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Die beiden Freunde

In jener Zeit der äußersten Lebensmittelknappheit kam eine Einladung zum Mittagessen einer Erbeseinsetzung oder zumindest einer Bestechung gleich. Der Richter Doktor Höfer hätte denn auch bei jedem anderen als dem Baron das entschiedenste Mißtrauen empfunden; beim Baron Weidenau aber tat er es merkwürdigerweise nicht. Er nahm die Einladung an und begab sich, schon wieder bürgerlich gekleidet, mit aufgespanntem schwarzen Regenschirm, an dem bezeichneten Tage in die Lindengasse, wo der Freiherr wohnte.

Sein Verhältnis zu Weidenau schloß von jeher jedes Mißtrauen aus. Sie waren seit dreißig Jahren befreundet, seit damals, da man ihre aufkeimende Freundschaft vorzeitig hatte unterdrücken wollen, womit man, wie so oft in derlei Fällen, das Gegenteil erreichte.

Höfer und Weidenau gingen damals beide in dieselbe Klasse des Akademischen Gymnasiums. Aber die Kluft, die sie voneinander trennte, war ungeheuer; denn der Schüler Höfer war der Sohn eines Privatbeamten einer Metallwarenfabrik, Weidenau aber der Sohn eines Sektionschefs im Handelsministerium, von dessen möglicher Ernennung zum Minister man schon damals munkelte.

Eines Tages entdeckten die beiden Schüler ungefähr gleichzeitig ihre Leidenschaft für das Schachspiel. Höfer besaß kein derartiges Spiel, sondern nur einen Onkel, der eines besaß, Weidenau hatte eins zum Geburtstag erhalten. So war es nur natürlich, daß er Höfer zu sich einlud und daß dieser mit Erlaubnis seiner Eltern, die auf einen guten Umgang Wert legten, die Einladung annahm.

Aber den Eltern Weidenaus paßte der Verkehr mit dem Sohn des bürgerlichen Privatangestellten weniger. Die Schachpartie wurde nicht geradezu verboten; allein, als sie sich zum zweiten Male ereignete, sahen sich die Knaben gezwungen, im Vorzimmer zu spielen, beim Schein einer Kerze, die man ihnen auf eine in den Kleiderschrank eingebaute schmale Bank gestellt hatte. Auch ging der Sektionschef, ein hochmütig aussehender Mann mit einem maulkorbartig den Mund einfassenden Schnurr- und Backenbart, auffallend oft durchs Vorzimmer. Dabei hörte Höfer ihn einmal ganz deutlich brummen: »Schad' ums Licht!« Gleich darauf erschien die Baronin und bedeutete dem Sohn, resolut nach der Kerze greifend, daß er jetzt seine Aufgaben machen müsse. Der Schüler Weidenau bewahrte soviel Fassung, den Freund zu bitten, die Stellung zu notieren, was dieser auch tat. Doch zweifelte er nicht, daß sie die Partie nie mehr zu Ende spielen würden. Wie angenehm war daher seine Überraschung, als Weidenau zwei Tage später bei ihm uneingeladen mit seinem listigen Lächeln erschien, das Schachbrett unterm Arm. Er gab den Verkehr nicht auf, im Gegenteil, sie wurden Freunde, und sie blieben es, obwohl Weidenau nach der Vierten ins Theresianum kam, was schon immer der Wunsch des Sektionschefs gewesen war.

Die Leidenschaften der Kinder wechseln wie die der Erwachsenen. Auch Weidenau und Höfer spielten nicht immer Schach, ja sie spielten bald gar nicht mehr. Aber ihre Freundschaft überdauerte am Ende alle ihre wechselnden Leidenschaften, auch die große Leidenschaft des Barons für die Frauen, und wenn sie sich auch oft jahrelang nicht sahen und scheinbar völlig aus den Augen verloren, so blieben sie doch, als Jugendfreunde, ständig miteinander in Verbindung, die sich sofort wiederherstellte, wenn sie einander wieder begegneten.

So war es auch heute wieder, als sie einander bei Tisch gegenübersaßen. Der Baron war aufgeräumt aus zwei Gründen: einmal weil er etwas Fleisch und Butter vom Gut hereinbekommen hatte, was es ihm ermöglicht hatte, einen Gast einzuladen; und dann auch, weil sich ihm die angenehme Aussicht eröffnete, zwei Stunden lang die tieferen Modulationen einer Männerstimme zu genießen, was ihm bei dem verstrickten Liebesleben, das er führte, nur selten gegönnt war.

»Ich hab' ursprünglich die Absicht gehabt«, bemerkte er, ein nach echter Butter duftendes Pastetchen mit der Gabel zerteilend, »auch die Tinett Lodersdorf einzuladen und den Exzellenz Amerling. Aber dann hab' ich mir's wieder überlegt. Es ist doch netter zu zweit.«

Höfer klang der Name der Baronin angenehm ins Ohr; er ließ ein schönes Bild aufschweben, eine jagdlich schreitende Diana, die sich reizend duckte und dann wieder, aufspringend, leichtfüßig über Hindernisse hinwegsetzte. Allein als Richter gewohnt, persönliche Neigungen auszuschalten, fragte er, aus Gerechtigkeit, nach dem anderen Namen zuerst.

»Exzellenz Amerling? Ist das der Admiral?«

»Ja. Der Admiral ohne Schiffe … Er wohnt im zweiten Stock auf den Hof hinaus zusammen mit seinem Bedienten, der er selber ist.«

Höfer trank vorsichtig einen Schluck Wein; dann erst fragte er: »Ist die Baronin Lodersdorf eine Tochter des gleichnamigen Ministers?«

»Nein, die Schwiegertochter seines Bruders … Im übrigen sind ihre ›Origines‹ die allerbesten. Ihr Vater war Gardeoberst, der Onkel Statthalter.«

»Und der Gatte?«

»Er hat die bekannte Affäre im Jockeiklub gehabt.«

Allein auch darüber hatte Höfer in Wladimir nichts gehört. Weidenau war in der angenehmen Lage, ihm die Geschichte zu erzählen, was er mit sichtlichem Vergnügen tat. Geschichtchen erzählen war eines seiner kleinen Talente; auch hatte ihn Höfer bereits vor zehn Jahren den »Geschichterlbaron« getauft.

»Also stell' dir vor, der Wenzel Lodersdorf hat jahrelang, bis tief in die Kriegszeit hinein, die auffallende Gewohnheit gehabt, immer erst um drei Uhr früh in den Klub zu kommen, zu einer Zeit also, wo die meisten Spieler zum Umfallen müd waren. Dabei hat er ihnen dann regelmäßig das Geld abgenommen, was die anderen auch ganz in Ordnung gefunden haben, weil er eben die besseren Nerven gehabt hat. Bis dann einer durch die Indiskretion eines Kammerdieners draufgekommen ist, daß der Lodersdorf sich in solchen Fällen regelmäßig um neun Uhr abends zu Bett gelegt und sich um zwei Uhr früh hat wecken lassen, wie zur Auerhahnjagd, um dann, gut ausgeschlafen, wie er war, die übernächtigen Spieler abzusieden. Der junge Fery Büchsenstein, der hübsche Bursch, der im Krieg ein Bein verloren hat – du siehst ihn noch immer jeden Tag am Korso –, hat den Mut gehabt, ihm das ins Gesicht zu sagen. Und was sagt der Unglücksmensch, der Lodersdorf, darauf? ›Mit einem Krüppel wie du kann man sich ja nicht schießen!‹ Kaum war das ausgesprochen, so kommt eine Ohrfeige geflogen, dem Drückeberger mitten ins Gesicht, und der Büchsenstein begleitet sie mit dem Text: ›Das Bein hat man mir zwar weggeschossen, aber die Hand gottlob noch nicht‹ … Na, und weil er doch satisfaktionsunfähig war, hat der andere aus dem Klub hinausmüssen … Übrigens lebt er seit einem Jahr geschieden von seiner Frau.«

»Sie scheint eine lustige Dame zu sein«, mutmaßte Höfer.

»Lustig ja, aber nicht so, wie du vielleicht meinst. Die Tinett Lodersdorf ist eine ganz ausgezeichnete Person und zieht ihre drei Buben wirklich brillant auf … Nebenbei bemerkt ist sie das Urbild einer Wienerin. Wenn du den Typus vielleicht studieren willst, hast du dazu bei ihr die beste Gelegenheit.«

Höfer gab durch eine ausweichende Gebärde zu verstehen, daß er nicht die geringste Lust habe, den Typus zu studieren. Hingegen ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf, und während Weidenau lächelnd Wein einschenkte, fragte er plötzlich: »Wie geht's denn eigentlich deiner Frau? Kommt sie nicht nach Wien?«

»Nein, die bleibt noch bei uns zu Haus in Mähren«, sagte Weidenau fröhlich und mit einer unbesorgten Handbewegung, über die er sich selbst vermutlich keine Rechenschaft gab. Es sah so aus, als schöbe er, mit dem Handrücken, etwas beiseite, um für etwas anderes, Näherliegendes, Platz zu schaffen.

Nach einer Weile fragte er, sichtlich auch um abzulenken: »Und du? Was wirst du in Wien tentieren?«

»Wenn ich das wüßte!« seufzte Höfer und warf ein Stück Würfelzucker in den nach Kaffee duftenden schwarzen Kaffee. »Zucker!« sagte er, mit einer Verwunderung, aus der die Entbehrung sprach.

»Ja, die Wabi hat wieder einmal einen aufgetrieben. Was, Wabi? Beim Friseur Horak wahrscheinlich!« und indem er die Tafel aufhob, ging er mit seinem Gast in das anstoßende Wohnzimmer hinüber, das gassenabgewandt lag und durch dessen weißgestrichene Fensterrahmen man in den Hof des Österreicherschen Familienhauses hinunterschaute. Ein schiefgewachsener Götterbaum und eine gußeiserne Flora erzählten inmitten seiner kasernenartigen Nüchternheit von früheren, sanfteren und besseren Zeiten.

»Sehr gut war das Essen, Wabi!« belobte der Baron im Hinübergehen die Haushälterin. »Nicht wahr, Guntram?«

Die Belobte wurde rot vor Freude. Sie war eine Frau von einigen fünfzig Jahren, die wie ein robuster Landpfarrer aussah und die denn auch, wie ein solcher, eine Regung der Eitelkeit im Keime erstickend, mit christlicher Demut erwiderte:

»Wenn das Essen gut war, so kommt das gewiß nur von dem, Herr Baron, daß ich heut früh nach dem Einkaufen in der Kirche zum heiligen Nährvater Josef gebetet hab'.«

»Beten S' nur recht oft zu ihm!« sagte der Baron und bot dem ironisch lächelnden Freund etwas zum Rauchen an.

Alsbald saßen sie in zwei tiefen, warmen Lehnstühlen aus der Friedenszeit, in Rauchwolken eingehüllt, einander gegenüber. Der Baron besprach, an den Seufzer seines Freundes anknüpfend, die Möglichkeiten, die sich, seiner Ansicht nach, für den ehemaligen Richter derzeit in Wien eröffneten. Dabei stellte sich heraus, daß er sich über die Zukunft seines Freundes schon in dessen Abwesenheit den Kopf zerbrochen und allerhand Absichten und Pläne mit ihm hatte.

»Der Vater unserer Hausfrau ist vorige Woche gestorben!« sagte er, »kaiserlicher Rat Hanfstängl – Teppichfabrik: ›Hanfstängl und Söhne‹. Jetzt A.-G.«

»Warte!« sagte Doktor Höfer, sich besinnend: »War das nicht der, der seinerzeit den Expropriationsprozeß mit der Gemeinde Wien geführt hat? Die Verhandlung ist schließlich vertagt worden, weil der Beklagte ein Sachverständigengutachten über die Unübertragbarkeit einer kleinen Kapelle provoziert hat. Das erzbischöfliche Ordinariat hat sich hineingemischt.«

»Ja, das ist er schon, der alte Hanfstängl«, nickte Weidenau, »er ist immer auf einem besonders guten Fuß mit dem lieben Gott gestanden, und seine Tochter hält diese Beziehung weiter aufrecht. Sie lauft gewöhnlich schon vor dem Frühstück in die Mess', und im Rosenkranzbeten schlagt sie sogar meine Frau, die doch gewiß –«

Doktor Höfer bremste den plauderhaften Freund. Was der Tod des alten Hanfstängl mit seiner, Höfers, Anstellung zu tun habe, fragte er.

Der Baron erklärte ihm den Zusammenhang. Nach dem Ableben des Alten würde der Bruder der Frau Österreicher, Herr Adolf Hanfstängl, die Leitung des Geschäftes übernehmen und ihm vermutlich einen neuen Aufschwung geben. Wenn also Höfer sich entschließen könne, seiner richterlichen Laufbahn Lebewohl zu sagen und ins kommerzielle Leben einzutreten, so böte sich hier vielleicht eine Gelegenheit. Er, Weidenau, wäre gern bereit, ihn mit Herrn Eduard Hanfstängl bekannt zu machen, wozu sich die beste Gelegenheit ergeben würde bei einer jener geselligen Zusammenkünfte, die die Nichte eines ehemaligen Hofbeamten Seiner Majestät, unterstützt von einem Komitee rückwärtsgewandter Damen der Wiener Gesellschaft, dem auch die ehrgeizige Frau Daisy Hanfstängl angehörte, in dem ausgeräumten Palais eines vormals kaiserlichen Ministers veranstaltete. Man würde sich, ein geschlossener Kreis, an jedem ersten Montag jeden Monats zusammenfinden, um in aller Gemütlichkeit –

»Die Volkshymne zu singen!« unterbrach Doktor Höfer an dieser Stelle die beredte Schilderung seines Freundes.

»Also jedenfalls nicht das Arbeiterlied!« gab dieser munter zurück.

Aber Doktor Höfer blieb ernst:

»Ich war bei Luck dabei und hab' mit angesehen, wohin das dynastische Prinzip, demzufolge an der Spitze jeder Armee ein Erzherzog stehen mußte, im Feld geführt hat. Damals hab' ich mir geschworen –«

»Man soll nichts verschwören! Oder glaubst du vielleicht, daß die Republik –?«

Anstatt zu antworten, blätterte Höfer eine der auf dem Schreibtisch des Barons aufgehäuften Broschüren an:

»Seit wann beschäftigst du dich mit Psychoanalyse?« fragte er überrascht.

»Oh, schon seit Jahren …«, sagte Weidenau etwas unbestimmt, da er nicht eingestehen wollte, daß er es tat, seitdem die schöne Frau Daria ihn zu den psychoanalytischen Vorträgen an der Universität mitzunehmen pflegte, seinem Leben solcherart eine Richtung mehr aufs Geistige gebend.

Doktor Höfer zog die Uhr und stand auf:

»Du wirst entschuldigen, lieber Freund, aber ich muß um vier in meinen Bankkurs …«

»Willst du nicht wenigstens noch eine Schachpartie –?« fragte Weidenau, der, immer der werbende Teil, sich an der dunklen Baritonstimme seines Freundes noch ein Weilchen letzen wollte. Und er sagte, das schon aufgestellte Schachbrett herantragend, um dem Zaudernden Lust zu machen:

»e2 – e4. Was meinst du?«

»e7 – e5«, erwiderte Höfer prompt im Ton ihrer Knabenjahre und nahm am Schachtisch Platz.

In diesem Augenblick erschien die Wabi an der Schwelle.

»Eine Dame ist am Telefon. Dieselbe, die vorhin den Brief –« meldete sie treuherzig.

Aber Weidenau winkte ab: »Ich bin nicht zu Hause!« … sagte er, den Kopf einziehend.

Und alles andere der Wabi überlassend, stürzte er sich, die Hände an den Ohren, in die Schachpartie, die noch immer anfing, wie sie vor dreißig Jahren angefangen hatte.


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