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Fünfzehntes Kapitel

Als er ins Haus wollte, Gerdis zu sehen, stolperte er auf den Stufen über eine Gestalt, die, in einen weiten Mantel gehüllt, über und über beschneit dort hockte.

»Hallo«, sagte diese Gestalt, »schätze, daß das Mister Erlinspiel ist.«

Werner fuhr zurück, er kannte diese Stimme, diese Ausdrucksweise, – aber es war vollständig ausgeschlossen, daß Morristone hier sein konnte. »Sind ein ungläubiger Mensch, Mister Erlinspiel«, dozierte die Gestalt. »Warum soll ein Reverend der anglikanischen Kirche nicht, ehe der Winter hereinbricht, zu seinen Freunden in Saas-Fee sich begeben. Schätze, daß Sie einen vernünftigen Mann gebrauchen können.«

Jetzt erst erwachte Werner aus seinem Staunen. Aber er fiel Morristone nicht etwa um den Hals, – er freute sich sichtlich sehr wenig, diesen Mann hier zu sehen.

»Wie sind Sie denn überhaupt hier reingekommen?« fragte er grämlich. Und nahm sich vor, die nachlässige Wache gehörig herzunehmen.

»Oh Gott im Himmel.« Der Reverend hob in komischer Verzweiflung die Hände, »wie unfreundlich die Menschen werden, wenn sie regieren. Und Sie regieren doch hier, Mister Erlinspiel, nicht? Man sagte es mir in Huteggen. Verdammt scharfes Regiment, das Sie hier führen, man wollte den guten ehrlichen Morristone erst gar nicht hereinlassen ins Tal.«

Werners schlechte Laune verflog. Also hatte man doch aufgepaßt. »Und wie sind Sie dann hierher gekommen?« fragte er.

»Einer der jungen Burschen, ein Zurbriggen, hat sich freundlicherweise meiner erinnert und hat mich unter Bewachung hierher geschickt, zum Herrn Kommandanten Erlinspiel.« Er kicherte. »Aber der Dr. Füßli, – Gott, was war das früher für ein netter Mensch, – jetzt ist er auch hochmütig im Geist geworden und hat sein Herz verhärtet, – der Dr. Füßli hat mich nicht ins Haus gelassen. Wo ich doch eigens gekommen bin, den kleinen Peter zu taufen. Ich hätte die Pest, sagt der Doktor. Und nun sitze ich hier auf der Schwelle und flehe den König des Tales an.«

Erlinspiel mußte lachen.

»Guter Morristone, man hat es Ihnen schwer gemacht, aber das muß so sein. Ich freue mich, daß Sie da sind.« – Er schüttelte ihm die Hand. »Sie könnten hier so etwas wie Innenminister werden. Denn zurück wollen Sie doch wohl nicht mehr?«

Morristone schüttelte sich. »Wäre ich ein Papist«, sagte er, »würde ich mich jetzt bekreuzen. Sie haben ja keine Ahnung, Erlinspiel, wie das da draußen aussieht.«

»Daß Sie überhaupt durchgekommen sind.«

Der Reverend sah Werner eng in die Augen. »Bei Gott, Mister, Sie sprechen wahr. Daß ich überhaupt durchgekommen bin. Ich möchte sehr lange schlafen, wissen Sie. Drei, vier Tage. Ich habe zuviel gesehen. Kann ich nicht vorher der tapferen kleinen Frau Guten Tag sagen?«

»Sie können im Haus bei mir wohnen«, sagte Werner, »ich bitte Sie, mein Gast zu sein. Aber zu Gerdis, zu Frau Gerdis, möchte ich Sie erst lassen, wenn Doktor Füßli Sie untersucht hat. Wir wissen, daß draußen Typhus und Cholera umgehen, – eine junge Mutter nimmt leicht Krankheiten an, Sie verstehen?«

»Furchtbar nett, Mister Erlinspiel«. Morristone kniff wieder sein linkes Auge zu. »Könnten mich ja auch in eine Isolierbaracke stecken. Nähme ich Ihnen nicht einmal übel. Übrigens Typhus und Cholera. Sie sind ein harmloses Gemüt. Die Pest, mein Guter, die Pest ist in Europa.« Er kicherte. »Aber ich hab sie nicht.«

Werner öffnete die Tür. Er war sehr erschüttert. Ich muß sofort die Grenzwachen anrufen, dachte er, mein Gott, die Pest. Bilder stiegen in ihm auf, Stunden aus dem Geschichtsunterricht in der Schule, wenn vom Mittelalter die Rede war und dem schwarzen Tod. Ihn schauderte.

»Sagen Sie hier im Hause nichts davon«, bat er. »Es könnte nicht gut für Gerdis sein.«

Der Reverend nickte. »Natürlich. Hat Sorge. Verstehe ich. Schätze, daß Sie bisher von Peter, dem Vater, noch nichts wieder gehört haben.«

»Nein«, entgegnete Verner. »Aber in einigen Tagen werde ich ihn suchen gehen.«

Morristone blieb stehen. »Sie wollen wahrhaftig in diese Hölle da hinaus?« fragte er. »Freiwillig und allein?«

»Ja. Ich habe Peter versprochen, ihn zu holen, und ich hole ihn.«

»Gott sei mit Ihnen«, sagte Morristone ernst, und nun schlug er doch das Zeichen des Kreuzes über Werner.

Erlinspiel führte den Gast in sein eigenes Zimmer. »Bleiben Sie hier. Alles, was Sie hier sehen, steht Ihnen zur Verfügung. Ich möchte nur rasch Gerdis sehen.«

»Danke. Bleiben Sie lange bei der kleinen Frau?«

»Nein, warum?«

»Weil ich – weil ich schrecklichen Hunger habe«, gestand Morristone.

Werner mußte lachen. »Armer! Ich schicke Ihnen sofort etwas. Und dann müssen Sie erzählen! Nachher erst dürfen Sie schlafen.«

Morristone war es zufrieden. Er knurrte, zog eine Pfeife hervor und begann sie langsam und genießerisch mit bestem englischem Tabak zu stopfen.

* * *

Gerdis lag schmal und blaß in den Kissen. Sie lächelte, als Werner kam. »Guter!« flüsterte sie. »Dr. Füßli hat mir erzählt, daß es schneit, und daß nun bald die Angriffe aufhören. Ich bin so froh. Und es ist nun doch ein Peter.«

Werner küßte ihre zarte schöne Hand. »Siehst du. Fremdes Schicksal kannst du sehen, und selber weißt du mit dir gar nicht Bescheid. Natürlich ist es keine Gloria. Die ist doch in die Sonne gestürzt.«

»Aber er hat ihre Augen«, sagte Doktor Füßli, »ob das etwas Gutes bedeutet?«

»Sicherlich, Gerdis. Es wird ein sehr strahlender Mensch werden.«

»Kein dunkler Peter?«

»Nein, ein heller leuchtender Peter. Auf dem blauen Grunde der großen Mutter Nacht.«

Gerdis strich zart über Werners Hände. »Die dunkle Gerdis«, sagte sie, »hast du mich so nicht genannt? Die dunkle Gerdis und der helle Peter.« Sie sann einen Lidschlag lang nach. »Es ist gut«, flüsterte sie. »Sehr gut.«

Dann lächelte sie wieder. »Gib ihn mir«, bat sie, »er ist ja so klein.« Wie ich sie liebe, dachte Werner. Sein Herz klang. Gehorsam ging er zur Wiege und holte das kleine Menschenkind, legte es zart seiner Mutter in die geöffneten Arme.

* * *

»Nicht mal essen läßt er mich«, stöhnte Morristone.

Werner fand Dr. Füßli damit beschäftigt, den Reverend nach allen Regeln der Kunst zu untersuchen. Das Hemd hatte er ihm heruntergezogen und während der Engländer mit der einen Hand ein Butterbrot in sich hineinstopfte, mußte er mit der anderen des Doktors Blutdurst befriedigen, der mindestens zehn Kubikzentimeter aus des Reverend Adern haben wollte.

»Wahrscheinlich haben Sie doch die Pest, die Cholera, den Typhus und die Blattern, die Ruhr und was es sonst noch Schönes gibt, gleichzeitig, und ich muß Sie totschlagen und verbrennen lassen, Reverend«, tröstete Füßli den Gast. »Sehen Sie, da ist schon ein Pestfleck!«

Morristone fuhr herum. Er verrenkte sich auf eine wilde Art den Hals, um auf seine Schulterblätter zu sehen. Er hatte einen mächtigen Schrecken bekommen.

Dann fuhr er, erleichtert, auf den Doktor los: »Sie sind eine gemütsrohe Bestie. Mein schönes Muttermal!« Er wandte sich an Werner. »Schöne Doktoren haben Sie in Ihrem Staat. Ich will mit ihnen nichts mehr zu tun haben.« Er langte nach seinem Hemd, zog es über. »Ich bin mit Ihnen böse, Doktor Füßli«, sagte er und widmete sich wieder seinem Abendessen.

Doktor Füßli lachte. Offenbar verstanden die beiden sich prächtig. Erlinspiel rückte sich einen Stuhl heran. »Sie scheinen ja prächtig gesund zu sein, Reverend«, lachte auch er. »Guten Appetit übrigens.«

»Danke«, knurrte Morristone.

»Gehen Sie nicht zu nahe an ihn heran«, warnte Füßli, »er hat doch die Pest! Ich werde jetzt sein Blut untersuchen, und dann muß er wieder fort!« Füßli verschwand. Morristone schob Werner den Tabaksbeutel hin. »Wenn Sie eine Pfeife dahaben, bitte!«

Werner dankte, seit Wochen hatte er keinen Tabak mehr gesehen.

»Ist das einzige, was ich bis hierher durchgerettet habe«, knurrte Morristone zwischen angestrengtem Kauen. »Wenn ich in die Dörfer mußte, habe ich damit geräuchert. Hat ausgezeichnete Dienste getan, ist besser als aller Weihrauch und Dampf von Wacholderbeeren.«

Er strich sich ein neues Brot.

Werner holte eine Flasche Wein aus dem Schrank. »Zur Feier des Tages«, sagte er. »Einen viertel Liter dürfen Sie austrinken.«

Der Reverend kniff das linke Auge ein. »Sogar Prohibition gibts hier heroben; wohin bin ich geraten!«

»Wir müssen mit den Vorräten haushalten«, meinte Werner.

»Weiß, weiß, schätze, daß Sie nicht allzuviel von dem Zeug haben«, stimmte der Reverend zu, »rede auch nur davon, um nicht von dem anderen reden zu müssen. Hilft aber doch nichts. Muß Ihnen wohl oder übel erzählen, was draußen los ist. Sonst kommen Sie nie zu dem guten Peter Kagemann. Als die Gloria in die Sonne fiel, war er übrigens noch gesund und munter.«

»Woher wissen Sie?«

»Haben Sie mal etwas von einem Flugzeug hier gesehen?«

»Nein. Was hat das mit Peter zu tun?«

Morristone lächelte, er kniff dabei übertrieben das Auge ein.

»In England gab es, wie Sie sich denken können, auch einige Erkrankungen, Blutzersetzung und so. Im Unterhaus gab es Fragen. Der Regierung war nicht sehr wohl. Mein Vetter ist der englische Innenminister, entschuldigen Sie, er war es.«

»Ist er tot?«

»Ja; er lachte mich aus, als ich mit meiner Weisheit von Saas-Fee zurückkam. Drei Tage vor der Katastrophe erinnerte er sich an meine üblen Voraussagen, ließ mich kommen, und ich sagte ihm, was ich wußte.

Er war nicht sehr angetan davon, schickte ein Flugzeug los, das sollte Ihre Wissenschaft heimbringen. Nach Brig kam es auch richtig, aber die Flieger kamen mit dem Auto nicht zu Ihnen. Die Straße war gesperrt.«

»Natürlich!« Werner wurde lebhaft, »das war der große Bergrutsch, der uns nachher so viel geholfen hat, die Straße bei Huteggen ZU verteidigen. Aber was ist nun mit Peter?«

»Geduld. War es mit Ihnen nichts, so wußte vielleicht Mister Kagemann etwas. Wir schickten unser schnellstes Kriegsflugzeug los, es fand Peter Kagemann.«

Der Reverend machte eine Pause.

»Und –«, Werner drängte.

»Es fand ihn gesund und munter, dreihundert Kilometer östlich Hammerfest, mitten in der Tundra. Sehr groß war die Weisheit nicht, die unsere Flieger heimbrachten, immerhin hatten sie einen Tip: Bleimäntel! Mein Vetter, Gott hab ihn selig, ließ sich drei Stunden vor der Katastrophe sein Dienstzimmer mit Bleiplatten ausschlagen. Er hat Himmel und Hölle deshalb in Bewegung gesetzt. Wollte mich sogar überreden, bei ihm zu bleiben. Ich zog es aber vor, aufs Land zu fahren, zu meiner Herde. Schätzte, daß es dort sicherer wäre. Wie Sie sehen, habe ich recht gehabt. Den guten Minister zogen sie am anderen Tag zwischen seinen Bleiplatten hervor … die Decke war eingestürzt und ihm auf den Kopf gefallen.«

Morristone nahm einen tiefen Schluck.

»Langsam, Reverend«, mahnte Werner, »langsam. Sie wissen – einen viertel Liter, und Sie müssen noch lange erzählen.«

»Gut, gut, Sie könnten für den Bericht allerdings Vorschuß geben«, knurrte Morristone, »aber wie Sie wollen.«

»Das Herrenhaus in meinem Dorf brannte ab, und ein paar andere Häuser dazu, als die Gasleitung undicht wurde. Da begann schon das Durcheinander, die Menschen wurden einfach irrsinnig, sie rannten umher, und als an Löschen nicht zu denken war, weil eben die Feuerspritze auch weiches Dreckzeugs von Metall geworden war, und als die Hochspannungsmasten weich auf der Straße lagen und die Wasserrohre platzten, und die Feuerhaken vor den Kaminen zusammensackten und die Messer wie aus Gummi wurden, die reinsten Scherzartikel, und die Lampen runterkamen und die Autos zusammenfielen, na und so weiter, – Sie können sich ja die Geistesverfassung meiner Herde vorstellen. Da erinnerte ich mich an einen gewissen Herrn Erlinspiel, und daß ich ihm gesagt hatte, ich käme zu ihm, wenn mich die Herde nicht mehr brauchte. Die lief aber nach allen Richtungen auseinander und hörte auf keine Predigt. Sie werden mir glauben, ich rede nicht sehr salbungsvoll. Aber nicht einmal Flüche halfen. Da habe ich mir einen Gaul geholt, liefen genug aus den Gutsställen herum, hab ihm einen Lederknebel ins Maul gesteckt und bin losgeritten, Richtung Dover.

Mußte an London vorbei, war nicht sehr angenehm.

Brannte natürlich an allen Ecken und Enden. Und ein irrsinnig gewordener Mob tobte zwischen den Trümmern umher. Von Polizei war nicht viel zu sehen. Hatten ja auch keine Schießgewehre mehr. Die Straßen standen teilweise meterhoch unter Wasser, die Themsebrücken lagen natürlich alle im Fluß. Es wurde begeistert geplündert, irgendwo explodierte immerzu etwas.

Meinen Gaul ließ ich vorsichtigerweise gleich draußen, vielleicht hätten sie ihn mir geschlachtet, mit Pflastersteinsplittern oder so.

Zu essen gab es ja noch einiges aus den geplatzten Läden und Magazinen. Big Ben war natürlich runtergekommen, Buckingham Palace stand noch. Rund rum war eine Wache, sehr malerisch, ein dreifacher Gürtel von Bärenfellmützen und Rotröcken. Sah zum Lachen aus. In der Hand hatte jeder von der Garde dicke Eichenknüppel. Damit drohten sie der johlenden Menge. Weiß Gott, wie lange der Soldatenkordon da stehengeblieben ist.

Habe mir meinen toten Vetter noch angesehen, wird wohl der letzte Innenminister von England für einige Zeit gewesen sein, bin dann losgeritten nach Dover.

Gefiel mir nicht in der zerfetzten Stadt. Tausende zogen nach Süden, nach Norden, nach Osten, nach Westen. Mußte höllisch aufpassen, daß mir keiner das Pferd abnahm.«

Der Reverend trank den Rest des roten Sittener Weines aus, hielt das leere Glas Werner hin. »Um Christi Barmherzigkeit willen, lassen Sie mich nicht verdursten.«

Werner füllte das Glas neu. »War es sehr schlimm auf dem Lande?« fragte er.

»Nein, hin und wieder ein kleiner Brand, eine eingestürzte Kirche, ein zerfallenes Haus, ein paar Leichen am Wege, – man gewöhnt sich rasch. Ich bin auch immer vorsichtig um die Dörfer rumgeritten. Für ein Pferd ohne Hufe ist auch das englische Pflaster nicht das richtige.

Niemand hatte irgendeine neue Ordnung eingerichtet. Alles war wie vor den Kopf geschlagen. Traf da ein paar Lümmels, waren überflüssigerweise leben geblieben, wollten einem Bauern die Hühner stehlen. Ganz öffentlich, um zwei Uhr mittags. Der Bauer wehrte sich natürlich, sehr anständig, sehr fair. Boxte mit der bloßen Faust dreie von den Burschen aus. Kein Schlag unter den Gürtel! Einer von den Kerlen aber hatte einen dicken Spazierstock, damit legte er den Bauern um. Es knackte, und dann fiel der Mann nach vorn. Warum nahm der Mann nicht seine Mistgabel, lag ganz nahe bei ihm. Nein, er boxte, mit seinen bloßen Fäusten. Na, ich hab es dann den Lümmels mit meiner Eisenholzkeule besorgt. Ist ein altes Erbstück meiner Familie aus Übersee. Liegt übrigens jetzt bei der Wache in Huteggen.

Was soll ich noch erzählen aus England? In Dover war die Hölle los, das Hafenbecken voll von gesunkenen Kähnen. Dicke Dampfer dabei, die nun wie zusammengehämmert herumlagen. War gerade stilles Wasser, man konnte sie sehen. Fischerboote gabs auch keine, war wohl alles, was noch ein Boot aufgetrieben hatte, das nicht mit Eisen genietet war, losgesegelt, gleich am ersten Tag. In der Stadt sah's schon sehr übel aus, die Leichen lagen herum und verwesten. Kein angenehmer Geruch, die Hunde waren schon richtig fett und die Ratten liefen auf den Straßen rum. Irgendwo saßen ein paar Menschen und bewachten geplünderte Schätze. ›Motten und Rost frißt jeden Schatz‹, Sie wissen schon, – Matthaeus 6, 19, habe oft drüber gepredigt. Hatte damals in Dover schon die Meinung, daß es Seuchen geben müsse.«

Doktor Füßli kam zurück. Er schwenkte ein paar Zettel und drei Reagenzgläschen. »Reverend«, schrie er, »Sie sind ein schrecklicher Mensch, Sie sind kerngesund.«

»Wußte ich ja«, knurrte der ihn an. »Aber die Doktoren müssen sich immerzu wichtig machen.«

»Gratuliere trotzdem«, Füßli schüttelte Morristone beide Hände. »Sie müssen nun aber leider hierbleiben. Tut mir schrecklich leid um Sie.«

Die drei Männer lachten.

»Ich wußte gar nicht, Doktor«, meinte Werner, »daß Sie so bissig sein können.«

»Gott, ich denke, wir haben das Schlimmste überstanden«, gab Füßli zurück, »und ein bißchen Humor wird dem Reverend auch nicht schaden.«

»Schätze, daß er zwei Monate lang keinen gehört hat«, ergänzte Morristone. »Übrigens hab ich schon wieder Hunger«, fuhr er fort. Er sah sich hilfesuchend um. »Schrecklich unfein, wie? Aber ich habe ihn.«

Er horchte auf seinen Magen, der vernehmlich knurrte.

Werner besorgte neues Essen, Morristone fiel darüber her, als hätte er noch nichts hinter sich gebracht.

Zwischendurch erzählte er weiter.

»Ja, war also scheußlich in der Stadt. Nach acht Tagen habe ich denn glücklich ein verlassenes Boot gefunden, war an den Strand gespült, offenbar war irgendein Idiot damit losgefahren und gekentert.

Das Pferd habe ich eingetauscht, gegen ein paar anständige Landschinken und etwas Brot. War das einzige, was noch aufzutreiben war. War aber auch schon steinhart.

»Über den Kanal bin ich ganz gut weggekommen, hatte Glück mit den Gezeiten, wenns auch ein hartes Stück ist, zu rudern. Hatte bloß eine alte Decke als Segel, damit war kein Staat zu machen.

War eigentlich der angenehmste Teil der Reise, waren gar keine Menschen da, die einen hätten überfallen können. War auch kein Brandgeruch da. Ist ekelhaft, wenns immerzu nach Brand riecht, verbranntem Holz, verbrannter Nahrung, verbrannten Menschen.«

Der Reverend sog nachdenklich an seiner Pfeife. Sie war ausgegangen, und nicht mehr zur Glut zu bereden.

»Schadet nicht«, bemerkte er, und legte sie weg. »Denn nun kommen schlimme Dinge, gegen die das, was ich bisher erzählt habe, kleine Kinderstücke sind. Denn in Frankreich marschierte ich stracks in die Hölle hinein. Die erste Zeit ging es noch, ich fand manchmal sogar etwas zu essen, und ein paar freundliche Bauern gab es auch, nachdem ich mich einmal durch das nordfranzösische Revier durchgeschlichen hatte. Ich habe mich tagsüber immer versteckt, so gut es ging, nachts bin ich dann losgezogen, immer Richtung Süden mit einem kleinen Einschlag nach Osten zu. Um die Städte und die größeren Dörfer habe ich große Bogen gemacht. Konnte mir nach den Erfahrungen in England gut vorstellen, wie es dort aussehen mußte. Schlimm wars, daß es keine Sensen und Sicheln mehr gab. Die Menschen rissen das halbreife Getreide aus der Erde. Die Bauern taten es lieber selbst, ehe es andere taten. Im nächsten Jahr gibt es kein Brot in Europa und keine Kartoffel. Was noch übrig geblieben ist, muß wohl verhungern, bis auf ganz geringe Reste.«

Er sprang plötzlich von seiner Reiseschilderung ab. »Damit, meine Herren«, sagte er, »ist es wohl mit der Herrschaft der weißen Rasse aus, nicht wahr? Wir haben keine Ahnung, wie es in den Kolonien aussieht aber viel wird auch da nicht übrig geblieben sein, in den Städten nun einmal sicher nicht. Und damit ist auch jede Regierungsgewalt zu Ende. Die Farbigen haben ja keinen großen Schaden gelitten, sie kehren zu ihren primitiven Kulturen zurück, mit Feuerstein und Feuerholz, mit Steinbeil und Holzpflug. Können wir Weißen das?«

Er schwieg eine lange weile.

Werner und Füßli sahen vor sich hin.

»Der Umfang der Katastrophe ist noch gar nicht abzusehen. Es fährt kein Schiff, es fährt kein Wagen«, bemerkte dann Dr. Füßli.

»Es wächst kein Korn, es schießt kein Gewehr«, setzte Morristone fort. »Die Mongolenstämme werden schon angeritten kommen.«

»Und die Neger, die Malayen, die Indianer, was Sie wollen.« Dr. Füßli schüttelte sich.

»So sind wir Gefangene unserer Werke«, sagte Erlinspiel. »Gewalt hatte der Mensch über das Eisen, aber die Macht über ihn hatte das Eisen selbst. Wir wußten es nicht.«

»Wo sind die großen Worte«, Morristone sprach sehr leise. »Kultur, Zivilisation, Herrschaft Staat, Europa!! Gott ließ einen Stern fallen. Er fiel in die Sonne. Und eine Menschheit versank.

Nun, wir wollen hier unser Bestes tun«, fuhr er fort.

»Zum ersten Male bekam ich das Grausen an der Saone. Da war ein wunderschönes altes Gehöft, mit geraden, wiegenden Pappeln. Weiter oben am Fluß war ein kleines Städtchen zu sehen, etwa anderthalb Stunden weg. Es war früher Morgen, ich war gerade eine Meile gelaufen. Ich ging zum Hoftor, es sah alles friedlich und unzerstört aus an diesem Gehöft. Ich rief Hallo. Niemand antwortete. Ich rief nochmals. Nicht einmal ein Hund bellte. Im allgemeinen sind solche alleinliegenden Gehöfte nicht verlassen, – oder sie liegen in Trümmern, dann waren schon Menschen dagewesen und hatten geplündert. Ich ging in den Hof, das Tor war gar nicht verschlossen. Im Hof rief ich noch einmal. Es blieb alles totenstill. Und dann roch ich etwas. Ich hatte inzwischen Übung im Wittern bekommen und diesen Geruch kannte ich aus allen anderen heraus. Es roch nach Leichen. Ich nahm meine Eisenholzkeule fester in die Hand und ging in das Haus. Gleich neben der Tür fand ich den ersten Toten. Es war ein alter Mann im Nachthemd, er war nicht einmal verletzt, es sah aus, als hätte man ihn aus dem Hause heraustragen wollen. Es stank abscheulich, ich suchte in der Stube nach, – in der Kammer, – um es kurz zu machen, ich fand sieben Tote. Bei den letzten drei merkte ich erst, was los war: es war eine ziemlich junge Frau und zwei Kinder, sie lagen zusammen im Bett, ganz friedlich, schienen noch nicht so lange tot zu sein wie die übrigen, es roch nach Karbol oder etwas Ähnlichem, – die Bettdecke war heruntergerutscht, – und da sah ich die Flecken – – es war Cholera.

Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dem Hause herausgekommen bin. Ich weiß nur, daß ich gelaufen bin, gelaufen, bis ich irgendwo in einem Walde liegen blieb, mit irrsinnigen Stichen in der Brust. Ich bin niemals in meinem Leben so wahnsinnig und so lange gerannt. Und ich hätte nicht aufgehört zu rennen, wenn ich nicht einfach zusammengebrochen wäre. Ich sage Ihnen, Doktor, ich habe eine Sehnsucht gehabt nach Saas-Fee. Nach grünen Wiesen und Gletscherwasser, – ich glaubte es auf der Zunge zu schmecken, dies klare, reine Wasser, kristallen und kühl, – und es war doch nur der Schweiß, der mir vom Gesicht lief.«

»Schön ist das«, fuhr Morristone fort. »Wenn man jeden Bissen sich erkämpfen muß, dann wird der Mensch ganz einfach zum Tier. Es ist gar nicht so schwer, den anderen totzuschlagen, ich spürte in mir selber manchmal die Lust, wenn ich tagelang nichts gegessen hatte, und sah dann einen, aus meinem Versteck, der noch ein volles Bündel mit sich schleppte. Ach, und all das andere! Die Seuchen, Typhus kam zur Cholera, und schließlich im Süden die Pest. Erst dachte ich, es seien Verrückte, oder eine Sekte, so wie die Flagellanten im Mittelalter, als ich verkleidete Menschen herumlaufen sah, mit Gesichtsmasken, aus denen nur die Augen durch zwei schmale Schlitze sahen. Aber dann begriff ich, roch ich den Gestank der Kräuter und Beeren, die sie verbrannten. And dann sah ich auch die Leichen! Schwarz, zusammengekrümmt, glauben Sie mir, der Spruch: stinkend wie die Pest, ist ganz richtig, wir haben uns nur nichts mehr dabei gedacht.

Wenn ich ein Kleiderbündel irgendwo sah, bin ich weggelaufen. Ich hatte solche Furcht, es könnte wieder so ein schwarzer Toter darinnen stecken.« Morristones Gesicht verfiel, der Schrecken nahm wieder Besitz von ihm. »Was noch lebte in Burgund, benahm sich verschieden. Es gab Prozessionen, irrsinnige Prozessionen, Geißelbrüder, Schreiende, Flehende, dem Wahnsinn Verfallene, aus denen das Entsetzen schrie und raste.

Menschen mit Augen, die das Gesehene blind gemacht hatte, Blutende, denen der Lebenssaft auslief vor allzuvielem Grauen. Die Zerstörung des Menschen sang da und tanzte und schrie und schlug sich mit Dornen. Bis der schwarze Tod sie stumm machte mitten im Schrei, und nur ein Röcheln noch in der Luft blieb, und die Verwesung.

Es ist grauenhaft. Kein Tier wird so vor dem Tode sein. Und ich konnte weder die verurteilen, die sich geißelten und Gott rufend durch die Lande taumelten in langsam sich vollendendem Irrsinn, noch jene, die sich der schrecklichsten Lust hingaben. Glauben Sie eigentlich, daß es Gott gibt? Einen Gott, meine ich, für uns Menschen? Ich wage es kaum mehr zu hoffen. Wer dieses sah, wird nicht mehr predigen können. Es sei denn von einem furchtbaren, mitleidlosen Geschick.«

Der Reverend schwieg erschöpft. Werner und der Doktor sahen sich stumm an. Was ihnen hier gesagt wurde, riß das Inferno auf, die wahrhafte Hölle, die nicht in feurigen Gluten und eiskalten Bächen besteht, die nicht tief unter der Erde glüht und peinigt. Denn die Hölle ist mitten in uns, und die Fessel, die sie hält, ist schwach.

»In Sitten endlich«, fuhr Morristone fort, »ganz vor Ihrer Nase, Mister Erlinspiel, haben sie so eine Art Räuberdiktatur aufgerichtet, Raubritterherrschaft aus dem 15. Jahrhundert. Damit die Burg nicht aus der Gewohnheit kommt. Eine Bande von zehn oder zwölf Kerlen haust in dem alten Gemäuer und räubert die Gegend aus, soweit noch etwas zu räubern da ist. Haben mächtigen Zulauf bekommen mit der Zeit, jetzt sind sie vielleicht dreißig Mann stark. Als erstes haben sie mal ein paar Dutzend junge Mädchen Zusammengefangen und auf der Burg eingesperrt. Sie haben sich mit Lanzen aus der alten Waffensammlung von Chillon ausgerüstet, statt der Stahlspitzen haben sie zugespitzte Knochen draufgesetzt, geradezu lächerliche Waffen, aber die Leute parieren vor ihnen. Wenn Sie die den Winter über gewähren lassen und die Pest sie nicht frißt, werden sie im Frühjahr über Ihr schönes Tal herfallen. Müßten eigentlich schon mal hiergewesen sein.«

»Nein, hiergewesen sind sie noch nicht«, erklärte Werner, »aber Burschen aus Zermatt haben von ihnen berichtet, und daß sie die Täler ringsum brandschatzen.«

»Na, vorläufig ist es nur eine solide Räuberbande, aber vielleicht fällt ihnen im Winter allerhand Gescheites ein, und dann haben Sie einen geordneten Räuberstaat vor der Nase. Ich sehe schon«, Morristone seufzte, »auch die neue Menschheit wird anfangen, Krieg zu führen. Die Sittener gegen Sie und Sie gegen die Sittener. Geht wahrscheinlich überhaupt nicht anders. Übrigens sollten Sie jetzt schon Zermatt zu Ihrem Reiche dazunehmen und den Sperriegel nach Stalden legen. Dann haben Sie Rückhalt.«

Werner lächelte. »Sie sind ein Imperialist. Was werden Ihre Frauenvereine für den ewigen Völkerfrieden sagen, wenn Sie so daherreden. Aber glauben Sie wirklich, daß ich das Tal so schön abgeschlossen habe, um mir nun die Zermatter Eifersucht auf den Hals zu laden, – und die Zermatter Cholera? Denn die gibts dort doch sicher? Oder nicht?«

»Zumindest sehr wahrscheinlich. Bis sie der Schnee zudeckt. Dann haben Sie bis ins Frühjahr hinein Ruhe vor den Seuchen.«

»Sehen Sie, wir können also ruhig abwarten. Übrigens sind es bis Stalden, wie Sie wissen, vierzehn Stunden zu Fuß, über die Pässe nach Zermatt ist es auch nicht näher. Das ist eine Ausdehnung, die wir noch nicht beherrschen können.«

Morristone stützte den Kopf in die Hände. »Ich sehe schon, ich bin hier in einem Tal gelandet, das etwas besitzt, was es, glaube ich, im Augenblick auf der ganzen Welt nur dieses eine Mal gibt: nämlich ein geordnetes Staatswesen. Wir wollen es also so lassen, wie es ist. Aber wenn die Burschen aus Sitten kommen, rate ich Ihnen, schießen Sie sie gleich mausetot. Sie haben sonst eine schreckliche Plage mit ihnen.«

»Nun –, Morristone«, sagte Erlinspiel, »dafür können Sie dann ja im gegebenen Augenblick sorgen. Denn Sie sollen so etwas wie meinen Stellvertreter abgeben, wenn ich nun losreite, Peter zu suchen. Es ist mir lieb, daß Sie da sind, der alte Zurbriggen ist zu nahe am Tode und der junge Anthanmaten zu nahe am Leben, als daß ich beiden in voller Ruhe das Tal anvertraut hätte. Zudem sind sie einheimisch und werden also immer Gegner haben. Sie aber wissen, was dort draußen los ist, und können also ermessen, was diesem Tal hier frommt, ohne Gegnerschaft fürchten zu müssen. Die Leute kennen Sie, Sie kennen dieses Stückchen Erde. Es ist gut, daß Sie gekommen sind.«

»Und der Doktor wollte mich nicht hierlassen«, meinte Morristone. »Da sehen Sie, wie schädlich dem Menschengeschlecht die Ärzte sind. Kann man auf dem Sofa eigentlich schlafen?«

Werner mußte lachen. Jetzt erst fiel ihm auf, daß der Reverend kaum mehr die Augen offen hielt.

Er besorgte ihm Bettwäsche, nach fünf Minuten schlief der Pastor wie ein Toter. Seine Hand hing herab. An seinem Halse schlug eine Ader in regelmäßigen Stößen.


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