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Weidenaus letztes Kriegsjahr

Als die Grippeseuche, die Wien in diesem Unglückswinter heimgesucht hatte, längst abgeklungen war, bekam Baron Weidenau die Grippe. Es war nicht sehr schlimm, der alte Hausarzt seiner Eltern kam nur ein paarmal und verordnete in der Hauptsache nichts als Bettruhe. So lag denn der Freiherr auf dem zum Bett umgearbeiteten Diwan seines Hofzimmers, von psychoanalytischen Schriften, in denen zu studieren ihm immer mehr Bedürfnis wurde, halb zugedeckt, und dachte über sein labyrinthisch verknäultes Liebesleben nach, bemüht, den Ariadnefaden herauszulösen.

Wo haben wir haltgemacht? fragte er, indem er gleichsam bei sich selbst Besuch machte. Ach ja, richtig, bei Daria! fiel ihm ein, zu welchem Einfall immerhin auch der kleine Schnellsieder zu seiner Linken beigetragen haben mochte, auf dem ihm die Wabi eben erst den Tee bereitet hatte. Genau ein solcher Spirituskocher pflegte in Darias kleinem Hotelzimmer auf dem Tisch zu stehen, und gewöhnlich lag Barbusses »Le feu«, in dem sie eben erst gelesen hatte, so unvorsichtig dicht daneben, daß Weidenau, hereinkommend, das Buch vorsichtig wegschob, damit es nicht an der flackernden kleinen Flamme Feuer fange. Damals also, im Winter 1918, als Lora seit acht Wochen in Innsbruck weilte und die Baronin Lodersdorf aufs Gut gereist war, erschien Daria bei Weidenau, mit einer Einführung Traus, der zu jener Zeit für die Botschaft in Konstantinopel arbeitete. In Odessa geboren, kam sie vom Bosporus nach Wien und strebte hier eine Aufenthaltsbewilligung an. Dazu sollte ihr Weidenau verhelfen.

Er sah, als sie ihn im Büro besuchte, eine zierlich-elegante, auffallend schöne Frau vor sich, von stark östlichem Typus. Sie hatte übermäßig große, schwarze, schwarzumränderte Augen – Augen wie das Schwarze Meer, schrieb ihr Weidenau später einmal – und die weißesten Zähne, die, wenn sie lächelte, wie ein Geschmeide in dem bräunlichen Gesicht zwischen den sich langsam verschiebenden Lippenrändern aufblitzten. Dieses Zigeunerlächeln vor allem war es, was Weidenau anzog, und er sagte im Beginn ihrer Bekanntschaft oft etwas Lustiges, nur um Darias Zähne so hübsch blitzen zu sehen.

Die Aufenthaltsbewilligung für die aus dem Orient zugereiste schöne Dame war nicht so leicht zu beschaffen. Es bedurfte mehrerer Briefe und der Aufbietung des ganzen Apparates ererbter Beziehungen, über den Weidenau verfügte, um sie in die Wege zu leiten.

Im Anfang erkundigte sich Daria telefonisch nach dem Stand ihrer Angelegenheit. Dann, da sich diese in die Länge zog, bat sie ihn, sie in ihrem Hotel zu verständigen, wenn es etwas Neues gäbe; sie wäre an jedem Nachmittag zu Hause.

Der unterstandslos gewordene Teekoster ging an einem der nächsten Nachmittage zu ihr. Er ließ sich melden, und es wurde ihm bedeutet, die Dame erwarte ihn auf ihrem Zimmer.

Sie ist Witwe! fiel ihm im Hinaufsteigen ein: und braucht auf niemand Rücksicht zu nehmen, das ist der Unterschied.

Er klopfte an die Tür, eine Stimme sagte verstohlen: Entrez!, und er sah sich, eintretend, jenem Berberlächeln gegenüber. Der französische Roman entsank einer feingliedrigen, beringten, etwas gelblichen Damenhand, die ihm eine auf dem Sofa ruhende Frau erfreut zustreckte.

Um diese Zeit begleitete Soulalamp ihren notdürftig ausgeheilten Bruder in die Schweiz, die Baronin Risa war als elegante Armeeschwester an die Südfront abgereist, die Lodersdorf lebte mit ihren Kindern auf dem Lande, und »Nur-ein-Viertelstündchen« bemühte sich vergeblich, ihren Mann um die Teezeit zu Hause zu fesseln. Ihr Gesichtskreis glich demjenigen eines Kindes, und wenn sie plaudern wollte – was Weidenau plaudern nannte –, so erinnerte sie ihn immer an eine Henne, die zu fliegen versucht. Sie begann dann regelmäßig mit einem philosophischen: »Wenn man bedenkt …«; aber nach zwei, drei Flügelschlägen war sie schon wieder auf der ihr natürlichen Ebene ihres Hühnerhofes angelangt, während Weidenau unter Anwendung des ganzen Scharmes, den er bei solchen Gelegenheiten zu entwickeln verstand, unter irgendeinem Vorwand der Türe zustrebte.

Er ging zu Daria, bei der er sich nicht erst anzumelden brauchte. Daria war, wie sie ihm gesagt hatte, immer zu Hause, und bald hatte er auch die Empfindung, daß sie ihn immer erwarte. Sie lag auf dem Sofa und las in einem Buch, und wenn er kam, richtete sie sich halb auf und steckte den schon vorbereiteten und mit lauem Wasser gefüllten Schnellsieder in Brand, um den Tee zu kochen. Der war schnell bereitet.

Eines Tages, als er wieder bei ihr eintrat, sah er das Sofa leer. Seine erste Eingebung war, daß er sich in der Türe geirrt haben müsse, weshalb er, diese zuziehend, um einen halben Schritt zurücktrat, um die Zimmernummer noch einmal anzusehen. Aber in diesem Augenblick erklang rechts hinter der Türe Darias etwas gutturales Lachen. Er wandte sich um und sah sie in ihrem Bette liegen. Daria war etwas unpaß, ließ es sich aber nicht nehmen, ihren Besucher trotzdem zu empfangen. Übrigens sah sie entzückend aus im Bett, angetan mit einem jener Spitzenhemden, die, mit Bedacht zusammengestellt, vor dem Spiegel gesteckt und probiert, auf die Farbe der Augen und der Haare abgestimmt, nichts anderes sind als das Ballkleid der Frau in reifen Jahren.

 

Weidenau, an dieser Stelle seiner analytischen Untersuchung angelangt, zündete eine Zigarette an, obwohl es ihm der Arzt verboten hatte, machte sein pfiffiges Schulstürzergesicht, als ihm der Rauch angenehm in die Nase stieg, und grübelte mit einer Art wollüstiger Hypochondrie weiter.

Auch damals war er hinter die Schule gegangen, und das war doch eigentlich nur natürlich, da Lora in der Schweiz sich von Trau den Hof machen ließ und die Baronin Lodersdorf sich mit ihren Kindern vor der Hungersnot aufs Land gerettet hatte. Daria war in dieser Zeit seine einzige Ansprache.

Übrigens beeinflußte sie ihn in mancher Richtung sehr zu seinem Vorteil. Sie fand, nicht mit Unrecht, daß er geistig etwas verwahrlost sei, und machte es sich zur Aufgabe, ihn aus dem »Sumpf«, wie sie sagte, herauszuziehen, indem sie ihm alle ihr zugänglichen Bildungsquellen erschloß. Sie nahm ihn in Vorträge, Universitätskurse und Konzerte mit, sie gab ihm Bücher zu lesen, in denen eine neue Menschheit um Erlösung rang. Sie brachte ihm den Begriff »Qualität« bei. Um diese Zeit wurde Weidenau literarisch und überraschte seine Freunde mit mutigen Urteilen über Ibsen, Strindberg, ja sogar Flaubert, von dem er plötzlich eine Menge zu wissen schien. All das ging auf Darias Einfluß zurück, die viel und nur das Beste las, im Gegensatz zu Lora, die wenig, aber das schlechteste Zeug zum Gegenstand ihrer Lektüre machte. Weidenau hatte einmal, als ihre Liebe noch in voller Blüte stand, einen Bücherzettel in die Hand bekommen, mit dem sie die Köchin in die Leihbibliothek schickte – die reiche Lora kaufte nie ein Buch, sie hielt dies für eine Sünde, und es war die einzige, die sie nicht beging –, und hatte eine Zusammenstellung zur Kenntnis genommen, die mit der »Gelben Jacke« begann und dem »Roten Piraten« schloß. Obwohl damals noch keineswegs literarisch, war er doch aufrichtig entsetzt darüber, womit elegante Frauen, von deren Anerkennung junge Dichter wie von der Krönung auf dem Kapitol träumen, ihren Geist nähren.

Das war alles schön und gut, und die Bildung Weidenaus machte die erfreulichsten Fortschritte, als Lora nach mehrmonatiger Abwesenheit in Wien eintraf und ihren Platz besetzt fand. Zwar hatte er nicht den Mut, ihr sofort die volle Wahrheit zu sagen, aber mit der Zeit merkte sie es doch, daß er noch zu einer anderen mit Lust und Liebe Tee trinken ging, und nun war es aus und geschehen. Lora Plank wurde einfach an der Welt irre. Sie hatte einen Freund, mit dem sie sich in allen Stücken (ausgenommen die Literatur) wunderbar verstand, sie hatte sich mitten im täglichen Leben einen ganzen niedlichen Fuchsbau heimlicher Verständnisse kunstvoll eingerichtet, worin sich niemand auskannte als sie und er, sie hatte den Ein- und Ausgang dazu ein für allemal versichert, indem sie ihrem Mann »Herzerl« und ihrem Liebsten »Schatzerl« sagte, und nun sollte all das plötzlich ein Ende haben und, was ihr der Graf Trau als geschickter Liebesintrigant längst prophezeit hatte, tatsächlich eintreten! Und warum? Weil sie vier Monate, gewiß nicht zu ihrem Vergnügen, von Wien abwesend gewesen war! Die sittliche Weltordnung schien ihr in Gefahr.

Aber nicht genug an dem, erkannte Weidenau in diesem bewegtesten Abschnitt seines ihn längst nicht mehr glücklich machenden Teekosterlebens eines Tages, daß er auch Daria nicht liebte, daß auch sie – in der Sprache des verhängnisvollen Onkels zu reden einen Hornsprung hatte, wenn nicht gar ein Stichbein. Und zwar war dieses Stichbein Darias ausgesprochene Neigung zum Kommunismus, ein Fehler, der Loras Ignoranz auf dem Gebiete der schönen Literatur zumindest aufwog. Er entdeckte es unter dem Eindrucke der Tatsache, daß die Baronin Lodersdorf, die für ein paar Wochen nach Wien gekommen war und bei der er sich zum Tee angemeldet hatte, seine Anmeldung zwar freundlich entgegennahm, dann aber, am Tage, an dem er sie besuchen wollte, ihm durch dieselbe Kammerzofe, die ihn damals so dienstwillig nach seinem Namen gefragt hatte, sagen ließ, er möchte nicht kommen, sie wäre am Nachmittag nicht zu Hause.

Also bin ich schon soweit, daß anständige Frauen nichts mehr mit mir zu tun haben wollen! sagte sich Weidenau und ließ alle Minen springen, um bei der Baronin, die er bisher wunschlos verehrt hatte, zum Tee wieder zugelassen zu werden.

Er setzte es schließlich durch; und setzte am Ende noch mehr durch; denn die Abneigung der Baronin gegen ihn war, wie sich herausstellte, schmeichelhafterer Natur, als er gefürchtet hatte.

Jedenfalls empfing sie ihn – wenngleich erst, nachdem er ihr drei aufeinanderfolgende Nachmittage zur Auswahl freigestellt hatte – auf das freundlichste in einem reizenden neuen Teekleid. Es war blau mit Silberborten, und sie bezeichnete es selbst in ihrer lustigen Art als »Jungfernsarg«. Auch nahm sie es nicht ungnädig auf, als Weidenau, der an Geburtstagen ein guter Vater war, sie eine Viertelstunde vor dem Weggehen bat, ihn beim Ankauf eines Wurstels für seinen Jüngsten, der in den nächsten Tagen drei Jahre alt würde, zu unterstützen. Sie gab ihm die Adresse einer in Mariahilf gelegenen Spielwarenniederlage, in der sie selbst ihren Bedarf an derlei Geschenken deckte, und als er ihr nahelegte, mit ihm zusammen diese Expedition zu unternehmen, weil er allein ja doch sicher »angeschmiert« würde, sagte sie lustig, ja sogar mit einer Art Galgenhumor, wie ihm später vorkam: »Also gut, meinetwegen, kaufen wir den Wurstel!« Der Ton aber, in dem sie das sagte, war nicht ihr gewöhnlicher. Es klang ganz anders, und Weidenau wußte stundenlang nicht, wie. Bis ihm plötzlich einfiel, daß Daria unlängst, als er, ihr ein Buch aus der Hand nehmend, zärtlich werden wollte, ganz im gleichen Tonfall zu ihm gesagt hatte: »Also gut, meinetwegen, spielen wir Liebe!«

Übrigens blieb es nicht bei dem Ankauf des Wurstels und einem sich anschließenden Teegespräch in einer Vorstadtkonditorei, die fade nach verbotenen Süßigkeiten roch. Denn dort, von flüsternden Liebespaaren umringt, setzte die Baronin ihren Begleiter davon in Kenntnis, daß sie sich genötigt sähe, mit einem ihrer Buben, der Keuchhusten hätte, für ein paar Tage auf den Semmering zu fahren. »Aber bitte, Baron Erni, fahren Sie mir nicht nach!« sagte sie, wobei sie ihn plötzlich ganz ernst anblickte. Die Plötzlichkeit, ja Ängstlichkeit dieser Bitte vor allem war es, die ihn verführte; und als er eine Viertelstunde später neben ihr in einem rasch herbeigewinkten Wagen saß, bestätigte die bestürzte und doch entschlossene Zärtlichkeit, mit der sie seinen Kuß erwiderte, seine ihn überraschende Vermutung …

Dennoch nahm er sich vor, ihrem Wunsch zu gehorchen. Allein drei Tage später, fast gegen seinen Willen, war er bei ihr in der wunderbar reinen Luft des beschneiten Semmerings, wenn auch nur für wenige Stunden, deren Spur sich in seiner Erinnerung unter Schlittengeklingel im Schnee verlor.

 

Als der Seelenlöser in eigener Sache bei der Durchhellung der dunklen Gebiete seiner Vergangenheit an diesem Punkte angelangt war, nahm er einen vollen Löffel Medizin ein, deren bitterer Nachgeschmack zu dem, was nun kam, am besten stimmte.

Er hatte sich Hals über Kopf zu der Semmeringer Reise entschlossen, an einem Samstagnachmittag. »Nur-ein-Viertelstündchen« war nicht einmal zu Hause – sie war, wie das in diesem Winter immer häufiger vorkam, in der Stefanskirche beten. Dort sah man die Baronin, der die morgendliche Andacht offenbar nicht mehr genügte, um ihr schweres Herz zu erleichtern, in jüngster Zeit regelmäßig auch um die Vesperzeit vor dem drahtverhüllten Marienbilde knien, das, an einem Mittelpfeiler angebracht, vom Goldglanz armseliger Kerzenstümpfchen – den Kerzen der Armen – milde angeglüht, durch seinen stillen Barmherzigkeitsblick das niedere Volk am meisten anzog. Und auch Fanni Weidenau, von der im Laufe der letzten Jahre aller Hochmut abgefallen war, gesellte sich zu diesen kleinen Leuten und bog ihr abgehärmtes Kindergesicht in den tröstlichen Lichtschein der »Maria Pötsch«. Aber der Teekoster hatte davon keine Ahnung. Er ließ daher, da er in Eile war, der abwesenden Baronin bloß durch das Mädchen sagen, daß er auf den Semmering fahre und erst am Sonntagnachmittag zurückkäme.

Indessen kam er nicht am Nachmittag, sondern erst um neun Uhr abends zurück, und dieser kleine Aufschub mochte das Maß vollgemacht und zum Überfließen gebracht haben.

Die Kinder waren bereits zu Bett gegangen, als er sein Heim wieder betrat, und auch die Baronin hatte sich schlafen gelegt, wie das Mädchen meldete, was Weidenau gleich nicht geheuer vorkam. Er ließ sich daher, gegen seine Gewohnheit, über die vorgefallenen Telefonanrufe nicht erst Bericht erstatten, sondern ging gleich auf die Schlafzimmertüre zu, die zu öffnen er sich aber einige Augenblicke lang nicht entschließen konnte. Das vorübergehende Mädchen schaute ihn verwundert an.

Schließlich stieß er dann doch die Türe auf. Es war stockfinster im Zimmer; die Baronin lag in ihrem Bett und atmete tief und nicht ganz regelmäßig. Er machte besorgt Licht, und nun bemerkte er zu seinem Entsetzen, daß sie mit den über der Brust gefalteten Händen ihr kleines Kruzifix im Schlaf umklammert hielt, was sie sonst nie tat. Im nächsten Augenblicke gewahrte er auch ein Fläschchen, das umgestürzt, aber ohne daß Spuren von Nässe wahrnehmbar gewesen wären, auf dem Nachtkästchen lag … Sein böses Gewissen ließ ihn den Rest erraten.

Er telefonierte sofort dem Hausarzt, der zum Glück erreichbar war. »Veronal!« sagte dieser, das Fläschchen in die Hand nehmend. Die Gegenmittel wirkten, und einen Tag später war »Nur-ein-Viertelstündchen« außer Gefahr. »Wenn Sie statt am Abend in der Früh vom Semmering zurückgekommen wären, wär' es zu spät gewesen«, sagte der Hausarzt und schaute dem Baron tief in die Augen.

Fanni machte ihm keine Vorwürfe, als er sie tags darauf, ihre Hand küssend, um Verzeihung bat. Aber sie billigte seinen Entschluß und bat ihn nur, bevor er ihn ausführte, zu beichten und das Abendmahl zu nehmen, was er auch tat.

Indessen suchte er, ohne Zeit zu verlieren, seinen guten Freund, den Major Zeller, in seinem Büro im Platzkommando auf, der dem berüchtigten Rekrutierungsgeneral als Hilfskraft zugeteilt war.

Als der Major Weidenaus, den er seit seiner Freiwilligenzeit kannte, ansichtig wurde, fragte er, auf den Sessel neben seinem Schreibtisch deutend, zynisch-kameradschaftlich, wie es seine Art war:

»Hast du einen Herzfehler oder einen Neffen, der zur Artillerie will? Mach's nur schnell, bitt' dich!«

»Weder – noch!« antwortete Weidenau im gleichen Tone; und sich aufrichtend:

»Ich will an die Front!«

Und er erklärte dem Major, dessen Augen größer wurden und dessen Mund sich in die Breite zog, daß jetzt – es war im Frühjahr 1918 – alle Mann an Bord müßten, um das sinkende Schiff zu retten. Weidenau sagte tatsächlich: »alle Mann an Bord«, was er noch nie in seinem ganzen Leben gesagt hatte.

Der Major schlug ein Bein über das andere. Er hatte den Teekoster einmal nächtlicherweile mit Lora aus dem Stadtpark »debouchieren« und ein Jahr darauf mit Daria in ein Museum verschwinden gesehen. Auch die schlanke und geschwinde Baronin Lodersdorf kannte er, wenngleich, zu seinem Bedauern, nur ganz oberflächlich. Er sagte:

»Also mit einem Wort, du ziehst den Heldentod den Komplikationen des Hinterlandes vor!«

Er stand auf, drückte ihm die Hand und entließ ihn mit den Worten:

»Auf Wiedersehen im Massengrab!«

Denn er selbst war im Begriff, an die Front abzugehen.

Eine Woche später rückte Weidenau, ohne von seinen Schönen Abschied genommen zu haben, zu seinem Kader ein. Und dann trank er nachweisbar ein halbes Jahr lang bei keiner einzigen Frau Tee – es wäre denn, daß man die Schwester Emmanuela im Spital zu Tarvis, wo er die meiste Zeit verbrachte, eine Frau nennen wollte.

Übrigens war es Kaffee.

 

Da war nun also der sein Gewissen reinigende Weidenau bei jenem Punkte angelangt, den er selbst, wissenschaftlich-unwissenschaftlich, den »eingeklemmten Affekt« nannte. Den das war jener Selbstmordversuch, der ihn seither hinderte, sich einer Frau auch nur zu nähern.

Er wälzte sich auf seinem Lager, und da er spürte, daß sein Blut rascher kreiste als am frühen Nachmittag, maß er sich mit dem Thermometer; er stellte fest, daß er tatsächlich wieder ein paar Zehntel hatte. Sollte die Grippe zurückkehren? Aber es war ja gar keine Grippe, es war jener eingeklemmte Affekt, der ihn würgte, an dem er siechte und von dem niemand wußte außer jenem Beichtvater, dem er sich auf Fannis Wunsch anvertraut hatte. Allein der beurteilte die Sache wieder von einem ganz anderen Standpunkt.

Dann versuchte er zu lesen, aber das ging auch nicht. Wenn nur der Abend schon vorüber wäre und die Nacht! dachte der einsame Kranke.

Da öffnete sich die Türe, und die Wabi mit ihrem guten, besorgten Dienstbotengesicht erschien vorsichtig auf der Schwelle:

»Der Herr Doktor Höfer wär' da.«

»Was, der Doktor Höfer? Ja haben Sie ihm denn nicht gesagt, daß ich Grippe hab'?«

»Er sagt, es macht ihm nichts!«

Ein warmes Gefühl belebte Weidenau.

»So lassen S' ihn herein!« sagte er, die Arme im Nachthemd ausbreitend: »Aber machen S' zuvor das Fenster auf. Es ist ja schon ganz warm draußen!«

Es war Mitte April, Frühling, und im Götterbaum zu Häupten der gußeisernen Flora sangen bereits die Vögel. Die beiden Freunde hörten es deutlich, während sie schwiegen.

Dann redeten sie wieder, von unpersönlichen Dingen, vom Umsturz in Ungarn, dessen Ausschreitungen sie, ihrem entgegengesetzten politischen Standpunkt entsprechend, ganz verschieden beurteilten.

»Gib dich keinen Hoffnungen hin!« mahnte der »öffentliche Ankläger«: »Die Zukunft gehört der Republik.«

»Glaubst du das?«

»Ich glaub' es! Und ich will es glauben!« sagte Höfer ernst. Weidenaus lustiges Gymnasiastengesicht kam plötzlich wieder zum Vorschein. »Und die Baronin Lodersdorf?« fragte er bubenhaft verschmitzt: »Glaubt die das auch?«

»Die glaubt wohl eher das Gegenteil!« antwortete Höfer, der wider Willen auch lächeln mußte.

»Ich muß sie nächstens wieder besuchen!« meinte Weidenau, um wenigstens im Gespräch etwas länger bei der Baronin zu verweilen.

»Besuchen?« Höfer schaute ihn verwundert an: »Sie ist ja abgereist – aufs Gut – zu ihrer Mutter.«

»Aber nein! – Seit wann denn?«

»Seit drei Tagen.«

»Woher weißt du's?« fragte Weidenau.

»Von ihr selbst. Sie hat es mir geschrieben.«

»Geschrieben? Vor ihrer Abreise?«

»Nein, nach ihrer Ankunft!« erwiderte Höfer ganz unschuldig und zog einen blaßblauen Brief aus der Tasche, den er jedoch, sich besinnend, gleich darauf wieder einsteckte.

Später, auf dem Nachhausewege, blieb der ernste Mann unter einer Laterne stehen und überlas die wenigen Zeilen noch einmal.

Sie lauteten:

»Lieber Herr Staatsanwalt, Sie werden sich gewiß wundern, schon einen Brief von mir zu bekommen. Aber ich muß Ihnen doch sagen, daß es auch hier bereits Tulpen gibt, wenn auch nicht so schöne wie im Wiener Rathauspark! … Mit den herzlichsten Grüßen

T. L.«


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