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Soulalamp

Weidenau hatte einen so ausgedehnten und vielverzweigten Damenverkehr, daß bei den vielen Frauenstimmen, die tagaus, tagein, telefonisch, in Gesellschaft oder unter vier Augen, auf sein Ohr eindrangen, dieses sich zuweilen nach der tieferen und ernsteren Stimme eines männlichen Wesens geradezu sehnte. Um diese Sehnsucht zu befriedigen, also eigentlich aus Egoismus, unternahm er es tags darauf, den Schulfreund, von dem er ehemals die lateinischen Kompositionen abgeschrieben hatte, in seinem obskuren Hotel aufzusuchen. Auch die Vorgänge während der gestrigen Parlamentssitzung, und was darüber in den Zeitungen stand, legten ihm diesen Entschluß nahe. Ihre Wiederbegegnung im Revolutionswirbel war, wie sich nachher herausstellte, eine durchaus schicksalhafte gewesen. Und Weidenau, wie alle willensschwachen Männer, glaubte an das Schicksal.

Der Baron, der, seitdem seine Frau auf ihre mährische Besitzung zurückgekehrt war, eine kleine Wohnung auf dem Neubau in der Nähe der Stiftskaserne innehatte, kannte die Lage des Hotels »Zum Sonnenaufgang« noch aus Tagen, da er mit Lora Plank in der Nähe des Botanischen Gartens Rendezvous zu haben pflegte. Das war im ersten und zweiten Kriegsjahr gewesen, zu einer Zeit, als die alte Ständeeinteilung sich noch bewährte und man infolgedessen halbwegs sicher sein konnte, in den Straßen der Armen Leuten aus der Gesellschaft nicht zu begegnen. Weidenau und seine schöne Freundin machten sich diesen Umstand weidlich zunutze.

Unterwegs vergegenwärtigte er sich, aus Gewissenhaftigkeit, diesen reizenden Liebeshandel, der im Herbst 1914 im Zentralnachweisbüro des Roten Kreuzes begonnen hatte. Der Baron, damals noch zu alt, um einzurücken, war, seiner Sprachenkenntnisse und bürokratischen Erfahrung wegen, als Rittmeister dem Nachweisbureau zugeteilt und arbeitete mit einem Stab anmutiger Frauen, die ihn beim Zensurieren der Briefe gewissenhaft unterstützten. Eine von ihnen hieß Lora Plank.

Sie war eine auffallend hübsche Frau, eine Dame der Gesellschaft, wenn auch nicht gerade der ersten, aber doch mit der merklichen Ambition, in die erste zu kommen, was ihr dann auch, zumindest soweit die Herren in Betracht kamen, mit der Zeit zweifellos gelang. Damals stand sie noch im Anfang ihrer Laufbahn und Herr Plank, der dann später in die Reihe der großen Industriekapitäne trat, am Beginn der seinigen. Weidenau, der zu allen Zeiten Wert darauf legte, mit Frauen in korrekten Beziehungen zu bleiben, und dem es fast nie gelang, arbeitete monatelang im selben Amtsraum mit ihr, ohne ihr auch nur die Hand zu küssen, obwohl ihm ihre Leistungen oft dazu Gelegenheit geboten hätten. Bis sie einander dann doch, auf eine ziemlich romanhafte Art, näherkamen.

Den Anstoß gab ein merkwürdiger Brief, der, auf konfuse Art geschrieben, mit einem närrischen Namen unterzeichnet war. »Soulalamp« stand unter den ungefügen, weit voneinander abstehenden Schriftzeichen, von denen sechs Zeilen einen ganzen Bogen ausfüllten. Doch war der Brief ganz vernünftig an die Frau eines eingerückten Architekten adressiert, deren Mann seit der Schlacht von Lemberg vermißt wurde und die seither nichts von ihm gehört hatte. Nun erhielt die arme Frau dieses aus Sibirien datierte Schreiben, mit dem sie nichts anzufangen wußte und an das sich trotzdem alle ihre Hoffnung vage klammerte.

Die Berichterstatterin gab es zunächst als »unverständlich« zurück. Weidenau hatte ihrem Urteil nichts hinzuzufügen, behielt das Schriftstück aber, das ihm irgendwie verdächtig vorkam, vorsichtshalber zurück. So geschah es, daß Lora Plank es auf seinem Schreibtisch liegen sah. Neugierig, wie sie war, griff sie nach dem Brief und erbat sich ihn nach kurzem Besinnen zum häuslichen Studium, was von Weidenau ohne weiteres bewilligt wurde.

Zwei Tage später, gegen Abend, wurde er zu Hause angerufen. Frau Lora Plank, die, unpaß, seit zwei Tagen dem Amte ferngeblieben war, fragte persönlich bei ihm an, ob er sie nicht am nächsten Nachmittag besuchen könnte. »Es handelt sich um den Brief, Herr Rittmeister!« sagte sie. Das kam Weidenau gleich nicht geheuer vor, und vorsichtigerweise sagte er seiner Frau nichts von dem verabredeten Besuche, den er ja übrigens als einen dienstlichen zu machen beinahe verpflichtet war.

Es handelte sich aber tatsächlich um den Brief. Allerdings hatte sich Lora, um ihn Weidenau zu zeigen, ihr schönstes Teekleid, das zugleich ihr ausgeschnittenstes war, angezogen. Es war sonnenblumengelb und kleidete sie als eine Brünette vortrefflich.

Was aber jenen Brief betraf, so sagte Frau Plank mit einem schlauen Lächeln, das der Baron an ihr im dienstlichen Verkehr nie bemerkt hatte, daß sie dem Herrn Soulalamp auf seine Schliche gekommen sei. Weidenau fand den Ausdruck »Schliche« ergötzlich und schaute sie und das Papier, das sie entfaltet in ihren spitzzulaufenden Fingern hielt, abwechselnd unschlüssig an.

Aber anstatt ihm die Sache mit Worten zu erklären, wählte sie eine Art Pantomime, womit sie freilich das dienstliche Geleise ein für allemal verließ und auf das gesellschaftliche Gebiet abzweigte. Sie drehte die Lampe ihres Teetisches auf und hielt mit spitzbübischem Gesichtsausdruck das Papierblatt dicht unter die erglühte Birne. »Sous la lampe!« sagte sie mit Bedeutung, aber ohne daß sich in Weidenaus neugierigem Knabengesicht das geringste Verständnis gemalt hätte. Also wartete sie, immerfort lächelnd, eine ganze Weile, sah auf den Brief und in Weidenaus Augen und winkte ihn näher heran. »Sehen Sie etwas?« fragte sie. – »Nein!« sagte der Baron. Hierauf rückte sie ihm mit dem Briefe noch etwas näher, so nahe, daß sie jetzt ganz dicht bei ihm stand und ihre Stirnhaare einen Augenblick lang seine Wange streiften. »Ja«, sagte Weidenau, plötzlich erleuchtet, »jetzt fang ich an, etwas zu merken!« – Tatsächlich kam auf dem erwärmten Papier »sous la lampe« zwischen den dicken, nichtssagenden Bauernbuchstaben ein Geäder feiner blauer Linien zum Vorschein, deren Sinn und Inhalt zu entziffern nur noch eine Frage der Geduld war.

Weidenau kam öfter und bald mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu Lora Plank. Dienstliche Anlässe verliehen seinen Besuchen im Anfang einen halboffiziellen Charakter; später bedurften sie eines solchen nicht mehr. Herr Plank schien daran gewöhnt und damit einverstanden, daß seine Frau zum Tee Herrenbesuche empfing, Weidenaus Frau wurde kaum gefragt. Sie war eine kleine Landbaronin, die, gutmütig, bigott und beschränkt, ihren Mann auf keine andere Art zu fesseln vermochte, als indem sie Kinder bekam, deren Weidenau ein ganzes Rudel besaß. Im übrigen ging er seiner Wege, mit Fannis Zustimmung, die ihn meist nicht einmal nach dem Namen seiner Damen fragte oder sie nicht erfuhr.

Von Loras Vorhandensein nahm sie trotzdem eines Tages Kenntnis, und daran trug Loras Bestreben, in die erste Gesellschaft zu kommen, schuld. In dieser Absicht erwähnte sie einmal dem Baron gegenüber, daß sie mit seiner Frau zusammen im Sacré cœur gewesen sei, was auch wahr war. Weidenau erwähnte diese Erwähnung am selben Abend vor Fanni, froh, daß er über etwas anderes als über die Angelegenheiten der Kinderstube mit ihr reden konnte, und nannte auch den Mädchennamen der Frau Lora, worauf die Baronin nichts anderes sagte als: »Ah! Die Lora Bunzel! – Ich erinner' mich recht gut an sie! Die hat schon mit zwölf Jahren Briefe mit sympathetischer Tinte geschrieben. – Übrigens war sie nur extern!«

Weidenau wußte nun, daß Lora in der Führung heimlicher Korrespondenzen eine gewisse Erfahrung besaß, und die Baronin Fanni kannte ihren Namen.

Er ging jetzt regelmäßig jeden Dienstag zu Lora, bei der ihn ein bräutlich gedeckter Teetisch erwartete. Er kam um fünf und blieb bis halb acht, manchmal sogar bis dreiviertel, denn sie hatten sich unendlich viel zu sagen und fanden, wenn sie beisammen waren, des Redens kein Ende.

Der Baronin Fanni begann es aufzufallen, daß ihr Mann an Dienstagabenden regelmäßig erst etwas später nach Hause kam, so daß man, um die Bettruhe der schulpflichtigen Kinder nicht zu verkürzen, das Tischgebet in seiner Abwesenheit sprechen mußte. Das konnte sie nicht gutheißen.

Eines Dienstagabends, fünf Minuten nach dreiviertel acht, als Weidenau noch immer im rosigen Schimmer der englischen Stehlampe abschiednehmend vor seiner Freundin stand, ihre Hand, die er schon zweimal geküßt hatte, noch immer in der seinen haltend, wurde angerufen. Lora ging der Einfachheit halber gleich selbst ans Telefon, das in versteckter Weise hinter dem Fenstervorhang angebracht war, und nannte ihren Namen. »Bitte!« sagte sie, und ein glänzender Blick, zu Weidenau hinüber, gab diesem zu verstehen, daß die Sache auch ihn betraf. Es war die Baronin, die, ihre ehemalige Schulkameradin mit »Sie« anredend, sich erkundigte, ob ihr Mann noch bei ihr wäre. »Nein!« erwiderte Lora mit einer Selbstverständlichkeit, die dem Baron sofort zu denken gab: »Er ist bereits vor einer Viertelstunde weggegangen!« In diesem Augenblick trat Herr Plank ins Zimmer, stattlich und elegant trotz der Zeiten Ungunst. »Grüß' dich, Herzerl!« sagte Lora, das Hörrohr anhängend, und lächelte freudig.

Von diesem Abend angefangen sah Weidenau seine neue Freundin, die so hübsch nach zwei Seiten zu lügen verstand, unter einem sich verändernden Gesichtswinkel an. Er schaute immer tiefer in ihre schönen Augen, sie immer zärtlicher in die seinen, und wieder vollzog sich ein Weichenwechsel … Bereits im Sommer, den Lora und ihr Mann in der Schweiz verbrachten, führte sie mit Weidenau eine Poste-restante-Korrespondenz unter dem Kennwort: Soulalamp, das der Schweizer Fremdenpolizei viel Kopfzerbrechen verursachte.

 

Als der Baron Punkt zwölf Uhr mittags in dem Hotel seines Freundes vorsprach, war dieser noch nicht zu Hause. Weidenau setzte sich in einen Winkel der verwahrlosten Einfahrt, die zugleich als Halle diente, und tat, was er immer tat, wenn er nichts tat: er machte Beobachtungen.

Endlich, um halb ein Uhr, erschien Doktor Höfer. Er war überrascht und gerührt von dem Besuch des Freundes und führte ihn die Treppe hinauf in sein Zimmer, das vorhanglos, ohne Teppich und Bilder, mit seinen drei oder vier Möbelstücken mehr den Eindruck einer Zelle machte. Auch eine Rollblende fehlte, und durch das Tag und Nacht wache, gleichsam lidlose Fenster blickte man auf die öde und doch lärmende Straße hinunter.

Während sich die Freunde niederließen – Weidenau auf dem einzigen Sessel, der sich in dem Raum befand, Höfer auf dem Bett –, wurde ihr beginnendes Gespräch durch zwei schrille Frauenstimmen gestört, die nebenan hörbar zankten. Es handelte sich um eine Brotkarte, von der die eine der beiden Stimmen behauptete, daß sie die andere ihr gestohlen hätte.

»Hast du schon die Zeitung gelesen?« fragte Weidenau.

»Nein«, erwiderte Höfer, »aber die Herren im Ministerium haben davon gesprochen. Die rote Garde hat also tatsächlich auf das Parlament geschossen.«

»Und genau auf die Stelle gezielt, wo du gestanden wärst …« Der Baron machte eine kleine Pause und fuhr dann stirnrunzelnd fort: »Da sieht man übrigens, wohin das mit der sogenannten Freiheit führt. Der Kaiser sollte Truppen zusammenziehen und dem republikanischen Schwindel ein Ende machen. Die rote Garde –«

»Die rote Garde ist nicht die Republik!« sagte Höfer ernst: »So wenig wie der Galgen die Monarchie ist.«

»Eben.«

»Die Republik ist als Idee etwas sehr Schönes.«

»So, findest du?« meinte der Baron und zog den Handschuh seiner rechten Hand, den er bei dem Besuch gewohnheitsmäßig abgestreift hatte, langsam wieder an: »Wenn du gestern neben mir auf der Rampe gestanden wärst, wärest du wahrscheinlich anderer Meinung. – Ich versichere dir: Ein zertretenes Kind ist kein schöner Anblick.«

Höfer schob die Hand vor die Augen. Dann ließ er sie sinken und streckte sie dem Freund entgegen: »Eigentlich bist du mein Lebensretter!« sagte er, und da der andere bescheiden abwehrte: »Ich weiß nur nicht, ob ich dir dafür dankbar sein soll!«

»Na, sei so gut!« rief Weidenau, seine Betroffenheit, was bei ihm manchmal vorkam, hinter einer Maske von Leichtfertigkeit verbergend: »Was sind das für Witze?«

Doktor Höfers ernstes Gesicht – das Gesicht der Niederlage! dachte Weidenau – blieb ernst.

»Ich habe Schweres mitgemacht – in jeder Beziehung!«

Und er erzählte dem teilnehmenden Freund von dem Unglück seiner Ehe, dem Tod seines Kindes, der Flucht aus dem besetzten Czernowitz, dem Verlust seiner Stellung eines deutschen Richters, die nach der Abtrennung der Bukowina unhaltbar geworden war. Weidenau nickte: »Und da willst du dich also jetzt wahrscheinlich zum Oberlandesgericht Wien transferieren lassen!« sagte er.

Höfer bestätigte diese Vermutung.

»Die Frage ist nur, ob ich unterkommen werde. Der Andrang der deutschen Richter wächst von Tag zu Tag, und am Ende habt ihr ja eure eigenen!«

»Ja, der Zerfall der Monarchie!« nickte Weidenau. Dann, aufstehend, hielt er dem Jugendfreund die nun wieder behandschuhte Rechte hin. »Wenn ich dir mit irgend etwas nützlich sein kann – bitte, verfüge jederzeit über mich. Hier hast du meine Adresse. Du kannst auch anrufen, unter dem Namen Österreicher. Österreicher, jawohl! – Das sind wir ja alle einmal gewesen!«

»Du irrst!« sagte Höfer, den Freund bis zu Treppe begleitend: »Ich bin es eigentlich erst jetzt geworden. Mein Patriotismus hat sich nämlich nie auf die Huzulen und Bosniaken erstreckt. Deutsch-Österreich hingegen – das besiegte Deutsch-Österreich …«

»Res victa Catoni placet!« erwiderte Weidenau mit artigem Spott und übersetzte wie im Gymnasium: »Die Sache der Besiegten gefällt dem Cato.«

Und lustig fügte er hinzu:

» Ich bin kein Cato!«


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