Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Liebe und Schicksal

Weidenau lag in seinem aus Sparsamkeit nur schwach beheizten Arbeitszimmer mit der Aussicht auf den entlaubten Götterbaum und die im Regen rostende gußeiserne Flora längelang auf der Ottomane ausgestreckt. Die »Nur-ein-Viertelstündchen« dienten ihm als Rückenstütze wie auch als Kopfkissen, und um den Leib hatte er eine Decke geschlagen, die ihm im Vorjahr, trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, die gute, mütterliche Daria ins Feld nachgeschickt hatte. Auf der Decke aber, ungefähr in der Höhe des Herzens, lag eine kürzlich erschienene, »Liebe und Schicksal« betitelte Druckschrift der Psychoanalytischen Gesellschaft, deren Mitglied der Baron erst unlängst geworden war. Ein ihm nahestehender Rechtsanwalt, der sich bereits vor einiger Zeit dem neuen Glauben zugewendet, hatte ihn dort eingeführt, und der Freiherr erprobte seither die Stichhaltigkeit des Satzes des Meisters, daß »wenn man der Psychoanalyse nur den kleinen Finger reicht, sie sofort die ganze Hand ergreife«. Ein eifriger Besucher der seelendeuterischen Vorlesungen und Leser der »Imago«, sah er sich alsbald in den magischen Kreis hineingezogen und auch im täglichen Leben, wenn er, nach Art der Anfänger, auf Schritt und Tritt »Fehlleistungen« beobachtete und »eingeklemmte Affekte« registrierte, allenthalben von den Gespenstern des Unterbewußtseins umstellt. So hatte er sich eben erst über den Zusammenhang von »Liebe und Schicksal« belehrt und dachte nun, von diesem Punkt ausgehend, den eigenen Liebesschicksalen nach, während aus der Nachbarwohnung gedämpftes Klavierspiel zu ihm herüberdrang. Es war die reaktionäre Frau Österreicher, die wieder einmal, in Ermangelung neuerer Noten, eine alte Etüde von Czerny seelenlos geläufig abhaspelte. Weidenau hörte mit einem Ohre zu und lauschte mit dem anderen den Stimmen der Vergangenheit in ihm. Denn wie die Mehrzahl seiner Standesgenossen lebte auch der Baron Weidenau in der Vergangenheit; aber es war zumindest seine eigene.

Die gute Daria! dachte er, die weiche Decke höher hinaufziehend, wobei er sie unwillkürlich mit den Lippen berührte: Wo sie sich jetzt wohl aufhalten mag? Ob sie wieder nach Odessa zurückgekehrt ist? Und Soulalamp! Auch sie aus seinem Leben wieder verschwunden, auch sie böse, und das tat ihm leid, denn schließlich war sie ja doch, trotz alledem, eine von den drei Frauen, die ihm in diesen letzten Jahren am nächsten standen. Die erste war Lora gewesen, die zweite Daria, und die dritte – »Und die dritte, ach! die dritte! – stand daneben und blieb stumm …« versuchte er, aus der »Schönen Helena« zu trällern. Aber es ging mit der Etüde von Czerny nicht recht zusammen.

Also verabschiedete er sich, wenn auch ungern, von der dritten und kehrte zu dem Ausgangspunkt seiner Betrachtung: »Liebe und Schicksal« zurück, das eigene bedenkend. Warum war aus ihm, bei aller Begabtheit, die er sich nicht absprechen konnte, am Ende doch nur ein abgetakelter Frauenliebling geworden und sein Leben eine einzige »Fehlleistung«? Wer war schuld? Die Leute sagten: die Frauen. Aber war es denn wirklich die bequeme Mehrzahl und nicht vielmehr eine einzige? War es nicht die gute Fanni, die in ihrer Unschuld an allem Schuld trug?

Weidenau hatte »Nur-ein-Viertelstündchen«, wie die reizende Tinett Lodersdorf die unglücklich verheiratete und dabei so kinderreiche Baronin Fanni ein für allemal benamst hatte, vor zwanzig Jahren kennengelernt, anläßlich eines sogenannten Kaisermanövers, das er als Reserveleutnant mitmachte. Es fand in unmittelbarer Nähe von Groslowitz statt, und Fannis Bruder, der sein Regimentskamerad war und vielleicht sein Schwager werden wollte, lud ihn ein, auf dem Schloß zu übernachten. Fanni war damals siebzehn Jahre alt, sah aber aus wie ein Firmling. Übrigens machte sie, langhalsig, spitzkinnig, mit ihrem hochgereckten Köpfchen und dem stumpfnasigen, perplexen Kindergesicht unter der flachsblonden Zopfkrone, noch immer einen solchen Eindruck, obwohl Weidenau in dieser Art, auszusehen, längst nichts Verdienstliches mehr erblicken konnte. Dazumal jedoch erschien ihm ihre Kindlichkeit, diese Mischung von Gänsemagd und Himmelskönigin, die ihr eigen war, einen Augenblick lang sehr reizvoll …

Die kleine Fanni verstand in Liebesdingen keinen Spaß. Ein Kuß im Mondschein konnte nach ihren frommen Firmlingsbegriffen nicht anders als mit einer Heirat enden, und da zudem eine Stockung im Manöver eintrat und Weidenau gegen seine ursprüngliche Absicht einige Tage auf Groslowitz verblieb, ergab sich zum Schluß eine Situation, die Fannis Mutter veranlaßte, den siegreichen jungen Offizier, bevor er sich wieder in den Sattel schwang, beiseite zu nehmen, um ihm ernsthaft anzuvertrauen, daß ihre Tochter in ihn verliebt sei. Der junge Mann, der das Mädchen seinerseits reizend fand, hielt, schon im Abreisen, eine Verlobung unter diesen Voraussetzungen für das schicklichste. Aber die Ehe kam erst drei Jahre später zustande, als Weidenau sein verpfändetes Wort zurückverlangte. Fanni, ohne ein Wort zu sagen, schwang sich auf das Fensterbrett des unglücklicherweise im dritten Stock gelegenen Zimmers und wollte sich hinunterstürzen. Er erwischte im letzten Augenblick einen Zipfel ihres weißen Kleides und zog die Weinende an seine Brust; wäre ihre Wiener Wohnung im Erdgeschoß gelegen gewesen, so wäre ich heute noch frei! dachte er später.

Einmal verheiratet, begann Weidenau sehr bald allein in Gesellschaft zu gehen, da Fanni sich in den ersten Ehejahren mit höchstens halbjährigen Unterbrechungen in interessanten Umständen befand und in der Zwischenzeit aus Frömmigkeit selbst stillte. Aus Frömmigkeit bekam sie auch so viele Kinder, da sie der Pfarrer von Groslowitz, bevor sie nach Wien übersiedelte, ausdrücklich unter Androhung schwerer Versündigung vor den verruchten Mitteln der Großstadt, den Kindersegen zu vereiteln, gewarnt hatte. Weidenau war damals einer niederösterreichischen Bezirkshauptmannschaft zugeteilt, die die schöne Frau des Amtsleiters, Baronin Risa, führte. Er tanzte auf den Bällen der Bezirkshauptmannschaft mit ihr Walzer, aber auch noch Cœur und Lancier und brachte der Baronin, wenn er nach Wien fuhr, die neuesten französischen Romane mit. Als er dann Knall und Fall zur Wiener Statthalterei versetzt wurde und in Gegenwart der »Chefesse«, die manchmal auch in den Amtsräumen einen leichten Parfümgeruch zu verbreiten liebte, seine Laden ausräumte, sagte er, etwas frech, zu der neugierig Herumschnuppernden: »Wenn ich vielleicht irgendwo mein Herz vergessen haben sollte, Baronin, so haben S' die Gnad', es mir nachzuschicken.« – »Ich werd' mich hüten!« erwiderte die kokette Frau … Es wurde dann aber doch nichts daraus.

Diese Wendung mit dem aus Versehen vergessenen Herzen war schon ganz Weidenau, seine, wie er sie nannte: »unverbindliche Lebenslust« äußerte sich darin, die ihn später in Wien von Salon zu Salon eilen und in einem unendlichen tour de main von Tänzerin zu Tänzerin gleiten ließ. Aber woher hatte er die? Etwa von seinen Eltern? Die bloße Vermutung machte ihn lachen.

Erni Weidenau, der Mann der unverbindlichen Lebenslust, der so gerne in Gesellschaft ging und die Menschen aufsuchte, weil er sie liebte, wuchs heran als der einzige Sohn eines lebensfeindlichen, greisenhaft mißvergnügten, menschenhasserischen Ehepaares. Es war die Zeit, in der ein alter, später uralter Monarch über Osterreich herrschte, der sich mit ungefähr gleichaltrigen Generaladjutanten umgab, die wieder ihrerseits dafür sorgten, daß alle maßgebenden Stellen des Reiches mit entsprechend alten Männern besetzt waren und blieben. Weidenaus Vater zählte erst sechzig Jahre, als er Handelsminister wurde, und sein Stolz war, daß er wie siebzig aussah. Das aber war das Ergebnis jahrzehntelanger Anstrengungen des Sektionschefs, sich älter zu machen, worin ihn seine unterdrückte Frau Konradine gewissenhaft unterstützte. »Wir sind alte Leute!« hörte sie der Sohn jammern – das Wort blieb in seinem kindlichen Ohr haften –, als er verwundert fragte, warum man denn eigentlich die Einladung des Onkel Max, mit ihm in den Prater zu fahren, nicht angenommen hätte. Und auf den vergißmeinnichtblauen Frühlingshimmel deutend, fügte Mama hinzu: »Außerdem wird's ja sicher regnen!« Papa Weidenau war zu jener Zeit siebenundvierzig, seine Frau zweiunddreißig; aber sie hatten, wie sie allen ihren Bekannten versicherten, mit dem Leben längst abgeschlossen.

Das waren die Eltern. Allein es gab auch noch einen Bruder seiner Mutter in der Familie, eben jenen Onkel Max, mit dem Weidenau im Äußeren viel Ähnlichkeit aufwies.

Onkel Max, der damals, an jenem strahlend schönen Maitag, zu einer Praterfahrt im offenen Phaethon einzuladen die Verwegenheit hatte, besaß eine verhängnisvolle Leidenschaft, die seine arme Frau viel heimliche Tränen kostete, während die übrige Familie bloß darüber lachte. Ehemaliger Kavallerieoffizier, der schuldenhalber hatte quittieren müssen – ein in der Weidenauschen Ahnenreihe unerhörter Fall –, war er später im Zivildienst beim Eichamt, »untergekrochen«, hatte aber dabei seine »noblen Passionen« beibehalten. Die nobelste war, daß er Pferde bis zu 150 Gulden das Stück kaufte, in seinem Stall – er besaß ein kleines Haus vor der Stadt – auffütterte, vor seinen Phaethon spannte, den er angeblich auch für dienstliche Kommissionsfahrten benötigte, dann die Lust an ihnen verlor und, fast immer mit Schaden, wieder verkaufte. Diese Verluste, die sich im Durchschnitt auf dreißig bis vierzig Gulden beliefen, zusammen mit den Kosten der Fütterung – obwohl er meistens einspännig fuhr, standen oft drei Gäule im Stall –, waren das Loch im Budget, weshalb er denn auch, wie man bei Weidenaus sagte, nie auf einen grünen Zweig kommen würde. Er ließ aber doch nicht ab von seiner törichten Leidenschaft, die ein unbedenklicher Pferdehändler begünstigte. Die Schwäche des guten Onkels kennend, fuhr er von Zeit zu Zeit mit ihm bei Nacht auf einen niederösterreichischen Pferdemarkt, um ein Paar besonders schöner »Katzen« – so nannte er sie ihrer Wohlfeilheit wegen – zu erstehen. Kamen sie dann, rückwärts an den Wagen des Heimkehrenden gekoppelt, zu Hause an, so hatten sie alle möglichen Vorzüge und Schönheiten, auf die Onkel Max liebevoll und stolz aufmerksam machte. Sie erhielten Zucker und schöne Namen, wurden gefüttert und gestreichelt. Nachher stellte sich heraus, daß die Tiere einen Hornsprung oder ein verschleiertes Überbein besaßen, daß die Schwärze ihrer Mahlzähne, auf die sich die Vermutung ihrer Jugend gründete, künstlich hergestellt war, daß sie mondblind, dämpfig, Schluchzer oder Durchgänger waren – kurz, daß der Onkel Max, der sich so gut auf Pferde verstand, wieder einmal »angeschmiert« worden war. Er löste die unglückliche Verbindung, zahlte »Neugeld«, und der Roßtäuscher durfte sich geraume Zeit nicht blicken lassen. Dann kam er wieder, und man fuhr wieder einmal auf den Markt.

An diesen seinen Blutsverwandten mußte Weidenau, von der Liebe enttäuscht, zuweilen denken, aber die Erinnerung an ihn hatte auch etwas Tröstliches. Denn im Alter von fünfzig Jahren war der Onkel Max von einer schweren Krankheit befallen worden, die ihm die Ausübung seiner Liebhaberei für geraume Zeit unmöglich machte. Drei Monate später, auf dem Wege der Genesung, verkaufte er Pferde und Wagen, warf den Händler endgültig hinaus, ließ den Stall ausräuchern und interessierte sich während des Restes seines Lebens für alles andere, nur nicht mehr für Pferde, von denen er nun doch, wie es schien, ein für allemal genug hatte.

Ob es mir mit den Frauen ebenso gehen wird, war der Neffe ungalant genug, zu denken. Aber er war ja erst Mitte der Vierzig – das schönste Alter, hatte Daria, die es auch war, immer gesagt.

Daria war die Nachfolgerin der reizend verlogenen Soulalamp, mehr noch, sie war gewissermaßen ihre Folge, die Frucht dieses Liebesbundes, ihr Kind. So wenigstens faßte Weidenau die Sache auf.

Die Beziehung mit Lora reifte im Herbst 1915. Es ereignete sich ein Abend, an dem Herr Plank, etwas früher aus dem Klub heimgekehrt, von einer plötzlichen rätselhaften Unruhe erfaßt wurde, weil seine Frau noch nicht zu Hause war. Sie war mit einer Freundin zu einer Operette gegangen, die sie schon zweimal gesehen hatte, aber sich gerne noch ein drittes Mal ansehen wollte, und hatte versprochen, spätestens um halb elf zu Hause zu sein. Aber es war halb zwölf, als er sie den Schlüssel – sie hatte ihn für alle Fälle mitgenommen – ins Schloß stecken hörte. Er ging ihr ins Vorzimmer entgegen, die ihm, rosig und sichtlich angeregt, in ihrem schönen, locker getragenen Zobelpelz entgegenkam. »Wo warst du denn so lange?« wollte er sie fragen, als sie ihm, noch bevor er sich ganz dazu entschlossen hatte, mit einem: »Ah, du bist noch auf, Herzerl?« den Mund zuleimte. War es denkbar, daß eine Frau, die ihrem Mann in solcher Lage »Herzerl« sagte, etwas zu verbergen hatte? Herr Plank, der zum Glück ein Psychologe war, hielt das für ausgeschlossen.

So ergaben sich aus jener ersten Lüge, damals am Telefon, immer neue Unwahrheiten, und Weidenau begann als Mann zu sinken. Er verbrachte jetzt seine Nachmittage regelmäßig außer Hause, entweder im Klub oder im Amt – wenn man im Amt anrief, war er im Klub und umgekehrt –, in Wahrheit natürlich mit Lora, die ihrerseits entweder einen Besuch vorschützte, bei einer Freundin, die kein Telefon hatte, oder einfach »Wege« hatte »in der Stadt«. Später ging sie auch immer häufiger zum »Schleichhändler«, was durchaus zeitgemäß war. »Heutzutage kauft man auch das Glück beim Schleichhändler!« sagte damals eine Dame der Wiener Gesellschaft mit einem Seitenblick auf Lora.

Eine Unterbrechung ihrer Beziehungen trat erst ein, als Lora nach Innsbruck reiste, wo ihr eingerückter Bruder mit einer Rückgratverletzung im Spital lag. Die unter »Soulalamp« geschriebenen Briefe wurden von der Post nicht zugestellt.

Dazu kam ein anderes. Weidenau hatte, unter Loras bildendem Einfluß, sich im letzten Jahr zu einem richtigen Teekoster entwickelt, wozu er immer schon bedeutende Anlagen besessen hatte. Entweder er nahm den Tee bei Lora oder bei einer anderen Dame seiner Bekanntschaft, was Lora zwar nicht gerne sah, was sich aber schon aus dem Grunde nicht vermeiden ließ, weil eine vollständige Änderung seiner Gewohnheiten Lora bloßgestellt hätte. Er ging also abwechselnd zu seiner früheren Vorgesetzten, der Baronin Risa, zu einer eleganten Schauspielerin, von der ein stadtbekannter Kritiker in der Zeitung geschrieben hatte, daß sie das Liebesfach meistere, und die im Privatleben die am wenigsten kokette Frau unter Weidenaus weiblichen Bekannten war, sowie zu Tinett Lodersdorf, von der sich das gleiche nicht behaupten ließ, bei der er aber ganz kameradschaftlich verkehrte. Und da geschah nun eines Tages folgendes.

Weidenau besuchte die Baronin nach vorangegangener telefonischer Vereinbarung und sagte zu dem ihm die Türe öffnenden Stubenmädchen – der Heldenspieler war damals noch auf dem Lande bei der Mutter Tinetts – mehr der Form halber, als weil er daran gezweifelt hätte: »Frau Baronin zu Hause?« Aber das Stubenmädchen war neu, und anstatt wie ihre Vorgängerin zu antworten: »Jawohl, die Frau Baronin erwartet den Herrn Baron«, zögerte es vorsichtig und sagte unschlüssig: »Ich weiß nicht, bitte … wen darf ich melden?« Und erst nachdem er seinen Namen genannt hatte: »Ja, für den Herrn Baron ist die Frau Baronin zu Hause.« Weidenau, der scharfsinnig war, schloß daraus, daß Tinett Lodersdorf für sonst niemand an diesem Nachmittag zu Hause war, folglich, daß sie mit ihm allein zu sein wünschte. Und einigermaßen verwirrt, aber mit gehobenem Selbstgefühl, trat er ein. Die Baronin saß am Klavier und modulierte etwas aus der »Boheme«.

Drei Tage später, als er wieder bei ihr anrief, erfuhr er, daß sie mit ihren Kindern zu ihrer Mutter gereist sei, die eine Besitzung in der Umgebung von Preßburg nach dem Tod ihres Gatten allein bewirtschaftete. Gleichzeitig trat damals Daria auf den Plan und gab seinem Leben eine neue Richtung.

Als Weidenau im Verlauf seiner Selbstanalyse ungefähr an dieser Kehre seines serpentinenartig verlaufenden Liebeslebens angelangt war, trat unendlich vorsichtig die Wabi in sein bereits in Dämmerung gehülltes Zimmer und fragte im Flüsterton:

»Ist der Herr Baron zu Haus? Der Herr Doktor Höfer war' da!«

Weidenau wurde es warm ums Herz. Endlich wieder einmal eine freundliche Männerstimme, eine tiefgetönte, nach wochenlangem Soprangezwitscher. Und er fuhr die Wabi an, absichtlich lauter als gewöhnlich sprechend:

»Selbstverständlich bin ich zu Hause! Der Herr Doktor Höfer ist doch mein Jugendfreund. Herr Doktor Höfer kann zu jeder Tages- und Nachtzeit unangemeldet bei mir eintreten!« Mit diesen Worten eilte er zur Türe, um sie dem Freund selbst zu öffnen. Der nach der anderen Seite abgehenden Wabi aber rief er nach:

»Einen Tee, Wabi, für zwei Personen! Und die Groslowitzer Butter!«

Eine Viertelstunde später saßen sie einander beim Tee gegenüber, Weidenau selig, daß er endlich wieder einmal mit einem Mann allein war, Doktor Höfer bekümmerten Gesichts und nur langsam auftauend. Er hatte Sorgen und noch immer keine Anstellung.

Dann wurde das Teebrett hinausgeschafft, und das Schachbrett rückte an seine Stelle. Der Baron sagte, die Figuren aufstellend:

»Warum bist du damals, vor drei Wochen, nicht zum Essen gekommen?«

Höfer gab eine ausweichende Antwort; er wäre nicht ganz wohl gewesen.

Aber Weidenau, der in der Schule der Frauen unter anderem gelernt hatte, einen Menschen zu erraten, auch wenn er nicht erraten sein wollte, und aus einem Blick, einem leichten Stirnrunzeln, einem Zittern der Stimme mehr zu erschließen als aus den Worten, die daneben hergingen – Weidenau wußte, daß sein wahrheitsliebender Freund in diesem Augenblick log. Mehr noch: er wußte genau, wie die Dinge in Wahrheit zusammenhingen.

Höfer, der, selbst arm, mit den Armen schon als Kind hatte teilen wollen, sah sich, im Besitz jener Einladung, aufgefordert, in einen Kreis zu treten, in dem er nicht zu Hause war. Es war dies der Kreis jener bevorzugten Gesellschaft, die Österreich bis zum Kriege und noch im Kriege beherrscht hatte und deren Vorrecht ihm auf allen seinen Wegen zeitlebens hinderlich gewesen war. Hatte es ihn nicht in jungen Jahren von der diplomatischen Laufbahn ferngehalten, in die einzuschwenken er Lust und Fähigkeit besessen hätte? Hatte es nicht in späteren Jahren bei jeder seiner Versetzungen und Beförderungen ein Rolle gespielt, weil es überall für ausgemacht galt, daß der Bürgerliche an zweiter Stelle stand? Hatte es ihn nicht den Frieden seiner Ehe gekostet, die ein Angehöriger dieser privilegierten Gesellschaft gestört hatte? Und jetzt, am Wahltag, lud sie ihn ein, diese Gesellschaft, erinnerte sich seiner, um ihn zu veranlassen, mit ihren brüchig gewordenen Vorurteilen gemeinsame Sache zu machen und ihre hinfällig gewordene Macht zu stützen? Nein, ich danke, sagte Doktor Höfer und lehnte ab, um, wie alle Tage, in seiner Offiziersküche das ranzige Stückchen Fleisch, das ihm und seinesgleichen zukam, hinunterzuwürgen …

All das wußte oder ahnte der Baron, ohne daß sich Höfer darüber ausgesprochen haben würde. Und er achtete den Freund darum nur um so höher.

»Eine Zigarette?« fragte er nach einer Weile, ihm die gefüllte Kassette zuschiebend.

»Danke«, sagte der ehemalige Staatsanwalt, »ich rauche meine eigenen«; und er machte den Eröffnungszug.

Weidenau spielte diesmal besonders schlecht. Nach zehn Zügen war er schachmatt. Sie drehten das Brett um und begannen noch einmal.

Nach dem zweiten Zug sagte Weidenau, im Anschluß an das Gespräch von vorhin:

»Die Baronin Lodersdorf hat auch sehr bedauert, daß du nicht da warst.«

»Ich weiß«, sagte Höfer. »Sie hat mich am Tag darauf angerufen!«

Das Rössel, das der Baron ergriffen hatte, um einen Zug über die Bauern hinweg zu machen, blieb vor Verwunderung in der Luft schweben. »Die Tinett Lodersdorf hat dich angerufen?« fragte er.

»Ja, was ist dabei? Ich geh morgen nachmittag zum Tee zu ihr«, sagte Doktor Höfer; und nach einer Weile, da der Baron stillblieb: »Du kommst!«

»Richtig!« Und Weidenau lächelte, in Erinnerung des Geschichtchens, das er der Baronin Lodersdorf über Höfer erzählt hatte, sein feines Lächeln, das mehr von den Dingen der Welt wußte, als ein Czernowitzer Richter mit all seiner juristischen Erfahrung sich träumen ließ. Plötzlich aber ging die nachdenkliche Heiterkeit in seinem pfiffigen Knabengesicht mit der ein wenig vorlauten Nasenspitze in jungenhaften Spott über und er sagte, seine ausgestreckte Hand zurückziehend:

»Nein, lieber Freund, du kommst!«

»Wahrhaftig!« besann sich Höfer, einigermaßen verlegen; und ärgerlich setzte er hinzu:

»Aber das kommt vom Reden!«


 << zurück weiter >>