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Der eingeklemmte Affekt

Als der Teekoster acht Tage später mit dem Nachtzug von Groslowitz zurückkehrte, war es sein erstes, daß er, ein Zeitungsblatt in der Hand haltend, die Baronin Lodersdorf telefonisch anrief. Es war halb elf Uhr vormittags, wie gewöhnlich.

Aber die Baronin kam nicht, wie sonst um diese Tageszeit, selbst ans Telefon. Nur der Heldenspieler verkündete – und zwar, ohne vorher eine Weisung eingeholt zu haben – in seiner kurialen Art:

»Die Frau Baronin lassen um Entschuldigung bitten, wenn nicht selbst ans Telefon kommen. Die Frau Baronin sind leidend.«

Weidenau erschrak so heftig, daß seine Stimme bedenklich ins Schwanken geriet.

»Leidend? Ist die Frau Baronin vielleicht krank?«

»Nein. Nur leidend. Die Frau Baronin sind außer Bett, gehen aber nicht aus und empfangen auch keine Besuche. Darf ich etwas ausrichten vom Herrn Baron?«

»Nur, daß ich mir erlauben werde, mich im Lauf des Nachmittags persönlich nach dem Befinden der Frau Baronin zu erkundigen«, sagte Weidenau mit einem Rest von Besorgnis in Ton und Gesichtsausdruck.

Allein schon in den späteren Vormittagsstunden, ganz besonders nach Erhalt eines Briefes seines Freundes, Doktor Höfers, aus Ottenschlag, stellte sich seine aus Groslowitz mitgebrachte gute Laune wieder her. Genau genommen hatte er sie sogar schon nach Groslowitz mitgenommen, und wenn er ihrer Entstehung analytisch auf den Grund ging, so mußte er sie, zum Teil wenigstens, auf jenen Augenblick in dem Gespräch mit Tinett Lodersdorf zurückführen, in dem sie ihm seinen Spitznamen verraten hatte. Weidenau war bis dahin ganz unbekannt gewesen, daß er in den bevorzugten Kreisen Wiens »der Teekoster« hieß. Seitdem er es wußte, fühlte er sich frei und leicht. Ihm war, als wäre er über seinen Schatten gesprungen.

In dieser angenehmen Stimmung, das Zeitungsblatt vom Vormittag in der Rocktasche, machte er sich am Nachmittag bei schönstem Frühlingswetter auf den Weg. Er ging zu Fuß, ohne Überrock, Handschuhe und Spazierstock in der Hand, wie in alten Zeiten, wie in jungen Tagen, durch den Belvederepark. Auf der obersten Terrasse vor dem mozartisch anmutigen Schlosse blieb er einen Augenblick lang stehen und genoß aufatmend die liebliche Aussicht. Da lag der Park wie ein zartgrün bewimpelter Festsaal zu seinen Füßen und dahinter die schimmernde Stadt, dahinter das blaue Band des auslaufenden Gebirges, das ihren lockeren Reichtum an den Himmel knüpfte. Aber dicht vor Weidenau standen seine beiden alten Freundinnen, die galanten Sphinxdamen, die eine rätselhaft sinnend, die andere rätselhaft lächelnd, und gaben ihm wie gewöhnlich ihre Rätsel auf. An ihnen vorbei eilte er nach kurzem Besinnen zu seiner gleichfalls rätselhaften Freundin, der Baronin Lodersdorf, hinunter.

Unterwegs machte er seinem Herzen Luft, indem er in einer Blumenhandlung, wo man ihn noch von früher kannte, ein österliches Gebinde kaufte. Es waren feuerfarbene und schwefelgelbe Tulpen in einem länglichen Kästchen aus Baumrinde, das er, an die Brust gedrückt, bis an seinen Bestimmungsort trug.

So schritt er, durch die offen stehende Gartentür, die drei elliptisch geschwungenen Steinstufen zu dem Portälchen hinan, zu dessen beiden Seiten, vom Frühling hervorgelockt, die beiden Oleanderbäumchen die Ehrenwache bereits bezogen hatten. Im Erdgeschoß sah er nicht ohne Verwunderung die rasch hergestellten Adaptierungen, auf die noch ein Maurerpinsel und ein Maltertrog deuteten. Und er sah auch, im Vorbeigehen, Mira in der weißen Spitalschürze der Baronin auf einer niederen Leiter stehen und, in der einen Hand ein Näpfchen mit weißer Ölfarbe, in der anderen den dazugehörigen Pinsel, die Tür zu ihrer künftigen Wohnung selbst anstreichen.

»Wie geht's, Baronin Mira?« fragte Weidenau, die Treppe hinansteigend.

»Danke …« erwiderte das schöne Mädchen auf der Leiter verwirrt: »Schon am Neunundzwanzigsten!« Womit sie offenbar das sie beschäftigende Datum ihrer Hochzeit meinte.

Weidenau lachte von Herzen über diese reizende »Fehlleistung« einer verliebten Braut, die, anstatt »Danke gut!«: »Schon am Neunundzwanzigsten!« erwidert, und beschloß, sie mit anderen ihresgleichen demnächst in der Psychoanalytischen Gesellschaft zum besten zu geben.

Oben angelangt, behändigte er das Tulpenbeetchen dem schmunzelnden Diener und ließ mit dem Bemerken, daß er keinen Besuch machen wolle, bloß fragen, wie sich die Baronin befände. Aber die schönen Blumen taten die erwünschte Wirkung. Nach einer Weile erschien der Heldenspieler wieder und öffnete feierlich die Tür zur Mausefalle.

»Die Frau Baronin lassen bitten!«

Sie empfing ihn, tatsächlich etwas blasser als sonst, aber darum nach Weidenaus Geschmack nur um so reizender, mit ernstlichen Vorwürfen. »Ja, was ist Ihnen denn eingefallen?« schalt sie, auf die Tulpen deutend, die, an die Wand gerückt, grellrot und schwefelgelb zu ihrem Bild emporzüngelten: »In diesen teuern Zeiten Blumen – und noch dazu so schöne! Ich glaub' ja, ich bin im Rathauspark!«

Weidenau küßte ihr bewegt die Hand.

»Die Blumenspende war ich Ihnen wohl schuldig, liebste Freundin!«

Und er zog das vormittägige Zeitungsblatt aus der Tasche, um es ihr zu überreichen.

Die Baronin hob die Brauen und entfaltete das Journal. Ihr Blick fiel sogleich auf eine rotangestrichene Stelle, und sie las, zunächst ohne das geringste Verständnis:

»Direktor Frank-Luschmann verhaftet!«

»Was geht das mich an?« fragte sie.

Weidenau trat hinter sie und deutete auf einen Absatz in dem sensationell aufgepulverten Bericht, den das scharf-oppositionelle Blatt dem bereits stadtbekannten Krach der »Devabank« nachschickte. »Der bezaubernde Herr Generaldirektor«, hieß es da, »der fast in jedem Wiener Stadtbezirk eine Frau und eine Wohnung hatte; der noble Mann, der auf den Märchenfesten unserer Finanzwelt so reizend stößig Shimmy tanzte; der Charmeur, der ›Herzensdieb‹, für den die jüngsten Mädchen ebenso wie die ältesten Betschwestern und Exzellenzen schwärmten – sitzt nun leider in Untersuchungshaft. Aber auch einige seiner Geschäftsfreunde sehen sich bereits im Gebrauch ihrer Freiheit nachhaltig beschränkt – darunter auch der Edle von Haldenwang, der zuletzt für Frank-Luschmann als sogenannter Remisier tätig war …«

»Die Stellung war mir zugedacht«, sagte Weidenau, »und ich hätte sie wahrscheinlich angenommen, wenn Sie nicht den guten Einfall gehabt hätten, mich für den Nachmittag zum Tee zu laden, an dem ich mit Herrn Frank-Luschmann eine entscheidende Zusammenkunft hatte … Es hat doch auch manchmal sein Gutes, wenn man ein Teekoster ist …«

In diesem Augenblick öffnete sich die Türe, und der Heldenspieler schob vorsichtig wie einen schlafenden Säugling den Teetisch auf Rädern herein. Als er wieder abgegangen war, sagte die Baronin, das Zeitungsblatt nachdenklich beiseite legend:

»Und das mit ›Nur-ein-Viertelstündchen‹ ist also wahr?«

» Wenn es wahr ist, kann ich nur hoffen, daß die gute Fanni mit meinem Nachfolger glücklicher werden wird!«

»Und Ihre Kinder?«

»Ich habe auf meinen Anteil an Groslowitz zu ihren Gunsten verzichtet. Damit ist auch dieser Teil der Angelegenheit, wie man früher einmal gesagt hat, ritterlich erledigt.«

» Sehr ritterlich!« sagte sie, die seine Verhältnisse kannte: »Aber wie ist das alles auf einmal gekommen?«

»Nicht auf einmal, wie die meisten Dinge, die auf einmal kommen … Gott, es ist ja eigentlich so begreiflich … Ein junger Lehrer und die Gutsherrin – das war schon beim seligen Spielhagen so und ist heutzutage auch nicht viel anders … Zudem, die gute Fanni ist gegen Vierzig, das gewisse, auch für andere gefährliche Alter, in dem die Frauen –« er wollte sagen: »närrisch werden«, bremste aber rechtzeitig.

Indessen, schon hatte sie ihn erraten; und lebhaft einfallend sagte sie:

»Sagen Sie nur ruhig: in dem die Frauen närrisch werden … Die Frauen werden gegen Vierzig närrisch, die Männer sind's ihr ganzes Leben lang.«

Weidenau lachte über diese ungezwungene Bemerkung, die so echt Tinett-Lodersdorfisch war. Dann wurde er wieder ernst und meinte:

»Mir ist im Gegenteil, als wäre ich erst in den letzten Jahren zu Verstand gekommen.«

»So, finden Sie? – Seit wann denn?«

»Seit dem Semmering –«, sagte er vorsichtig. »Seit unserer wundervollen Schlittenfahrt, seit –« Aber schon versteifte sich ihre Haltung, ihre Miene wurde abweisend.

»Sprechen Sie nicht davon, bitte. – Das ist gegen die Abmachung!«

»Ich muß es tun, Tinett … Es gibt Stunden, die im Tiefsten verbünden, auch wenn die Verbündeten nichts mehr davon wissen wollen … Und diese Stunden geben mir das Recht, zu fragen, warum Sie mich seit Jahren von sich fernhalten.«

»Fragen Sie doch Ihren Freund«, sagte sie. »Sie behaupten doch immer: vom Nachfolger erfährt man es.«

»Also war der Doktor Höfer mein Nachfolger?«

»Und wenn er's gewesen wäre?« fragte sie trotzig.

»So müßte ich es hinnehmen, wie alles andere. Ich würde mir nie gestatten, auf Höfer eifersüchtig zu sein. Es stünde einem Mann wie mir auch übel an.«

»Da haben Sie ausnahmsweise einmal recht, Baron Erni.«

»Was aber meine Nachfolgertheorie betrifft, die ja im allgemeinen stimmt, so stimmt sie gerade in diesem Falle eigentlich nicht.«

»Vielleicht doch«, sagte sie mit abgewandtem Blick. »Vielleicht gerade in diesem Fall.« Und sie goß entschlossen Tee ein.

Er blickte sich vorsichtig um, sie waren allein, die Tür zum Nebenzimmer geschlossen; bedächtig wagte er die Frage:

»Da müßte ich vor allem wissen, was Sie eigentlich zu meinem Freund so hingezogen hat.«

Sie sagte, die Teekanne anstarrend, mit dieser reizenden Mischung von Schüchternheit und Bestimmtheit, die ihr manchmal eigen war:

»Vielleicht vor allem auch der Wunsch, einem Manne alles zu sein – nicht nur ein Berg in einer Kette.«

Gottlob, das war eine deutliche Anspielung auf den mit den Alpen verbundenen Semmering; sie fing an, sich zu dem Vergangenen zu bekennen, der »eingeklemmte Affekt« begann, zum erstenmal seit Jahren, sich zu lockern.

Weidenau, um diesen hoffnungsvollen Prozeß nicht zu unterbrechen, sagte behutsam:

»Das also war's!«

»Ja, was haben Sie denn geglaubt, daß es war?« erwiderte sie nun, von dieser Behutsamkeit sichtlich gereizt; und, mit zusammenrückenden Brauen: »Ich hab' doch schon vorher die längste Zeit mit angesehen, wie Sie Ihr Leben vertändeln und verspielen, und hab' mir einen Augenblick lang eingebildet, daß vielleicht ich – mein Gott, was bildet sich eine Frau nicht alles ein, die in einen Mann verliebt ist … Aber wie Sie dann ohne Abschied an die Front gegangen sind, ohne mir auch nur Adieu zu sagen, und nach allem, was geschehen ist, monatelang nichts haben von sich hören lassen – da – – ja da …«

Er hatte nur dies eine Wort »verliebt« gehört, das sie mit jener verloren geglaubten Silberstimme sprach und das ihm lieblich ins Ohr läutete, wie fernes Schlittengeklingel im Schnee – so lieblich, daß er für die Dauer eines Atemzuges die Augen schloß. Dann öffnete er sie wieder, und, über den Teetisch langend, nahm er, während sie weitersprach, ihre beiden Hände, zuerst die linke, wie es seiner Gewohnheit, dann die rechte, wie es seiner Entwicklung entsprach; und er küßte sie, eine um die andere, leidenschaftlich und doch behutsam, bevor er am Ende seinerseits den »eingeklemmten Affekt« mit den Worten berührte:

»Aber ich hab' doch nicht anders können, damals, als mich schweigend empfehlen – nach dem Selbstmordversuch meiner Frau!«

Mit einem Ruck zog sie ihre Hände zurück:

»Was? ›Nur-ein-Viertelstündchen‹ hat sich umbringen wollen?! Das hab' ich ja gar nicht gewußt! Die Arme!« rief sie erschrocken und starrte ihn mit großen Augen an:

Er nickte nur:

»Damals am Abend jenes wunderbar verschneiten Tages, wie ich vom Semmering zurück –«

»Aber warum haben Sie mir das nicht gesagt? Es war doch auch meine Schuld!«

»Vielleicht gerade darum«, erwiderte er leise. »Und dann, es war doch das Geheimnis meiner Frau, solang sie meine Frau war … Erst heute darf ich –«

Sie schaute ihn an, mit langsam sich erhellenden Augen – »die elektrische Beleuchtung«, dachte Weidenau wie im Traum – und sagte schließlich, nach ihrer Art auch das Unausgesprochene honorierend:

»Das war eigentlich sehr nett von Ihnen!«

Er fühlte sich mit einem Male jung und glücklich.

»So hab' ich also diese bittern letzten Jahre doch nicht ganz umsonst gelebt!«

»So wie wir alle!« nickte sie. »Es war wohl alles notwendig.«

Dann erhob sie sich und trat, an ihrem, vom sinkenden Tageslicht entfärbten Jugendbild vorbei, ans offene Fenster, in dem duftschwer der Frühlingsabend hing. Hoch und schmal stand sie da, in der hohen, schmalen Fensterrahmung, die bis zum Boden herabreichte, und schaute hinaus, hinunter. Regungslos, von der zunehmenden Dämmerung eingehüllt, zuletzt nur noch im Schattenriß sichtbar, blickte sie, abgewandten Gesichts, über die Brüstung. Es war, als blickte sie jemand nach, es war, als blickte sie jemand entgegen. Was war stärker? Sie wußte es selbst noch nicht und wartete auf die Entscheidung ihres nie sie trügenden Blutes. Da, plötzlich, in dem von ganz jungem Grün überhauchten Geäst des alten Kastanienbaumes, begann eine Amsel zaghaft zu flöten. Ihr war es wie ein Orakel, wie eine Antwort. Und indem sie, hochaufatmend, den schönen Kopf langsam über die Schulter bog, sagte sie, ohne ihn anzusehen, zu einem, der im Dunkeln wartete:

»Kommen Sie – zu mir!«

 


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