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Die Würfel des Schicksals

Doktor Höfer stand an dem »lidlosen« Fenster seines kahlen Hotelzimmers, den schwarzen Richtertalar, den ein Dienstmann im Auftrag Darias für ihn abgegeben hatte, in den Händen ausgebreitet vor sich hinhaltend und nachdenklich betrachtend, als es klopfte und das noch immer zahnlose Mädchen mit herausfordernder Vergnügtheit meldete, eine Dame wäre drunten, die auf den Herrn Doktor warte.

Höfer fragte nicht, wer die Dame wäre – ein Beweis, daß sich der Fall nicht zum erstenmal ereignete –, sondern hängte nur, so rasch er konnte, den Talar an den einzigen Nagel, der die kahle Wand zierte, und eilte, mit einer ihm sonst fremden Beweglichkeit, den Hut im Genick und den Überrock erst auf der Treppe anziehend, zu ihr hinunter.

Unten angelangt sah er, in der sogenannten Halle, die eigentlich eine Einfahrt war, die Baronin Lodersdorf in einem kapuzinerbraunen Mantel mädchenhaft schlank und anmutig bei der Türe stehen.

»Ich bin auf dem Weg zu meiner Tante«, sagte sie. »Und da hab' ich mir gedacht, vielleicht sind Sie nett und begleiten mich hin.«

Das Wetter war lau. Man spürte die Frühlingssonne, obwohl sie sich an diesem Nachmittag in zarte Nebelschleier hüllte, und sah ihre Wirkung. Durch das Drahtgitter des Schweizergartens, dessen Baumwipfel duftverschleiert die Kasernengotik des Arsenals von fernher überragte, züngelte bereits das erste Grün.

Sie gingen zu Fuß über den Gürtel, diesen anderen Ring, den Ring der Armen, dem vielleicht die Zukunft gehörte. An der Ecke der Favoritenstraße begegneten sie dem General, der eben, aus dem Arbeiterviertel kommend, den Straßenbahnwagen wechselte.

»Grüß Gott, Exzellenz!« rief ihn die Baronin im Vorbeigehen an, da er – vielleicht weil er sie in Begleitung sah – geflissentlich nach der entgegengesetzten Seite blickte.

»Küss' die Hand, Baronin!«

Der General, der sein blutloses Gesicht jetzt wieder rasiert trug, nahm, den Regenschirm gleich einem Säbel senkend, militärisch Stellung. Dann trat er auf die Baronin zu und begrüßte sie wie ein Ritter seine Dame, ihren Begleiter wie ein General einen Hauptmann.

»Der Kaiser ist in Ungarn!« sagte er ohne weitere Einleitung, den Doppellaut seiner tief im Kopf steckenden Augen auf die Brust des Richters richtend.

»Aber nein! Wirklich!« rief die Baronin, die, wie jede Frau, Neuigkeiten über alles liebte. »Woher wissen Sie's, Exzellenz?«

»Die Arbeiter in der Fabrik haben's bekanntgegeben. Die wissen ja jetzt immer alles zuerst!«

Im Weitergehen fragte Doktor Höfer:

»Seit wann ist der Karpaten-Leonidas in einer Fabrik? Ich hab' gedacht, er wär' bei der Devabank!«

»Das ist gewesen!« versetzte die Baronin. Und sie erzählte dem Richter, was es bei Winklers Neues gab.

Der General hatte Knall und Fall die Bank verlassen und war froh darüber. Wieder einmal hatte ihn, wie im Falle Blechinger-Huber, das in seinen Kreisen weitverbreitete Vorurteil, daß alle Leute, die über die Sozialisten schimpfen, darum auch schon anständige Menschen sind, in Gefahr gebracht; denn schon munkelte man allerhand und ziemlich unverschämt über die kaisertreue Devabank. Übrigens hatte er ziemlich rasch ein, wenn auch schlechtbezahltes Unterkommen gefunden. »Er ist jetzt Beamter der Bärndorfer Metallwarenfabrik«, schloß die Baronin ihren Bericht: »Subdirektor!«

»Das war mein Vater vor dreißig Jahren!« sagte Doktor Höfer und blickte nachdenklich lächelnd vor sich hin.

Indessen plauderte sie weiter.

»Also die gute Ferdinanda ist ja nicht gerade entzückt von diesem Wechsel. Eine Bank ist eben doch etwas viel Vornehmeres. Aber der General will von diesen ›Faxen‹ nichts wissen. Die Hauptsache ist jetzt, sagt er, daß wir wieder arbeiten lernen, reell arbeiten, nicht Aktien schieben. Für alles übrige soll der liebe Gott sorgen. Man wird ja sehen, was er ausrichtet.«

»Da bin ich ausnahmsweise einmal ganz einer Meinung mit dem Herrn General«, sagte Höfer. »Und auch was alles andere betrifft … Die Staatsform erscheint mir augenblicklich wirklich sekundär.«

»Na, vielleicht doch nicht so ganz sekundär!« meinte die Baronin.

Erst nach einer Weile fragte sie, am Gürtel rechts in eine stillere Seitengasse abbiegend:

»Was hat man Ihnen denn eigentlich im Justizministerium gesagt? Sie waren doch heut vormittag im Präsidium.«

Doktor Höfer nickte, bitter lächelnd.

»Man hat mir einen Alternativvorschlag gemacht.«

»Ah! Da bin ich aber neugierig!«

»Hinter dem natürlich etwas anderes steckt«, ergänzte er.

»Natürlich!« sagte sie, wie immer, wenn sie aus Gründen des Takts nicht mehr und nicht weniger sagen wollte.

»Sie wissen«, führte Höfer aus, »daß ich Ihnen im vorigen Mai, als ich die Zuteilung Gloggnitz erhielt, gleich sagte, ich hätte den Eindruck, man wolle mit dieser provisorischen Wiederanstellung auch meine Gesinnung irgendwie auf die Probe stellen.«

»Ja, ich erinnere mich. Nun, und –?«

»Nun, das ist tatsächlich beabsichtigt gewesen, wie jetzt herauskommt. Man hat mich genau beobachtet und aus meinen richterlichen Entscheidungen und Begründungen allerhand Schlüsse gezogen. Ganz besonders aber aus den Protokollen, die ich mit den streikenden Arbeitern der Hanfstänglschen Jutefabrik in Vertretung des Untersuchungsrichters aufzunehmen hatte. Es wird Ihnen vielleicht bekannt sein, daß sie ihren Direktor geprügelt haben, was natürlich unentschuldbar bleibt. Aber ebenso wahr ist auf der andern Seite, daß der Direktor ein roher und gewalttätiger Herr ist, der die anständigsten Arbeiter durch seine Hohnreden und Brutalitäten zur Verzweiflung gebracht hat. Das habe ich in meinen Protokollen nicht ganz unerwähnt gelassen, und darüber betretenes Nasenrümpfen im hohen Ministerium und der Plan, meine weitere Dienstverwendung von meiner Gesinnung abhängig zu machen, was natürlich einem Druck auf diese Gesinnung gleichkommt.«

»Ja, hat man Ihnen denn das gesagt?«

»Das fehlte noch! Aber aus dem Alternativvorschlag geht es deutlich hervor.«

»Wie praktisch! Lassen Sie hören!«

Man hatte ihm, wie Doktor Höfer explizierte, zwei Wiederverwendungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt: die eine an einem Bezirksgericht, das, ganz nahe bei Wien, in einem Industriegebiet gelegen, bis jetzt streng bürgerlich geleitet war und von wo aus sich ihm unter der unausgesprochenen Voraussetzung, daß sich seine Gesinnung in dieser Richtung bewährte, eine weiter hinaufführende Laufbahn eröffnete. Das andere war das Bezirksgericht Ottenschlag in Oberösterreich, ein bäuerlicher Sprengel, für den ernannt zu werden in seinem Falle einer Kaltstellung ziemlich gleichkam. »Ich muß mich entscheiden!« schloß er, »und es fragt sich: wie?«

»Das kann doch keine Frage sein«, meinte die Baronin, »Wien oder Ottenschlag!«

»Vielleicht doch!« sagte Doktor Höfer.

Sie fuhr fort:

»Vor dem, was Sie befürchten, schützt Sie doch Ihre richterliche Unabhängigkeit. Oder gibt's die vielleicht auch nicht mehr in der Republik?«

»Die gibt's natürlich … Aber das Gegenteil gibt's auch!«

»Versteh' ich nicht!«

Er erklärte es ihr:

»Der Herr Hofrat im Präsidium hat mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, daß man in einem so exponierten Gerichtsbezirk, wie der in der Nähe von Wien gelegene, einen sozialistischen Richter nicht brauchen kann …«

Sie blieb stehen und schaute ihm ins Gesicht:

»Ein sozialistischer Richter – das kann's doch gar nicht geben. Der Richter steht doch über den Parteien, auch über den politischen.«

»Gewiß. Aber das Gegenteil gibt's leider. Und der Vorstand des in Frage kommenden Bezirksgerichts gehört zu dieser Art von Richtern.«

Sie überlegte einen Augenblick, mit zusammenrückenden Brauen. Dann sagte sie, die Frage auf ein anderes Geleise verschiebend:

»Aber Ottenschlag ist doch so schrecklich weit von Wien … Sie werden Ihren Freunden fehlen.«

»Und meine Freunde mir!« sagte Doktor Höfer leise.

»Ja, glauben Sie?«

Ihre Stimme klang auf einmal ganz fein und silberhell; es war eine unendliche Anmut darin.

»Ich glaube es nicht …«, sagte Doktor Höfer, »ich weiß es.«

Sie waren in der Nähe der Wohnung der Tante angelangt, das Gespräch konnte jeden Augenblick abreißen. Allein es jetzt abreißen zu lassen, paßte der Baronin nicht. Sie blieb abermals stehen und sagte:

»Ich hab' eigentlich gar keine Lust, jetzt auf einen Jour zu gehen. Wissen Sie was? Begleiten Sie mich nach Hause und trinken Sie den Tee bei mir. Wenn ich der Tante telefonier' und ihr die Neuigkeit mitteil', daß der Kaiser in Ungarn ist, wird sie gar nicht bemerken, daß ich nicht selbst gekommen bin.«

 

Als sie an den im Ausbessern begriffenen Räumen im Erdgeschoß vorbei die Innentreppe hinaufschritten, fragte die Baronin den Heldenspieler, der ihr den Mantel abnahm, in ihrer gewohnten Art:

»Was Neues?«

Nichts Besonderes. Die Baronin-Mutter war ausgegangen, der Kalksburger Präfekt hatte einen Bericht geschickt, den ein Schüler abgegeben hatte, und der Baron Weidenau hatte angerufen.

»Was wünscht der Herr Baron?«

»Nichts … Der Herr Baron hat nur bekanntgeben wollen, daß er heute nach Groslowitz fährt. Zu einer Verhandlung.«

Die Baronin sah Doktor Höfer fragend an, der diese stumme Anfrage mit einem Achselzucken stumm erwiderte.

In der Mausefalle angelangt, las sie vor allem den Brief des Präfekten. »Etwas Besonderes?« erkundigte sich Höfer.

»Nein, gar nichts, Gott sei Dank. Die Buben lernen nur wieder einmal nichts, besonders der älteste. Ich muß morgen oder übermorgen hinausfahren und ihn ins Gebet nehmen … Mütterliche Pflichten!« Und sie legte den Brief beiseite.

Dann, beim Tee, das eine Bein über das andere schwingend und eine Zigarette anbrennend, kam sie auf das frühere Gespräch zurück. »Also wirklich Ottenschlag?« fragte sie.

»Ich weiß noch nicht …«, sagte er, mit gesenkten Lidern. Aber nach einer Weile blickte er auf und fragte, ihrem Blick begegnend:

»Und wenn nicht Ottenschlag – was dann?«

»Ja, was dann?« Und sie blies große Rauchwolken in die Luft.

Er schaute sie gequält an, durch den Rauchschleier hindurch. Dann nahm er sichtlich einen Anlauf:

»Darf ich aufrichtig zu Ihnen sprechen?«

Statt zu antworten reichte sie ihm lächelnd die Hand.

»Nun also – aufrichtig. Wir sind Freunde geworden. Aber diese Freundschaft wird von uns beiden als etwas empfunden, was vielleicht nur ein Vorstadium ist zu –«

»Vielleicht.«

»Zu etwas anderem.«

»Zu etwas ganz anderem!« Und wieder klang ihre Stimme silberhell, klang nach Musik und Liebe.

Indessen sammelte er sich gewissenhaft wie zu einer Urteilsbegründung.

»Das eben ist es. Und auch das spielt bei der Wahl zwischen den beiden Bezirksgerichten eine Rolle, vielleicht sogar die Hauptrolle …«

Er stockte; sie half nach: –

»Sie meinen: ob Sie Ihre Wiener Freunde verlassen sollen oder nicht –?«

Er nickte:

»Um diese Frage zu beantworten, muß man sich zunächst über etwas anderes klar werden. Ich glaube, ich bin mir klar geworden.«

Sie schaute ihn unschuldig fragend an. Er fuhr ohne Umschweife fort:

»Bei einer Frau wie Sie gibt es doch eigentlich nur zwei Möglichkeiten. – Alles andere würde sich rächen: an mir und Ihnen. – Ganz besonders aber an Ihnen.«

Sie dankte ihm mit einem glänzenden Blick. Dann fragte sie, die Augen senkend:

»Die zwei Möglichkeiten?«

»Freundschaft oder –«

Sie verstand sofort und kam ihm zuvor.

»Ich kann mir denken, was Sie meinen. Aber das ist leider unmöglich. Ich habe drei Buben, eine strenggläubige Mutter, eine Tante mit fürstlichen Vorurteilen …« Und einfach fügte sie hinzu:

»Ich kann eine Dispensehe nicht eingehen, ohne mich mit meiner ganzen Familie zu zerkrachen, abgesehen davon, daß ich –«

»Daß Sie auch nicht in Ottenschlag leben könnten!« vollendete er grausam.

»Auch das. – Sie mißverstehen mich nicht? Es ist nicht Hochmut, es ist –«

»Verwurzeltsein!« Er nickte schmerzlich.

»So wird's wohl sein! Auch bei Ihnen!«

Eine plötzliche Stille trat ein, jene Stille, in der die Würfel des Schicksals fallen. Dann sagte sie:

»Aber ich möchte Sie trotzdem nicht verlieren nicht ganz verlieren, weil die Paragraphen …«

Sie schaute ihn mutig an; dann schloß sie die Augen und sagte leise:

»Das mit den beiden Möglichkeiten ist richtig … Trotzdem – es hat in meinem Leben vielleicht auch schon einmal – vorübergehend – eine dritte Möglichkeit gegeben.«

Er blickte sie mit Richteraugen an:

»Ich weiß … Der Name des Mannes ist vorhin, als wir bei Ihnen eintraten, genannt worden.«

Überrascht fragte sie:

»Sie wußten –?«

»Ich – spürte es. Vom ersten Augenblick an …«

Sie sagte, mit gebeugtem Nacken, demütig, als kniete sie im Beichtstuhl:

»Ich war unglücklich, verlassen, niemand hat auf mich achtgegeben … Außerdem …« Er hob die Hand und stellte sie zwischen sie und sich, wie einen Schild, um sich vor ihren Mitteilungen zu schützen. Dann, nach einer kleinen Pause, sagte er, gequält um sich blickend:

»Immerhin – das ist auch ein Grund!«

Langsam den Kopf hebend, schien sie ihn zu beobachten. Die Spannung in ihren Zügen löste sich, der Humor siegte; und plötzlich war es wieder ihre gewöhnliche Stimme, die, sogar mit einem deutlichen Beiklang von Spott, zu ihm die Worte sprach:

»Und Sie wollen ein Sozialist sein! – Mit solchen – Eigentumsbegriffen!«

Er senkte die Stirn:

»Sie haben recht, ich bin augenscheinlich doch keiner … Wir sind arme Wesen, zwischen Tag und Nacht, wir Vierzigjährigen von heute. Wir sehen den Sonnenaufgang herandämmern und hängen in Gedanken an der Abendröte …« Er machte eine lange Pause, dann schloß er:

»Vielleicht, wenn Weidenau nicht mein Jugendfreund wäre …«

Er stand auf.

Auch sie erhob sich.

»Und die Freundschaft?« fragte sie leichteren Tones.

»Geben Sie mir sie mit nach – Ottenschlag?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf; dann, mit einer Gebärde voll unendlicher Anmut, legte sie die rechte Hand auf seine Schulter: »Fürs Leben, Guntram!« Und sie brachte, vor ihm stehenbleibend, ihr Gesicht ganz nahe an das seine.

Er küßte ihr die Hand und ging.

Unten angelangt sah sie ihn noch einmal heraufblicken, dann verschwand er in seinem schwarzen Rock unter den schon goldenen Blattknospen des alten Kastanienbaumes.

 

Als Tinett Lodersdorf fünf Minuten später ihrer Tante telefonierte, daß der Kaiser in Ungarn sei, wußte diese bereits von Malik, der sich unter ihren Gästen befand, daß das gewagte Unternehmen mißglückt war. Malik wußte fast immer das Richtige; nur die Schlußfolgerungen, die er aus seiner Wissenschaft zog, waren fast immer falsch.

Übrigens wurde über diese Dinge bei der Fürstin nicht viel geredet. Tagesereignisse berührten sie so wenig, daß sie sie nicht einmal dann berührten, wenn sie mit ihrer Gesinnung übereinstimmten. Andererseits konnte man doch nicht immer über das Weltbild der Scholastiker, über den Staatsbegriff der Azteken oder die Kommenen in Byzanz sprechen, und da sich herausstellte, daß man ganz ohne Tatsachen sein Auslangen nicht fand, so nahm man unter Umständen mit jenen kleineren gesellschaftlichen Ereignissen vorlieb, die den Gegenpol der Weltgeschichte bilden. Mit anderen Worten: In dem Salon dieser geistreichen Frau wurde geklatscht und medisiert wie in jedem anderen und das Grundproblem der Wiener Gesellschaft: Wer mit wem? fachkundig in allen seinen Stufungen erörtert.

Augenblicklich waren es zwei Begebnisse dieser Art, an denen sich die Gemüter der Anwesenden erhitzten: das eine war eine Verlobung, das andere eine Scheidung und Wiederverheiratung.

Die Verlobung beruhte auf dem selbständigen Willensakt eines jungen Mädchens, das durch seine Abstammung den vormals begünstigten Kreisen angehörte. Es hatte sich in den Kopf gesetzt, die Frau eines jungen Rechnungsführers einer Omnibusgesellschaft zu werden, und als die Eltern diese Verbindung als nicht standesgemäß zurückwiesen, sich keineswegs davon abbringen lassen, weiter mit ihrem Erwählten zusammenzukommen, ja sogar Ausflüge in den Lainzer Tiergarten mit ihm zu unternehmen. Auch veranlaßte sie das Aufgebot und bestimmte selbstherrlich den Zeitpunkt der Hochzeit, von der Papa und Mama erst auf einem eigentümlichen Umweg Kenntnis erlangten. Eines Tages nämlich fragten sie die Tochter, warum sie in ihrem Amt – sie war Schreibmaschinenfräulein, was ja ganz gut zu einem Rechnungsführer paßt schon für Mai Urlaub genommen hätte. »Weil Wien zur Zeit der Fliederblüte am schönsten ist«, gab das Töchterchen vergnügt zur Antwort: »Und wir wollen doch unsere Hochzeitsreise durch sämtliche Wiener Gärten machen. Schöner kann's um diese Jahreszeit in Sizilien auch nicht sein.« – Nun blieb den Eltern, wenn sie den Skandal vermeiden wollten, natürlich nichts übrig, als nachzugeben; denn die Tochter war großjährig. Und zwar war es bezeichnenderweise der Herr Papa – »die Männer sind ja immer so schwach«, sagte die Fürstin –, der zuerst die Segel strich. Er ließ sich sogar einen neuen Waffenrock machen für die bevorstehende Hochzeit, und als ihm seine Frau deswegen Vorwürfe machte, weil die damit verbundene Ausgabe doch in keinem Verhältnis stünde zu der einmaligen Gelegenheit, gab ihr der alte Militär zu ihrer Beruhigung die klassische Antwort: »Einmalige Gelegenheit? Du irrst. Ich will mich in dem Rock auch begraben lassen!« – Wie die Dinge standen, war es bis gestern die letzte Hoffnung der erzürnten Mutter gewesen, daß die jungen Leute keine Wohnung finden würden. Aber hier sprang eine ältere Freundin des Mädchens ein, indem sie diesem zwei Zimmer in ihrem eigenen Haus überließ. Das heißt, eigentlich war es nur ein Zimmer, das durch eine Gipsdielenwand in zwei zerlegt werden sollte – die Gipsdielenwand war das Hochzeitsgeschenk der Freundin.

»Das Hochzeitsgeschenk ist wie alles andere«, sagte die Fürstin, »wahrhaft fin de siècle« – sie kannte keinen moderneren Ausdruck, um etwas ganz verrucht Modernes zu bezeichnen; und, zu der Gräfin Meisenburg gewendet: »Du weißt doch, wie sie ihren Zukünftigen kennengelernt hat? Während des Krieges hat er sie einmal irgendwo an einem Alpensee unterm Wasser geküßt, der kecke Mensch, und zwei Jahre später ihr bei der Übersiedlung ihrer Familie ihr Bettzeug nachgetragen, nicht anders, als man früher seiner Dame den Fächer nachgetragen hat. Bitte, das erzählt sie selbst und sagt, es war ›wie ein Vorzeichen!‹ … Also ist das nicht skandalös?«

Der andere Fall war noch skandalöser und regte auch Malik mehr auf, schon weil er die Scheidung einer katholischen Ehe betraf.

Daß sich die Weidenaus scheiden lassen würden, konnte freilich niemand überraschen. Daß aber die fromme Baronin Fanni dies nur getan haben sollte, um eine neue Ehe nach dem höchst liberalen tschechoslowakischen Ehegesetz mit dem Schullehrer – dem mit den Aufmerksamkeitsexperimenten – einzugehen: das ging der alten Dame denn doch zu weit bei einer Frau, die, wie die Baronin Fanni Weidenau, eine siebzehnjährige Tochter hatte, die demnächst aus dem Kloster heimkehren würde.

»Und dabei ist der Schullehrer ein Sozialist!« sagte die Gräfin Meisenburg. »Und näher bekannt ist die Fanni mit ihm worden, indem er ihr geholfen hat, einen Gesangschor für ihre Kirche zusammenstellen aus lauter hübsche kleine Tschechoslowakinnen, die dem Teekoster immer was haben vorsingen müssen, wenn die Fanni dem Lehrer nebenan bei seine Aufmerksamkeitsexperimente zugeschaut hat … Also ich muß schon sagen: Alles das ist ein bisserl Kanal!«

Alle waren derselben Meinung, bis auf Malik, der den Schullehrer in Schutz nahm. »Aber wenn er doch ein Sozialist ist!« riefen die Damen durcheinander. Malik beschwichtigte sie.

»Es wird nicht so gefährlich sein, meine Damen!« sagte er, und, nachdem er sich Gehör verschafft hatte, zur Fürstin: »Sie wissen doch, hochverehrte Freundin, wie ich Österreich immer nenne: › Das ungefährliche Land!‹ – Weil nämlich das: ›Es wird nicht so gefährlich sein!‹ ja doch unser eigentlicher ungeschriebener Wahlspruch ist.«

Die Fürstin, die ein glückliches Wort zu schätzen wußte, lachte herzhaft.

»Das ungefährliche Land! Das müßte man in Genf verkünden. Vielleicht borgt man uns was drauf!« rief sie, und alle staunten, daß die Fürstin einen so gegenwärtigen Begriff wie Genf in ihr Gespräch verwob; doch tat sie es, wie sich herausstellte, nur zu geschichtlichen Zwecken. »Damit würde Genf nur ein altes Unrecht gutmachen!« fuhr sie fort: »Denn eigentlich ist es doch die Vaterstadt Rousseaus, der an allem schuld ist. Von Rousseau angefangen geht's mit uns abwärts.«

»Sie irren, verehrte Freundin«, sagte Malik, seinen Kopf wie eine Medizinflasche vor dem Gebrauch schüttelnd. »Rousseau ist nur eine der späteren Ausprägungen des protestantischen Geistes, der tief in der germanischen Zanksucht – das Wort ist von Bismarck – begründet ist und mit Luther grandios in die Erscheinung tritt. Darum war es der schicksalhafteste Augenblick in der ganzen neueren Geschichte, als Karl V. mit Luther zu keiner Verständigung gelangen konnte. Wenn eine solche im Jahre 1521 zu Worms erfolgt wäre, so ginge die Sonne in den Reichen der Habsburger noch heute nicht unter. Der Dreißigjährige Krieg, der Aufschwung Preußens, die Isolierung Österreichs, der Weltkrieg – lauter natürliche Folgen jener unterbliebenen Verständigung. Worms oder Madrid, Glaubensverbesserung oder Ketzerverbrennung, das war damals die Frage, und leider hat unsere katholische Welt die Antwort nicht gefunden, obwohl sie im Sinne eines wirklichen Fortschritts längst gegeben war. Aller Progreß ist ja sekundär, und nur der Regreß ist das einzig wahre. Darum sage ich: Zurück! Zurück zum Glauben, zurück zum Mittelalter, zurück –«

Es dauerte jetzt wirklich nur noch wenige Minuten, und man hielt bei Thomas von Aquino, was die Gräfin Meisenburg, die fromm, aber keine Frömmlerin war, veranlaßte, schleunigst die Flucht zu ergreifen.

»Liebe Albertin', du bist mir nicht bös, nicht wahr, aber ich muß noch ins Rosékonzert. Jesus, ich komm ohnehin schon nach dem ersten Satz! Mit diese Heiligen ist's halt ein G'frett!«


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