leuchtturm, schrieb sie zur Sicherheit gleich noch einmal auf die Mole selbst, mit einer kleinen Zeichnung. Welch Unberufener sollte schon kommen? Hier gab es ja offenbar keine Menschen!

Er schielte zu der Whiteoak herüber. Sie lag sicher und fest im leichten Seegang. Nein, sie würde sich nicht losreißen. Vielleicht konnte er in die Stadt laufen, irgendeine Apotheke mußte doch zu finden sein, das bißchen Jod aus der Yacht reichte ja doch nicht lange.

Lars setzte sich in Bewegung, er rannte, um ja keine Zeit zu verlieren. Die Stadt sah trostlos aus, verbrannt, verräuchert, verfallen. Die lange Zeile der Fischerhäuser fiel langsam ein. Im nächsten Frühjahr würden sie nicht mehr stehen. Ein paar Leichen lagen auf den Straßen, schon ganz verwest. Es stank. Lars schüttelte sich und lief weiter. Daß die Wirklichkeit doch immer gräßlicher war als jede Vorstellung. Er hatte es nicht so trostlos erwartet.

Dann fand er die Apotheke. ›Zum Einhorn‹ stand auf dem hölzernen, schönbemalten Schild. Lars ging hinein, Teufel, war ihm heiß geworden. Die Decke war halb eingestürzt, einige Regale waren umgefallen. Eine Menge Flaschen lagen zerschlagen auf dem Boden, ihr Inhalt hatte sich mit verschüttetem Pulver und schmierigen Salben gemischt. Eine große Flasche stand abseits, sie war heil, aber leer, ein Totenkopf und das Wort Sublimat standen auf dem Etikett. Karbol, Lysol, übermangansaures Kali, nichts war zu finden, die Flaschen waren wohl weggeschleppt worden. Schließlich fand er Mullbinden, die ihm brauchbar erschienen, auch etwas Jod, dazu eine Flasche mit Kräuterlikör. Befriedigt zog er aus dem verfallenen Giftladen wieder ab.

Vorsichtig ging er in die danebenliegende Bäckerei. Im Hof sah er einen Ziehbrunnen. Das Wasser war trübe und schmeckte scheußlich, aber es war besser als dieser tolle Durst. Er sah sich nicht weiter um, weder in der Bäckerei noch in der Stadt. Der widerliche Geruch, der überall zwischen den Häusern schwebte, trieb ihn fort. Dazu fiel ihm ein, ob wohl die Whiteoak auch noch ruhig an ihrem Platze lag? Er rannte wieder zurück. Ja, da lag sie friedlich an der Mole und der Ostwind wehte leise und gleichmäßig.

Lars setzte die Segel, Gott sei Dank, daß er aus dieser verdammten Stadt herauskam. Er pfiff sich eins, der Wind füllte schön das Segel.

Nordwärts lief er rauschend in die See hinaus.

Erst später fiel Lars ein, daß er wirklich keinen einzigen Menschen in der ganzen Stadt gesehen hatte. Unheimlich war das.

Aber jetzt schien die Sonne, jetzt blies der Wind, jetzt war die Luft rein und klar. Am Abend würde er am Dars sein und morgen früh wieder bei Peter! Herrgott, es war doch schön! Der Wind versteifte sich zusehends, es war nicht sicher, ob er die Nacht hindurch würde aufkreuzen können.

Die Küste versank, die Wellen wurden höher. In der klaren Luft blieben die Türme von Rostock zu sehen. Sie waren viel länger zu sehen, als das vorgelagerte Land, nun hingen sie da am Horizont wie etwas Unwirkliches, Teile einer versunkenen Stadt.

Er mußte weit hinausgehen, auf Schweden zu, wenn er morgens wieder von Norden an Hiddensee vorbei zu ihrer Insel niederstoßen wollte.

Als es gegen Mitternacht ging, meinte er, es sei Zeit zum Wenden. Ihn fröstelte, unlustig trank er einen Schluck von dem Kräuterlikör. Die Nacht war sternenhell, aber es schien kein Mond, Hatte er etwas zum Essen dabei? Er hatte auf der Herfahrt tüchtig gegessen, aber jetzt hatte er ein flaues Gefühl im Leib. Er suchte ein paar Zwiebäcke hervor, sie waren alt und hart und er ließ sie nach ein paar Bissen liegen.

Ob er nicht eine halbe Stunde sich schlafen legen sollte? Das Boot würde schon alleine segeln. Ob er seekrank wurde? Es dümpelte zwar heftig, aber das war doch kein Grund, daß ihm so übel war.

Er belegte das Ruder und ging nach unten. So, das war schon besser, so in eine Decke gewickelt und noch einen Schnaps im Magen … Ah, wie schön das Wasser an die Bordwand plätscherte …

Lars fuhr hoch. Mein Gott, hatte er richtig geschlafen? Es war ja schon ganz hell draußen! Der Wind hatte auch nachgelassen, die Whiteoak machte ja gar keine Fahrt mehr. Das hörte man doch! Und wie kalt ihm war. Verdammt, bei der Rennerei in der Stadt mußte er sich tüchtig erkältet haben. Na, noch einen Schnaps! Er taumelte nach oben. Die See war sehr ruhig, sie lief in langer, wiegender Dünung, kaum merklich. Glutrot stieg die Sonne im Osten aus den Wassern. Voraus war eine lange dunkle Linie, das mußte die deutsche Küste sein, er war noch aus Kurs. Wenn er nur nicht so müde wäre! Am liebsten legte er sich noch einmal in die Koje.

Ach, so entsetzlich müde. Und so kalt war es …

Er schätzte die Entfernung zur Küste. Eine halbe Stunde hatte er noch Zeit. Er konnte ruhig noch einmal nach unten gehen.

Was war das? Warum war er denn nicht in der Kajüte? Und die Sonne, die stand ja schon ganz hoch? Und die Küste, um Gottes willen, war sie nicht schon ganz nah? Aber das Boot bewegte sich ja gar nicht. Schlaff hingen die Segel. Scheuerte da nicht etwas? Er taumelte mühsam hoch, kroch an die Reeling, starrte ins Wasser. Das leichte Spiel der Wellen verwirrte ihn. Armtief unter der Oberfläche war Sand. Er war aufgelaufen.

Ob man mit dem Bootshaken wieder freikam? Diese verdammten Sandbänke! Aber er war so schwach, so entsetzlich schwach. Sollte er an Land schwimmen? Ihn graute plötzlich vor dem kalten Wasser. Lieber noch den Bootshaken, bevor die Yacht noch weiter in den Sand sich eindrückte. Er riß sich hoch, setzte die lange Stange ein. Sie fand Halt, ah, war das schwer, – aber die Whiteoak bewegte sich, sie mußte nur ganz leicht aufliegen, noch einmal, die Nase der Yacht schwang schon herum, nach Norden, gut, gut, und noch einmal, knirschte es nicht? Gott ja, sie schwamm wieder, schwappend schlug das Großsegel herum, eine Brise lief über das Wasser, die Whiteoak war frei.

Über dem abgleitenden Bootshaken brach Lars wieder zusammen. Wo bist du denn, Peter? Ah, da liegst du und hast eine Wunde am Bein. Eine scheußliche Wunde, und so groß und so weh tut sie, so weh! Lars ächzte, fuhr auf. Wieso denn, war er denn Peter? Er hatte doch Schmerzen, schreckliche, verzehrende Schmerzen. Weswegen fuhr das Boot denn nicht, – ach, er war ja gar nicht in einem Boot, er lag ja auf einem Gletscher, in, wie hieß das nur, in Saas-Fee auf einem Gletscher und die Eisnadeln wuchsen durch seinen Leib. Sein Kopf schlug hart gegen die Reeling. Er bäumte sich in Krämpfen. Was war denn, war da nicht der Dars, war da nicht das Gehöft? Richtige Palmen standen ja da und sanken langsam über ihnen zusammen!

Nicht! Nicht! Oh, wie das in den Eingeweiden fraß, wie die Palmen sich einbohrten, wie heiß das war. Glühend waren die Palmen, sie verbrannten ihn ja …

Luft, Luft!

Er wälzte sich herum, er erwachte aus Fieberträumen. Er sah klar das Segel über sich, er hörte die glucksenden Wellen, die an der Whiteoak vorbeistrichen.

Die Abendsonne schien durch die Takelung. Oh Gott, war es schwül. Gab es denn nichts zu trinken? Die Mutter hatte doch immer etwas zu trinken gebracht …

Trinken! Ah, jetzt war Lars ganz klar. Herrgott, wann hatte er zum letztenmal getrunken? Der Brunnen zu Warnemünde, der widerliche, trübe … Wie ein rasendes Tier fiel ihn der Schmerz in seinen Eingeweiden wieder an. Jetzt nur nicht schwach werden, Lars, weiterdenken, weiter – denken! Darum waren die Medikamente alle weg, Lysol und Sublimat.

Was gibt es an der See … für Seuchen … Lars?

Er rief sich an wie ein Lehrer den Schüler.

Und eine tiefe Stimme antwortete aus ihm: Cholera, Herr Larsen. Typhus. Weißglühendes Eisen floß in seinen Leib.

Es gibt doch kein Eisen mehr. Oh Peter! Es gibt doch … Nicht schwach werden jetzt, nicht an Land zurück, sonst kommt Peter und wird auch krank und stirbt auch. Werner wird ihn finden, da sind ja große Buchstaben, große leuchtende Buchstaben … auf der Mole … Oh Gott, tat das Sterben weh. Er kroch nach achtern, war dort nicht ein Wasserfall, der hüpfte von Felsen zu Fels, zwischen grünem Moos, daraus konnte man trinken, das war … anderes … Wasser …

Ah, war das schön, es kam immer näher, nur noch einen Ruck, einen kleinen Ruck, – dann – war alles gut.

Und Peter brauchte nicht … sterben …

Mit einem leichten Laut fiel Lars vornüber, die Wellen nahmen ihn auf, schlugen spielend, gleißend im Abendrot über ihm zusammen.

Der aufkommende Wind füllte groß der Whiteoak Segel. Sie holte ein wenig über und glitt dann hinein in den roten Schein der Sonne.


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