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Fünftes Kapitel

Noch von Genf aus hatte Erlinspiel Gerdis angerufen, aber es gab noch nichts Neues, weder von Peter noch von ihr selbst. Er hatte ihr gesagt, daß er nun nach Saas-Fee hinaufführe, und daß sie ein paar Tage nichts von ihm hören würde. Aber sie solle zu Hause bleiben, vielleicht, daß er sie in zwei Tagen anrufen könnte. Nun fuhr er die steilen Schluchten aus Visp wieder hinab, an Saint Maurice vorbei und Chillon, nach Genf.

Die Stadt war verändert. Auf den Straßen standen schwatzende Menschen in Gruppen, in den Cafés sah er, wie man sich von Tisch zu Tisch bewegt unterhielt. Die Stadt schien aufgeregt, es war, als summe sie wie ein Bienenstock vor dem Ausflug des Schwarmes.

Werner hielt vor einem Zeitungshändler. In großen Schlagzeilen prangten die neuesten Neuigkeiten vom Stern.

Werner begriff mit einem Schlage, daß es vergeblich gewesen war, die Berechnungen der Astronomen geheim zu halten, daß in diesen zwei Tagen, die er zu Füßen der Gletscher verbracht hatte, Mitteilungen besonderen Gewichts in die Öffentlichkeit gedrungen sein mußten.

Er kaufte alle Blätter, die er erreichen konnte, ließ den Wagen stehen und zog sich in das nächste Café zurück.

So war das also: Die Bahn des Sternes Nova Gloria war berechnet. Sie würde in großer Nähe der Erdbahn das Sonnensystem durchschneiden. Aber der ganze sogenannte Stern bestehe nur aus einer Handvoll wirbelnder Gase, und es sei also ein durchaus harmloser und ungefährlicher Geselle. Genießerisch malten die Berichterstatter aus, welch prächtiges Schauspiel die Menschheit erwartete.

Werner mußte lächeln. So war das also: Man hatte ein wenig den Schleier gelüftet, hatte der Neugier einen Brocken hingeworfen, und sagte doch nichts anderes, als er schon wußte.

In einigen Blättern fand er sogar Unterredungen mit einzelnen Direktoren der verschiedenen Sternwarten, es waren wohlabgewogene Äußerungen, die verdächtig wenig besagten. Es war ganz offenbar, daß die Reporter nicht an jüngere Assistenten herangekommen waren oder nur die blassen Äußerungen der leitenden Direktoren veröffentlichen durften. Ähnliches empfand wohl auch die Menge. Denn wohin Erlinspiel auch hörte, überall sprach man von der Gloria, und überall glaubte man nicht den Versicherungen der Zeitungen.

Da haben wir die Bescherung, dachte Werner, zahlte und schlenderte zur Bank, Hier traf er schon ein Häuflein ganz Vorsichtiger, die ihre Guthaben abhoben, und manche baten bereits um Zahlung in Gold – in Gold, das doch seit langem schon nur noch einen eingebildeten Wert besaß.

Die Bankbeamten lächelten über diese Mißtrauischen, sie zahlten ohne zu zögern, und es war sicher, daß sie hinter geschlossenen Scheiben Witze machten.

Erlinspiel verlangte eine große Summe, er gab einen Scheck und bat, den Gegenwert in Goldbarren zu erhalten, nicht in gemünztem Gold. Der Schalterbeamte sah ihn an, als wäre er verrückt.

»Und dann geben Sie mir den gleichen Betrag in Silberbarren«, sagte Erlinspiel und schob einen zweiten Scheck hin.

Jetzt verließ den Beamten die Fassung. »Sie sind ja entsetzlich vorsichtig«, knurrte er. »Glauben Sie vielleicht, das Gold könnte plötzlich schmelzen oder rostig werden?«

Werner lächelte ihn mild an.

»Ich denke, daß Sie in etwa einer Woche die Barren zur Verfügung haben können«, sagte er. »Ich brauche sie für besondere Zwecke.«

»Wir werden die Schecks prüfen«, erwiderte der Mann hinter dem Schalter voller Kühle.

»Sie haben völlig recht«, Erlinspiel war jetzt sehr heiter. »Ich möchte Sie nur bitten, mir eine Kaufbestätigung auf die Gold- und Silberbarren auszustellen. Und im übrigen geben Sie mir noch 50 000 Mark in Scheinen, vielleicht fragen Sie telephonisch in Berlin wegen der Deckung dieses Schecks an, ich warte so lange.« Und etwas boshaft fügte er hinzu: »Dies macht Ihnen doch keine Schwierigkeiten, nicht wahr?«

Der Beamte verschwand voller Zorn hinter seinem Tisch.

Nach zehn Minuten erschien er wieder in seinem gläsernen Kundenfensterchen, sein Gesicht war sehr unglücklich, seine Worte wanden sich vor Hochachtung. Offenbar hatte Berlin Auskünfte besonderer Art über den seltsamen Mann gegeben. Erlinspiel verstaute das Geld und den Kaufvertrag in seiner Brieftasche, er lächelte.

»Auf Wiedersehen in acht Tagen«, sagte er.

Der Beamte dienerte hinter ihm her.

Erlinspiel kaufte an diesem Tage: Platin, Glaserdiamanten verschiedener Größe, 100 Gewehre, 200 Revolver, 3 Maschinengewehre, 5 Maschinenpistolen, 30 000 Schuß Munition, erstklassige Werkzeuge, chirurgische Instrumente, Fernrohre, Messer, Beile und Äxte, Sägen und Hämmer jeder Art, 4 Chronometer, Barometer und Thermometer, Sextanten und Mikroskope, dazu eine Unmenge anderer Dinge, als ginge er auf eine Forschungsreise in den unbekanntesten Teil der Erde. Schließlich verhandelte er mit einer Geldschrankfabrik. Die Techniker wollten zunächst nicht an den Auftrag heran, vielleicht dachten sie, ein Irrer narre sie, so seltsam klang das alles, aber dann, nach einer kurzen Aufklärung, daß er besondere technische Versuche vorhabe, versprachen sie alles in Eile aufzubauen: Ein halbkugeliges Gewölbe aus übereinander genieteten Blei- und Kupferplatten, so, daß die Kupferplatten dachziegelartig die Außenhaut bildeten, darüber ein Mantel aus feuerfesten Steinen gemauert, und das Ganze durch eine ebenso ausgeführte Tür gasdicht abgeschlossen, der ganze Bau schließlich im Keller eines Stadels zu Saas-Fee errichtet. Ganz zuversichtlich wurden die Techniker allerdings erst, als Peter die Hälfte der geforderten Bausumme sofort auf den Tisch zählte. Beim Abschied merkte Erlinspiel, daß ihnen der verrückte Auftrag anfing, Spaß zu machen. Er lächelte wieder.

Lächelnd rief er Gerdis an.

Sie hatte überraschend viel Neuigkeiten. Gerade wäre ein Brief von Peter gekommen, ganz unverschlüsselt, heimlich hinausgeschmuggelt. Am 7. Juli, 3 Uhr 32 Minuten, würde Gloria die Erdbahn schneiden, aber Gefahr bestünde keine. Starke atmosphärische Störungen würden natürlich einsetzen, schriebe Peter, Gewitter und magnetische Stürme. Ganz empfindliche Instrumente der Sternwarte reagierten jetzt schon auf Strahlen, deren genauer Charakter natürlich noch nicht festzustellen wäre. Wahrscheinlich würde kurz nach dem Durchgang durch die Erdbahn der Gasball, denn um einen solchen handle es sich bei Gloria einwandfrei, sich in die Sonne stürzen, ein prächtiges Schauspiel, das weitere Störungen verursachen würde. Vielleicht auch würden die Vulkane losbrechen und Erdbeben auslösen, aber nicht schwerer als zu Zeiten auch aus anderen Anlässen vorgefallen wären. Vielleicht gäbe es eine Hitzezeit, aber Gefahr für den Erdball bestünde auch hier keine. Er selbst hoffe bald wieder nach Haus kommen zu können, trotzdem wolle er aber, daß sie ihre Reise nicht verschiebe, er bekäme sicherlich nach so angestrengter Arbeit in seiner Klausurzelle Urlaub und wolle dann nach Saas-Fee nachkommen.

Das waren ja nun wirklich Nachrichten ungewöhnlicher Art. Erlinspiel fand, daß die Schlußsätze nicht recht zu den übrigen passen wollten. Er berichtete kurz von dem gekauften Häuschen.

»Ach«, sagte Gerdis, »das werden Sie ja nun gleich wieder verkaufen können. Meinen Sie nicht, daß wir uns ganz unnötig aufgeregt haben?« Davon könne keine Rede sein, hatte Werner geantwortet. Er würde alles so aufbauen, wie er es sich ausgedacht hätte, oder denke sie gar nicht mehr an ihre Gesichte?

Hierauf hatte Gerdis nur etwas Undeutliches in den Fernsprecher gemurmelt.

»In einer Woche komme ich und hole Sie«, rief er, »packen Sie alles gut ein – und auch die Babywäsche!«

Er hörte ein ganz kurzes Geräusch, es mochte ein kleines Lachen ganz hinten in der Kehle sein.

»Rufen Sie mich an, wenn etwas Neues los ist, am besten zwischen acht und neun Uhr morgens. Ich bleibe in Genf und fahre höchstens einige Male nach Saas-Fee, um den Bau zu überwachen. Sofort anrufen, ja?«

»Aber Werner«, sagte Gerdis, »glauben Sie, daß Peter lügt?«

»Nein«, meinte er ernst, »aber daß er kurzsichtig ist. Ich verlasse mich lieber auf Sie. Und wenn Peter recht hat, haben wir eben einen netten Urlaub. Wollen Sie das denken, Gerdis?«

Gerdis sagte ja und auf Wiedersehen.

Zwiespältigen Gefühls hängte Werner den Hörer ein.

Da stand er nun und verließ sich statt auf Peters hervorragend sachlichen Bericht auf die Gesichte einer Frau, und er tat es nicht nach langem Überlegen und Schwanken, nein, er baute so felsenfest auf diese merkwürdigen Gesichte, daß ihm nicht einmal der Gedanke gekommen war, sein Vorhaben zu ändern, als er Peters Mitteilungen hörte. Hatte nicht Gerdis selbst gesagt, die Aufregung wäre nun wohl umsonst gewesen? Und wie das, hatte Gerdis nicht doch eine hellere Stimme gehabt, so als wäre eine Angst vergangen, als er sagte, er wolle das Haus behalten und alles so durchführen, als ob …

Dieses Als ob war es ja gerade. Er wußte jetzt so wenig als vorher, was geschehen würde.

Ärgerlich ging er die Straßen hinunter.

»Und ich mache doch weiter«, sagte er laut. Zwei Bürgerfrauen sahen ihn erstaunt an. Werner trat in einen Laden und kaufte eine Feile, eine kleine, scharfe, doppelte geriffelte Feile. Sie kostete zwei Franken.

Er steckte sie in die Tasche. Nur so. Aus Trotz.

Er dachte dabei: Gerdis.

Und dann fiel ihm ein, daß vielleicht Peter doch mehr geschrieben haben könnte, etwas, was Gerdis nicht am Telefon hatte sagen können. Vielleicht auch war der ganze Brief dem Tone nach anders, als die knappe Inhaltsangabe vermuten ließ?

Er starrte in die Luft, und je mehr er sich seinen Gefühlen überließ, desto sicherer schien es ihm, daß er sofort diesen Brief lesen müsse, daß er Gerdis Augen sehen müsse, daß er ihre Stimme hören müsse, und vor allem versuchen müsse, mit Peter zu sprechen.

Er rannte zurück, er rief eine Taxe an, er erreichte gerade noch das Abendflugzeug nach Berlin.

Erst als die Maschine über den Schweizer Gebirgen nach Norden zog, der Bodensee schon in Sicht kam, mit 300 Kilometer Geschwindigkeit dem Flugzeug entgegenstürzend, wurde er ruhig. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen; als der stählerne Vogel über Stuttgart dahinschoß, schlief er fest.

Als Erlinspiel in Berlin landete, rief er sofort in Potsdam an. Am Apparat war Peter Kagemann.

»Mein Gott«, rief er, »du bist in Berlin? Gerdis erzählte mir gerade, du stiegest in Saas-Fee herum. – Was, ganz plötzlich hierher geflogen? Du hast wirklich eine feine Nase! Weißt du, daß ich gerade vor einer Stunde nach Hause gekommen bin und morgen wieder weg muß? Komm doch bitte sofort zu uns heraus. Hast du deinen Wagen da?«

»Ja, ja«, sagte Werner. Er war fast betäubt von der Überraschung, Peters Stimme zu hören. Er dachte keinen Augenblick daran, daß das Gutes bedeuten könnte, Vorübersein der Gefahr. Es schien ihm wie ein verschworenes Unheil, etwa so, wie man dem Verurteilten noch eine Gnadenfrist zum Abschied vom Leben läßt. Er hängte ein, nahm ein Taxi und fuhr nach Potsdam hinaus.

Gerdis war lustig, sie freute sich sichtlich, Peter wieder zu Haus zu haben, aber Erlinspiel schien es, als sei ihre Lustigkeit doch nicht ganz echt. Peter erzählte, während Gerdis hin und her ging, um Werner ein kleines Abendessen zu richten.

Es war natürlich so gewesen, wie Werner vorausgesagt hatte. Vanderstraten hatte sofort dem Minister berichtet, wenige Stunden später war schon die Sperre verhängt. Man hatte natürlich in der Sternwarte bestens für alles gesorgt und ihm selbst sogar die Leitung der Beobachtungen und Berechnungen anvertraut.

Dann war Mount Wilson zu demselben Resultat gekommen, offenbar hatten die Regierungen miteinander ein gemeinsames Vorgehen verabredet, denn nun setzten einige genau festgelegte Artikel Vanderstratens ein, und in den Zeitungen fand man die entsprechenden Äußerungen der Direktoren der übrigen großen Sternwarten der Welt.

Schließlich hatte es sich herausgestellt, daß die Nova Gloria sicher nicht die Erde selbst treffen würde, sondern seitwärts an ihr vorbei in die Sonne stürzen würde. An diesem Tage wären die ersten genaueren Mitteilungen freigegeben worden, und Peter hatte seinen unchiffrierten Brief herausschmuggeln können –, geschmuggelt sei nicht der richtige Ausdruck, denn Vanderstraten habe von dem Brief gewußt und ihn sogar selbst hinausbefördert, da nun die Hauptergebnisse doch bekanntgegeben werden sollten, und zwar in allen Ländern gleichzeitig und im selben Wortlaut, um allen Gerüchten von vornherein das Leben zu nehmen.

»Und wann wird nun die Gloria in die Sonne stürzen?« fragte Werner.

»Am 9. Juli zwischen 22 und 23 Uhr Greenwicher Zeit«, entgegnete Peter. »Die Leute vom Mount Wilson haben am letzten Tage mehr Glück gehabt als wir. Während es hier regnete, haben sie drüben klaren Nachthimmel gehabt und die notwendigen Beobachtungen anstellen können. Übrigens würden sie ja wahrscheinlich auch das Verschmelzen von Sonne und gasigem Stern selbst beobachten können, während Mitteleuropa mitten in der Nacht leider nichts sehen würde.

»Leider ist gut«, bemerkte Werner trocken, als Gerdis gerade das Zimmer einmal verlassen hatte, um eine neue Flasche Wein zu holen. »Glaubst du denn, daß das ohne Katastrophen abgeht?«

Peter zuckte die Achseln. »Wir wissen nicht, was geschehen wird, aber wir glauben nicht an ernsthafte Ereignisse. Die Gasmasse der Gloria ist gering im Verhältnis zur Masse der Sonne, es wird phantastische Turbulenzen geben, auch große elektrische und magnetische Stürme über der Erde, vielleicht einen Elektronenhagel, der den ganzen Rundfunkempfang über den Haufen wirft, Telegraphie und Telephonie, und was sonst noch zu einem solchen Staatsereignis dazugehört, aber einen Weltuntergang werden wir nicht erleben.«

Gerdis kam wieder herein, Werner sog nachdenklich an seiner Zigarette, »Übrigens«, schloß Peter stolz, »werde ich doch das feierliche Ereignis beobachten können. Denke dir, ich soll eine internationale Expedition leiten, die östlich von Hammerfest, wo die Mitternachtssonne scheint, die Verschmelzung beobachten und aufnehmen soll. Und darum ist das so schön, daß du heute gekommen bist, denn wenn du Gerdis in Saas-Fee betreust, während ich hinter dem Polarkreis hocke, so ist das auch für mich eine Beruhigung. Wer weiß, was an Aufregungen vielleicht doch geschieht!«

Gerdis schwieg, Werner schwieg ebenfalls. Peter merkte es nicht.

Er erzählte fröhlich weiter. »Oslo stellt mir ein Sonderflugzeug zur Verfügung, auch einen Assistenten schicken sie, der die Gegend dort oben kennt, die Lappen und alles, auch fließend deutsch spricht. Wegen der notwendigen Vorbereitungen muß aber alles sehr rasch gehen, und deshalb soll ich schon morgen nachmittag nach Oslo fliegen. Denk mal, ich, der kleine Assistent Peter Kagemann –, ist das Glück?«

Peter schwamm in eitel Freude, die Wissenschaft hatte ihn wieder, er war dem Leben verloren.

Gerdis und Werner sahen sich an. Sie hielten einen Augenblick lang einer des anderen Augen fest, dann senkten sie rasch den Blick, als schämten sie sich, daß sie sich einander bei dem gleichen Gefühle ertappt hatten. Gerdis wurde rot bis unter den Hals, Werner drückte seine erst halb gerauchte Zigarette aus.

Peter bemerkte nichts von dem.

Er war glücklich über die Aufgabe. Er sah sie ganz allein, entfernt von allen Folgen, die das Ereignis, das er da wissenschaftlich erforschen sollte, haben würde.

»Sag mal, guter Junge«, fragte schließlich Werner, »wie denkst du dir eigentlich die Sache, wenn nun doch einiges vor sich geht, während Gloria sich strahlend in die Arme von Vater Sonne wirft?« Peter war aus allen Begeisterungen gerissen.

»Wieso?« fragte er erstaunt zurück.

»Nun, ich meine«, begann Werner Erlinspiel langsam, »es gibt da so gewisse Ahnungen, die doch immerhin recht unangenehme Dinge verheißen …«

»Aber das ist doch Wahnsinn«, unterbrach Peter, »das hatte vielleicht, vielleicht einen Sinn, solange es noch nicht feststand, ob der Gasball nicht mit der Erde selbst zusammenstoßen würde, aber jetzt ist doch derartiges völlig ausgeschlossen …«

»Mir scheint das gar nicht so ausgeschlossen, denn, selbst wenn wir die Ahnungen von Frau Gerdis ganz beiseite lassen –, es müssen doch ungeheure Kräfte bei einem solchen Verschmelzen von Sonne und Stern freiwerden. Und wo sollen die bleiben?«

Peter schwieg.

»Sei nicht böse, Peter. Wir wollen die alte Streitfrage, ob Ahnungen einen Sinn haben oder nicht, nicht noch einmal aufwärmen. Ich glaube nun einmal Gerdis mehr als dir. Und ich werde mich, wenigstens für meinen Teil, danach richten, ganz gleich, was man von mir denkt. Schließlich braucht es sich nicht einmal um eine Weltkatastrophe zu handeln, es genügt schon ein teilweiser Zusammenbruch gewohnter Lebensverhältnisse.«

Erlinspiel sah Gerdis an. Er spielte schweigsam ein paar Augenblicke mit seinem blauen großen Siegelring.

»Haben Sie wieder etwas gesehen, Frau Gerdis?« fragte er leise. Die schmale schöne Frau sah ihn nicht an. Ihre großen Augen gingen durch ihn hindurch.

Langsam stand sie auf, ging zum Fenster und sah hinaus in die Nacht. Der See pochte laut auf das Ufer, es kam Wind auf.

»Ja«, sprach sie leise, und sie sagte es mehr in den dunklen Himmel als zu den Männern im Zimmer. »Ja, ich habe das kleine Boot mit den weißen Segeln wieder gesehen und den Strand, alles war wie beim ersten Mal. Die Hütten standen so da, als wäre niemand in ihnen, es waren auch keine Menschen da, der Leuchtturm stand in den Wellen, aber er leuchtete nicht, die große Glasglocke war fort. Und die Hotels, gegen Warnemünde zu, sahen alle aus, als stünden nur die Mauern, aber in ihnen wäre nichts mehr als Schutt.«

Sie hörte auf zu sprechen, aber ihre Hände bewegten sich noch in einigen Figuren, als wollte sie etwas abtasten, bezeichnen.

»Haben Sie sonst nichts gesehen?« fragte Werner.

Einen Augenblick schien es ihm, als wollte Gerdis noch etwas hinzufügen, aber dann wandte sie sich langsam dem Zimmer wieder zu, ihre Hände glitten herab.

»Nein, sonst habe ich nichts gesehen«, sagte sie tonlos, sie ging an den Rauchtisch und zündete sich eine Zigarette an.

Erlinspiel sah aufmerksam Peter an.

»Ich kann mir nicht helfen«, sagte er, »irgend etwas haben Gerdis Gesichte mit der kommenden Wirklichkeit zu tun. Nimm einmal an, wir bekommen tatsächlich eine lang andauernde Verkehrsstörung. Ich weiß zwar nicht, was Gloria mit unserem Verkehrswesen zu tun haben soll und wie ihr Ende es lahmlegen sollte, – aber nehmen wir immerhin an, es geschähe etwas Derartiges. Du selbst hast vor einer Viertelstunde erzählt, daß du nach Hammerfest fahren sollst, irgendwo über den Polarkreis hinaus. Was würdest du tun, um wieder nach Deutschland zu kommen, wenn keine Autos und keine Eisenbahnen, keine Flugzeuge und keine Dampfer mehr existierten? Du würdest dir ein Segelboot nehmen und die norwegische Küste hinuntersegeln. Du würdest durch das Skagerrak in den Belt fahren und etwa bei Warnemünde landen. Ja, das würdest du tun, und ich sehe wirklich nicht ein, warum die Gesichte von Gerdis so unsinnig sein sollen.«

In diesem Augenblick ging Gerdis schweigend hinaus. Weder Peter noch Werner achteten darauf, Peter war betroffen, er sah nur auf Werner, der da mit einem Male, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, Möglichkeiten aussprach, die er nicht einmal zu denken angefangen hätte. Und Werner war bereits mitten in einer neuen Idee. »Sicher, Peter«, sagte er, »das wirst du auch tun, du wirst mir das jetzt hier versprechen. Wenn du den Leuchtturm erreichst, wirst du dort eine Nachricht hinterlassen, daß du da warst, wann du da warst und wohin du weitergefahren bist, damit wir dich suchen können, falls etwas doch geschehen sollte. Wir wollen auch gleich die Zeit festlegen. Anfang Juli wird sich der Sternensturz vollziehen, ein, zwei, drei Monate muß man dann rechnen – sagen wir also September –, wenn du bis zum 1. Oktober nicht in Saas-Fee bist, komme ich dich suchen. Und zwar über Konstanz, wo du deine Visitenkarte an der Anlegestelle der Wagenfähre hinterlassen kannst. Dann suche ich dich, wenn du nicht in Konstanz warst oder gerade bist, weiter nördlich bis zur Maingegend. In der Kapelle von Creglingen können wir wieder eine Nachrichtenstelle einrichten, sie liegt schön einsam und weit von den Städten entfernt, man kann sie aber auch nicht verfehlen, das ist wichtig. Unter deine Nachricht malst du ein großes P und ich unter meine ein großes W, und wenn irgendwo ein Brief versteckt liegt, machen wir einen dicken Pfeil hin.«

Peter lachte: »Du tobst dich ja ordentlich aus. Ich wußte nicht, daß du solche Räuberphantasie besitzt.«

»Lache nicht, Peter!« Werner legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm ernst ins Gesicht: »Es ist mir bitter ernst mit meinen Phantasien. Und nach Creglingen sagen wir die Elbebrücke von Wittenberge. Und schließlich der Leuchtturm von Warnemünde. Einverstanden?«

»Gut«, Peter sagte es noch immer widerwillig. Ihm kam das alles lausbubenhaft vor, kindisch und erwachsener Menschen nicht ganz würdig. Aber um des lieben Friedens willen –, na, also gut, mochte Werner seinen Willen haben! Was sind doch diese nüchternen Großindustriellen für verrückte Hühner, dachte er.

»Also gut, Werner. Wenn es dich beruhigt, ich werde auf meiner Pilgerfahrt durch eine vernichtete Menschheit überall Kreidezinken malen, es wird die reinste Schnitzeljagd werden. Aber du kannst sicher sein, am 10. Juli bin ich eisern in Saas-Fee. Und darauf wollen wir trinken.«

»Gebe es Gott«, sagte Werner ernst, »ich selber wünsche es mit ganzem Herzen, daß du recht hast.«

»Und ich komme dann nicht als der kleine Assistent. Soviel hat mir Vanderstraten schon angedeutet.«

»Hoffentlich gibt es dann noch genug Sternwarten, Peter. Und nun, trinken wir darauf, daß wir alle drei uns gesund in Saas-Fee und sobald als möglich wieder treffen.«

Erst jetzt, da sie trinken wollten, fiel es den Männern auf, daß Gerdis nicht mehr im Zimmer war. Sie standen betroffen. Dann riefen sie, und dann suchten sie das Haus ab. Sie fanden die Frau über ihr Bett geworfen und von einem haltlosen Weinen geschüttelt. Sie sah die Männer nicht an, sie sagte nichts, sie schwieg auf alle Fragen und weinte nur desto heftiger, je mehr Werner und Peter sie zu trösten versuchten. Vor jeder Berührung zuckte sie erschreckt zurück, Trostworten antwortete sie mit Kopfschütteln. Zu erfahren war nichts.

Betroffen gingen die Männer wieder nach unten.

»Vielleicht ist es das Kind«, sagte Peter.

Vielleicht, dachte Werner, aber er hatte noch eine andere Meinung von diesem Zusammenbruch. Und diese hielt er für die richtige.

Es wurde ein rascher Abschied. Sie hoben schweigend ihr Glas, stießen schweigend an, leerten es schweigend.

»Vergiß nicht die vier Orte, Peter. Warnemünde, Wittenberge, Creglingen, Konstanz. Ich hole morgen Gerdis.«

»Auf Wiedersehen, Werner, nach dem himmlischen Feuerwerk.« Er trat dicht zu Erlinspiel heran. »Und, und paß gut auf Gerdis auf«, sagte er leise. »Dank schon dafür. Ja?«

»Ja«, versprach Werner. Und drückte dem Freunde fest die Hand.

* * *

Lange standen sie und starrten dem Flugzeug nach, das, rasch kleiner werdend, nach Norden entschwand. Gerdis war noch blasser als sonst, ihre Haut war fast durchscheinend, man konnte die Adern sehen, die zart und bläulich dahinliefen, und wenn sie ganz still stand und in den weißwolkigen Himmel sah, konnte man auch das Pulsen in ihnen wahrnehmen, mit dem das Blut sich vorwärtstrieb.

Ihre großen hellgrauen Augen waren sehr leer, sie mußte in der Nacht noch lange geweint haben, ja, es sah wirklich so aus, als wäre die Farbe der Augensterne ausgewaschen. Unter den Wimpern verliefen dunkle Schatten, das Haar war sehr glatt und ohne Glanz. Sicher verbarg der geschickt aufgelegte Puder viel von dem sichtbaren Leid, aber was er nicht zuzudecken vermochte, reichte aus, um Werners Herz mit Traurigkeit zu erfüllen.

»Nun fliegt er nach Norden«, sagte er, »um den Stern in die Sonne stürzen zu sehen. Und es wird lange dauern, bis er Saas-Fee erreicht.«

Er sah Gerdis dabei nicht an, er starrte wie sie in den Himmel, an dem nun schon nichts mehr von einem Flugzeug zu sehen war; nur kleine schwarze Pünktlein, aus dem Innern des Auges nach außen projiziert, schwammen in der Luft.

Und doch war es ihm, als dröhnten noch immer die Motore so, wie sie dröhnten, als der hellgraue Vogel in die Luft stieg.

Plötzlich sank Gerdis um, sie rutschte einfach weg, mit einer rührenden hilflosen Bewegung der Augenlider, sie glitt gegen seine Schulter, im letzten Augenblick konnte Werner den Arm hochbekommen und sie vor dem Fallen bewahren.

Da lag sie nun, halb rückwärts an ihn gelehnt, ihre Lippen waren fast weiß, ihre Augen geschlossen. Sie atmete flach und langsam, und ihre zarten, schönen Arme hingen willenlos herab. Werner wagte es nicht, sich zu rühren, er fürchtete, daß sie bei jeder kleinen Bewegung, die er machen würde, zu Boden gleiten würde.

Und während er so dastand und die Kraftlose aufrechthielt, sagte sie, völlig tonlos und doch unendlich klar: »Ich werde ihn niemals wiedersehen.«

Werner dachte an Potsdam, an ihr Verschwinden und an den Weinkrampf. Und mit einem Male wußte er, daß es unwiderruflich so war, daß Peter nicht zurückkommen würde. Denn sie, die dunkle Gerdis, hatte es gesehen und hatte es gestern verschwiegen.

Eine große Welle ging durch sein Herz.

»Tapfere Gerdis«, flüsterte er, »tapfere Gerdis.«

Er strich ihr sanft über das Haar. Ihre Lider waren noch immer tief über die Augen gesenkt, nicht einmal die Wimpern flatterten, keine Träne floß. Nur der Atem kam und ging.

Werner wußte nicht, wie lange er sie so im Arme hielt. Er streichelte sie, und er flüsterte immer wieder: »Gerdis … Gerdis.« Dann stand wieder das Bild des Segelbootes vor ihm, mit den weißen Segeln.

»Wenn man nur wüßte, was es ist?« sagte er plötzlich laut.

Langsam, ganz langsam kam die Kraft zu Gerdis zurück. Leichter wurde ihr Druck gegen seine Schulter, und dann schlug sie die Augen wieder auf.

»Wir sind nicht die einzigen«, sagte sie, »die darum wissen. Auch andere ahnen, daß etwas Entsetzliches geschieht …«

»Aber wir kennen – vielleicht – die Rettung«, erwiderte er ernst.

Gerdis stand nun wieder, sie drehte sich zu Werner um, so standen sie nun Brust an Brust.

»Können wir heute abend fahren?« flüsterte sie.


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