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Keine Rosen, aber Tulpen

Exzellenz Malik war bei seiner großen Freundin, der verwitweten Fürstin Albertine, zu Tisch geladen. Außer ihm nahmen an dem kleinen, nur aus drei flink servierten Gängen bestehenden, aber pariserisch leckeren Frühstück teil: das Ehepaar Winkler, das auf Betreiben der geborenen Hohenbruck gleich in den ersten Wochen seines Wiener Aufenthaltes bei Ihrer Durchlaucht Besuch gemacht hatte, und der Prinz Waldperg, den die Baronin Lodersdorf den »Saldakontisten« nannte, weil er, wie man im Klub sagte, ›dans les affaires‹ war. Die Baronin selbst war nicht zugezogen; sie befand sich augenblicklich in Ungnade bei ihrer Tante, was mit ihrer Scheidung, oder richtiger, mit ihrer Heirat zusammenhing. Denn die Fürstin Albertine datierte alles von früher her, auch Verstimmungen; nicht die Vergangenheit, sondern die Vorvergangenheit war ihre Domäne; und diesem ihrem plusquamperfektischen Wesen entsprechend nahm sie ihrer Nichte nicht so sehr ihre Scheidung übel als vielmehr, daß sie den »vaurien« überhaupt geheiratet hatte. Womit sie vollkommen recht hatte; es war ein schwerer Lebensfehler gewesen, den richtigzustellen die Baronin anderthalb Jahrzehnte lang nicht den Mut aufbrachte. Und vielleicht hätte sie ihn niemals aufgebracht, wenn nicht noch etwas anderes dazugekommen wäre.

Die Fürstin war eine rundliche, kerngesunde und frische alte Dame, in deren Blut sich russischer, böhmischer und italienischer Hochadel kreuzten. Geistig begabt, westlich erzogen, im Besitz gediegener, zumal historischer und philosophischer Kenntnisse, die sie unermüdlich vermehrte, hatte sie von Jugend auf den Umgang geistreicher Männer gesucht und zum großen Teil außerhalb der ihr angestammten Sphäre gefunden. Einer von ihnen war Privatdozent Malik, bei dem sie vor zwanzig Jahren Römische Geschichte belegt hatte; doch unterhielt sie sich später mit ihm noch lieber als über das römische Weltreich oder die Kultur der Kalifen über Thomas von Aquino, ihren Lieblingsheiligen, für den auch Malik, vielleicht unter ihrem Einfluß, eine mit den Jahren zunehmende Schwäche besaß.

Beim heutigen Mittagessen wurde freilich zunächst nicht über Thomas von Aquino gesprochen, sondern über nähergelegene Gegenstände, versteht sich, nicht der gegenwärtigen Zeit. Für diese brachte die Fürstin nicht das geringste Interesse auf – vorausgesetzt, daß man ihr Durchlaucht sagte, was in den Kreisen, in denen sie verkehrte, nach wie vor geschah. Auch die Übersiedlung des Kaisers in die Schweiz, die eben erfolgt war, ließ sie kalt, wenngleich sie bei Tisch nicht unerwähnt blieb. Die Fürstin, die aktuelle Ereignisse, selbst wenn es sich um eine Revolution handelte, nur selten zur Kenntnis nahm – die Gegenwart war für sie nur eine unvermeidliche Vorstufe künftiger Vergangenheit –, hatte zwar die Tatsache berührt, sich aber sofort in ein früheres Jahrhundert zurückgezogen, indem sie den Kaiser Karl mit Napoleon und Prangins mit Elba verglich. So kam das Gespräch auf Napoleon, und in diesem Augenblick bemächtigte sich Malik, gestärkt durch einen köstlich zubereiteten Hirschziemer und angefeuert von ein paar Gläsern Burgunder, des Wortes, indem er die gewagte Behauptung aufstellte, das Unglück Europas wäre der Ausgang der Schlacht bei Leipzig gewesen. Wenn damals die verbündeten Heere wären geschlagen worden, wie es der Historiker Malik gewünscht hätte, so hätte es, führte er aus, kein 1870 gegeben, kein deutsches Kaiserreich, keine wilhelminische Epoche und folglich auch keinen Weltkrieg. Die Vereinigten Staaten von Europa, die Napoleon in seinen großen Stunden vorschwebten, wären längst verwirklicht und Europa heute eine aristokratische Republik, mit dem noch immer im Kirchenstaat residierenden Papst als geistigem Oberhaupt und Rom als kulturellem Mittelpunkt. Europa genösse amerikanische Freiheiten, aber untermauert von antiken Traditionen, die eben doch das »Entscheidende« seien und die zu wahren Rom berufen sei. Washington könne sie nicht ersetzen, bei allem großzügigen Unternehmertum, das Amerika nicht abzusprechen wäre; im Punkte Kultur müsse es aber doch hinter Rom zurückstehen, es wäre denn, daß es den Sozialisten gelänge, mit der Zeit auch Rom zu sozialisieren. Und Exzellenz Malik schloß unter dem zustimmenden Lächeln der Fürstin seinen fugenartig gebauten kleinen Vortrag durch eine kunstvolle Engführung, indem er, sein Glas erhebend, mit den Worten endete: »Rom oder Washington, das ist die Frage, und ich weiß voraus, in welchem Sinne sie meine durchlauchtigste Freundin, unsere verehrte Hausfrau, beantworten wird!«

Die Fürstin wußte es gleichfalls und gab, indem sie mit dem Glase winkte, dem Diener ein Zeichen, Malik noch einmal von der Worcestersoße anzubieten. Während er sich bediente, ergriff der Feldmarschalleutnant das Wort, der mit seinem steinernen, blutlosen Gesichte, die tiefliegenden Augen wie Gewehrläufe auf den Sprecher gerichtet, aufmerksam zugehört hatte. Dabei hatte er als kluger Taktiker seine Antwort in Gedanken vorbereitet; er brauchte sie nur loszulassen.

»Bitt' um Vergebung, Exzellenz«, ließ er sich vernehmen: »Aber die von Ihnen soeben skizzierten weltgeschichtlichen Folgen wären wohl auch schon einige Jahre vor der Schlacht bei Leipzig eingetreten, Anno 1809, wenn der Erzherzog Karl den Sieg von Aspern rücksichtsloser ausgenützt und Napoleon auf der Insel Lobau gefangen gesetzt hätte. Auch in diesem Falle hätte Europa ein anderes Gesicht, und vielleicht sogar eins, über das Deutschland und Osterreich –«

Malik ließ ihn nicht ausreden. Wie alle großen Männer, die gut sprechen, ließ er sich ebenso ungern unterbrechen, als er gerne unterbrach. Und er schrie:

»Sie sind im Irrtum, verehrter –« er wollte Freund sagen, besann sich aber unter der Einwirkung von Winklers Gewehrläufen –, »verehrter Baron! Sie sind durchaus im Irrtum! Ein österreichischer Sieg hat, solang die Welt besteht, noch nie etwas an dem Ablauf der Geschichte geändert. Oder hat's uns vielleicht etwas geholfen, daß wir uns in den Karpaten so gut gehalten haben? Im Gegenteil, wenn die Russen damals durchgebrochen wären und Wien erobert hätten, säß der Kaiser Karl wahrscheinlich heute noch unangefochten auf dem Thron!«

Der Freiherr von Edeltreu nahm diese Auslassung mit einem Gesicht zur Kenntnis, das vor Schmerz beinahe heiter war. Hatte er doch jenen Karpatenwinter als Divisionär mitgemacht und seinen eigenen Sohn im Schnee verbluten gesehen. Jetzt wußte er wenigstens, wofür: damit die geistreichen Leute bei Tisch darüber witzelten.

 

Für den Nachmittag hatten sich in Maliks in Dornbach gelegener, ererbter Villa zwei Herren angesagt, wie dem Heimgekehrten seine Schwester Ernestine, die ihm die Wirtschaft führte, zu melden wußte. Es waren dies der Graf Cälian Trau und der steirische Bauernsozialist, Nationalrat Raudaschl. »Um Gottes willen!« sagte Malik, nervös werdend: »Die werden doch nicht am Ende gleichzeitig kommen!« Frau Ernestine, die sich längst auf seine Eigenart eingerichtet hatte, beruhigte ihn etwas gekränkt: Sie hätte den Grafen für vier Uhr bestellt, den Sozialisten für sechs. »Du hättest es umgekehrt machen sollen!« greinte Malik, dem schwer etwas recht zu machen war: »Der Graf hätte ganz gut zum Nachtmahl bleiben können, zusammen mit dem Erni Weidenau, den ich eingeladen hab' …« – »Das hab' ich ja nicht gewußt«, versetzte Frau Ernestine mißmutig: »Du sagst es mir ja immer erst im letzten Augenblick, wenn du jemand einlädst. Übrigens weiß ich nicht, ob die beiden voneinander viel Vergnügen gehabt hätten.« Womit sie auf die bestehende, wenn auch oft unterbrochene Beziehung des Grafen Trau zu Lora Plank anspielte.

»Du hast recht, du hast wirklich recht!« rief Malik nun, seine Schwester an beiden Armen ergreifend und zärtlich schüttelnd: »Ich habe den obersten Grundsatz der Wiener Geselligkeit außer Betracht gelassen, der da lautet: ›Wer mit wem?‹« Und er erinnerte sich schmunzelnd der erotischen Schicksale seines Freundes Trau, den man im Klub »Trau-schau-wem« nannte und der, nachdem er das Seine dazu beigetragen hatte, Österreich in den Krieg zu hetzen und das Verhältnis zu Italien unheilbar zu vergiften, neuestens in der Schweiz lebte, von wo er nur hin und wieder in »Familienangelegenheiten« nach Wien kam, um gegen die Republik zu intrigieren …

Doch da wurde auch schon der Graf gemeldet. Er brachte Winke und Lockungen von Prangins und blieb bis gegen sechs. Dann trat Herr Raudaschl auf, der geschmeidige Steirer im bockigen Lodengewand, brachte Winke und Lockungen namens seiner Partei und blieb bis acht. Schließlich erschien, mit einem Sträußchen Blumen für Frau Ernestine, der immer galante Weidenau. Es wurde elf Uhr, bevor Malik, sich zwischen die vier Wände seiner Bibliothek zurückziehend, sein Manuskript »Die Geschichte des Josephinismus in Österreich« aus der Lade seines Schreibtisches nehmen konnte. Malik führte in diesem seinem Lebenswerk, das ein mit ungeheurer Belesenheit gespeichertes geschichtliches Material mit überlegener Gestaltungskraft einem geistreichen Paradox unterordnete, den Nachweis, daß der unvermeidliche Niedergang Österreichs mit den josephinischen Ideen seinen Anfang nahm. Denn – führte er in dem Kapitel über das Toleranzedikt, an dem er eben schrieb, aus –: »Österreich ist mit dem bloßen Verstand und dessen Schulbakel, der Logik, nicht beizukommen, sowenig wie der Barocke, mit der es tiefinnerlich verwandt, ja identisch ist. Wie diese, die, an aller Wirklichkeit vorbei, bewußt ins Übersinnliche strebt, baut es sich auf aus dem ekstatischen Glauben, sich über sich selbst zu steigern, und ist schön, nicht weil es ist, sondern weil es nicht ist und weil es nur durch seine Nichtexistenz zur Existenz in einer höheren Form gelangt. Wie ja auch Thomas von Aquino …«

Und der geistreiche Mann, der nur zu geistreich war, um ganz wahr zu sein, verlor sich in seine mystischen Spekulationen.

Der Feldmarschalleutnant und seine Frau, die sich zunächst ohne Mädchen einrichteten – es gab keine Arbeit, die Mira um diese Zeit nicht hätte verrichten müssen –, hatten weder Geld noch Gut, aber sie besaßen zwei komplette Wohnungseinrichtungen. Die eine war die des verstorbenen Bruders, die andere diejenige des Feldmarschalleutnants selbst, die, von Graz nachgeschickt, bereits im Frachtenmagazin des Südbahnhofes bereitlag. Winkler wollte sie so bald wie möglich im neuen Heim in der Kölblgasse aufstellen, teils, weil er an den Anblick seiner eigenen Möbel gewöhnt war, teils, weil er sich daraus eine brauchbare Waffe gegen die Wohnungskommission schmiedete, mit der er nach wie vor im Kampfe lag. Infolgedessen mußte er trachten, den Hausrat seines Bruders, der ihm im Wege der Verlassenschaftsabhandlung bereits zugesprochen war, möglichst rasch zu Geld zu machen, was auch aus anderen Gründen erwünscht gewesen wäre. Denn auf die Anstellung bei Herrn Groß war vor Mai nicht zu rechnen.

Christoph Österreicher, der, durch Liebe an das Haus gekettet, als eine Art Laufbursch und Kommissionär von der geborenen Hohenbruck verwendet wurde, ließ sich in seinem Buchhaltungskurs einen sicheren Herrn Blechinger empfehlen, der sich mit dem Ankauf und Verkauf alter Möbel befaßte.

Herr Blechinger kam. Er war ein unverhältnismäßig kleiner Mann mit unverhältnismäßig großem Kopf und kurzen, flossenartigen Gliedmaßen, die er melancholisch bewegte. Sein Äußeres mißfiel dem General, und auch, daß er ihm »Sie« sagte, ohne Titel, nahm nicht für ihn ein, obwohl es Herr Blechinger keineswegs aus Respektlosigkeit tat, sondern lediglich, um den Verkäufer im Preis zu drücken. »Sie haben etwas alte Möbel zu verkaufen?« ließ sich Blechinger vernehmen, sichtlich auf schwere Enttäuschungen gefaßt und indem er den General von unten nach oben – anders konnte er es nicht – aus seinen vorgewälzten Augäpfeln mißtrauisch über die Gläser seiner Brille hinweg anschaute. Winklers Soldatenbrust wölbte sich höher. »Ich weiß noch nicht«, sagte er. »ob ich mich dazu entschließen werde. Aber Sie können sich die Sachen ja anschauen, wenn Sie dafür Interesse haben, Herr Blechinger.« Das Interesse des Herrn Blechinger war, wie er mimisch zu verstehen gab, denkbar gering; dennoch ging er an der Seite Seiner Exzellenz durch die Wohnung und sah sich die einzelnen Einrichtungsstücke an, die ihm ebensowenig zu gefallen schienen, wie er dem General gefiel. Auch die Baronin, die sich im zweiten Zimmer der Begehung anschloß, fand wenig Gefallen an ihm, er war ihr auch zu wenig jüdisch. Hieß er doch weder Nuchem mit dem Vornamen, noch Chaim, ja nicht einmal Ephraim, womit sie sich allenfalls begnügt hätte, sondern Siegfried. Siegfried aber konnte zur Not auch ein Christ heißen, das fand die Baronin ungehörig.

Aufgefordert, am nächsten Tag wiederzukommen, um ein festes Angebot zu machen, erklärte Herr Siegfried Blechinger zudem, daß er am nächsten Tag nicht kommen könne, weil er am Samstag keine Geschäfte mache. Er würde am Dienstag wiederkommen, sagte er; die Sache wolle überlegt sein.

Mittlerweile aber kam am Montag Herr Huber, den Frau Österreicher ihrem Neffen empfohlen hatte, und das war nun freilich ein ganz anderer Mann. Er trat frei und mit einem gewissen dröhnenden Anstand auf und begrüßte den General, obwohl er ein Mann war, mit einem ungezwungenen: »Küss' die Hand, Exzellenz!« Auch führte er sich aufs vorteilhafteste ein durch die Bemerkung, daß die Hausmeisterin etwas gegen den Herrn Baron haben müsse; sie hätte auf seine, Hubers, Frage, wo der Herr Baron wohne, geantwortet: »Der Herr Winkler wohnt auf Nummer 37.« – »Das muß eine ganz Rote sein!« sagte der Herr Huber; und da der General bloß bitter nickte, während die Baronin ihre Lippen schluckte, bemerkte er noch in seiner freimütigen Art: »An die Wand stellen und erschießen, einen wie den andern von diesen roten Halunken – bitte tausendmal um Verzeihung, Frau Gräfin.«

Mit dieser Anrede gab Herr Huber zu verstehen, daß er wohl wüßte, welcher Abstammung die Frau Feldmarschalleutnant wäre.

Am Abend sagte diese zu ihrem Mann: »Dieser Huber scheint mit ein recht sympathischer Mann!« Seine Exzellenz nickte bloß, und Herr Blechinger, als er am nächsten Tage wiederkam, wurde nicht mehr vorgelassen. Mira, die in derlei Fällen das Stubenmädchen mimte, bedeutete ihm, seine Offerte schriftlich einzubringen.

Tags darauf kam Herr Franz Xaver Huber wieder und bot für die gesamte Einrichtung 7000 Kronen, was ungefähr 2000 Franken entsprach. Man schraubte ihn auf 8000 Kronen hinauf und nahm eine Angabe. Von diesem Augenblick angefangen aber bekam man den sympathischen Herrn Huber durch fünf Monate nicht mehr zu sehen. Weder übernahm er die Möbel, noch rückte er mit dem Geld heraus.

Hingegen kam wenige Tage nach Abschluß des Geschäftes mit Herrn Huber ein Brief von Siegfried Blechinger, der 10 000 Kronen bot oder 4000 Schweizer Franken, nach Wahl. »Ich hab' etwas Valuten«, fügte der bescheidene Herr Blechinger hinzu, die Verführung dieses Wortes kennend, »und bin bereit, die Ware promptest zu übernehmen und sofort auszubezahlen.«

Nun wollte man Herrn Huber die Angabe zurückgeben, der aber durch seinen Anwalt die Annahme verweigern ließ. Gleichzeitig machte dieser darauf aufmerksam, daß die Möbel des Herrn Feldmarschallleutnants von Stunde an und bis zu ihrer endgültigen Übernahme ein ihm anvertrautes Gut darstellten. Die Worte »anvertrautes Gut« waren drohend unterstrichen.

Im Herbst, nachdem der Lagerzins die Hälfte der Angabe verschlungen hatte, kam Herr Huber wieder, der die längste Zeit bei seinem Bruder auf dem Lande geweilt hatte. Diesmal aber sagte der rauhe Mann nicht mehr »Küss' die Hand« zum Feldmarschalleutnant, sondern nur noch »Habe die Ehre« und zahlte mit betonter Unlust die restlichen 7500 Kronen aus.

Sie entsprachen, nach dem Tageskurs berechnet, ungefähr 1500 Schweizer Franken, also annähernd dem dritten Teil des Betrages, den Herr Blechinger im Frühjahr geboten hatte.

 

Am Tage nach dem Besuche seines Jugendfreundes rief Weidenau bei der Baronin Lodersdorf an, wie er auch sonst alle zwei bis drei Tage zu tun pflegte. Doch verband er diesmal mit dem Anruf eine besondere, ihm selbst nicht ganz klar bewußte Absicht.

Er begann wie immer mit der Erkundigung nach ihrem Befinden: »Wie geht's Ihnen, gnädigste Freundin?« fragte er. – »Exzellent!« erwiderte die Baronin nach der Mode des Tages. Aber Weidenau ließ sich diese Versicherung nicht genügen, er wollte mehr wissen: Wie die Bridgepartie bei Exzellenz Hittmaneck ausgefallen wäre, warum man am Sonntag die Baronin nicht in der Zwölfuhrmesse in der Stefanskirche gesehen hätte; ob sie Kohlen habe und nicht vielleicht Zucker brauche. Aber die Baronin, die die ersten beiden Fragen unbeantwortet ließ, hatte alles und brauchte nichts.

Eine kleine Stille trat ein, dann sagte Weidenau: »Gestern nachmittag war der Doktor Höfer bei mir«, und er lauschte gespannt auf den Ton ihrer Stimme. Weidenau hielt sehr viel auf Stimmen, nicht nur Baßstimmen; die Worte verrieten nichts, die Stimme alles.

Aber Tinett Lodersdorf erwiderte mit ihrer gewöhnlichen Kopfstimme in ihrer lustigen Art:

»Ah! Der öffentliche Ankläger!«

Weidenau fand diese Anspielung auf die frühere staatsanwaltliche Tätigkeit und den Charakter seines Freundes sehr glücklich und stellte, die Neigung seiner Freundin zu derartigen witzigen Kennzeichnungen kennend, mit Befriedigung fest: »Also hat er auch schon seinen Spitznamen, der gute Höfer! Der öffentliche Ankläger – gar nicht übel. – Ich möcht' nur wissen, was für einen Spitznamen ich hab'?«

»Da müssen Sie halt wieder einmal zum Tee zu mir kommen. Vielleicht sag' ich's Ihnen!« antwortete sie anzüglich, und Weidenau hörte deutlich aus dem Telefon heraus, daß sie diese Worte lächelnd sprach obwohl er sich auf keine Weise erklären konnte, warum.

Er hakte aber, teehungrig wie er war, jedenfalls gleich ein und erwiderte die halbe Einladung durch die rückhaltlose Erklärung seiner Bereitwilligkeit: »Wenn ich darf, Baronin Tinett –«

Wieder entstand eine kleine Stille, dann sagte die Baronin: »Diese Woche wird's nicht mehr gehen. Aber nächste Woche geb ich ein Bridge. Ich verständige Sie rechtzeitig. Addio!«

Der Baron Weidenau hielt noch eine ganze Weile das Hörrohr in der Hand, der kurzen Unterredung nachdenkend: Warum hatte sie ihn statt zum Tee nur zum Bridge geladen? Und warum hatte sie mit keiner Silbe erwähnt, daß Höfer heute nachmittag zu ihr kam? Es wäre doch so natürlich gewesen, unter alten Freunden …

Besonders diese Unterlassung machte ihm längere Zeit zu schaffen, und es dauerte eine geraume Weile, ehe er die Kurbel seines altmodischen Telefons in Bewegung setzte, diesmal, um seine Bank anzurufen und sich nach dem Stand seiner Papiere zu erkundigen, der leider auch allerhand zu wünschen übrigließ.

Am selben Nachmittag ging Doktor Höfer, den Brief seines Lemberger Kollegen in der inneren Brusttasche, gemessenen Schrittes durch den Arenbergpark zur Baronin Lodersdorf.

Der Frühling stand schon vor der Türe, und in dem verlassenen Garten saßen bereits einzelne Liebespaare auf den Bänken. Die Luft war milde, obwohl noch ohne jenen die Brust weitenden Zusatz gärender Keimkraft, das Buschwerk grünlich überschimmert. In den hundertjährigen, noch kahlen Bäumen lärmten aufgeregt die Spatzen.

Höfer schaute, einen Augenblick lang stehenbleibend, zu dem grauverschleierten, nur im Westen sanft geröteten Himmel empor. Dann zog er die Uhr und beschleunigte seinen Schritt.

Bei der Baronin, die ihn ein wenig warten ließ, stellte er vor allem mit Genugtuung fest, daß der Wachsstock in der Ecke neben dem Klavier seit seinem letzten Besuch – vor ungefähr einer Woche kaum abgenommen hatte. Entweder Tinett Lodersdorf empfing sehr wenige Besuche, sagte sich der ehemalige Untersuchungsrichter, oder – er wagte es kaum zu vermuten – sie zündete den Wachsstock nicht für jeden an.

Befriedigt ließ er den Blick weiterwandern, die Wand entlang, bis zu einem lebensgroßen Bildnis der Baronin, das über dem zierlichen Sofa hing. Ein sogenanntes Kniestück, stellte es sie, ballmäßig gekleidet, in tänzerischer Haltung dar, zwischen zwei Garben roter Rosen wie zwischen den Huldigungen zweier Verehrer wählend. Oder hatte sie bereits gewählt und behielt nur ihr Geheimnis für sich? Während er das Bild nachdenklich anschaute, trat das Urbild ein, streckte ihm die Hand entgegen und lud ihn, den Tisch biegsam umgehend, mit einer artigen Gebärde zum Sitzen ein. »Erzählen Sie mir von sich! Was treiben Sie, wie leben Sie, haben Sie schon etwas gefunden?« Und ihm wurde warm ums Herz.

Bereitwillig gab er Auskunft. Gefunden hatte er noch nichts, aber Aussicht, bei den Veranlagungskommissionen der neuen Vermögensteuer wenigstens vorübergehend Beschäftigung zu erhalten; auch arbeitete er an der Motivierung der im Nationalrat einzubringenden Gesetzesvorlagen mit. Schließlich stand ihm ja auch der Rückweg nach Czernowitz offen, unter der Voraussetzung allerdings, daß er bereit wäre, rumänischer Staatsbürger zu werden.

»Das dürfen Sie nicht!« sagte die Baronin so lebhaft, daß er sich nicht enthalten konnte, verwundert aufzublicken: »Sie müssen in Wien bleiben!« Und nach einer Pause erkundigte sie sich, nach einer auf dem Tisch vor ihr stehenden Handarbeit greifend:

»Warum sind Sie eigentlich nach Czernowitz gegangen?«

»Es hängt mit meiner Ehe zusammen«, sagte Doktor Höfer, sich verschließend.

Aber die Baronin schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, ihn aufzuschließen.

»Wie lange waren Sie verheiratet?« fragte sie, und als er ausweichend: »Sieben Jahre!« geantwortet hatte: »Wie haben Sie Ihre Frau kennengelernt?«

»Auf eine ziemlich kuriose Weise«, erwiderte der Gefragte und erzählte, nicht zum ersten Male, aber seit langem wieder zum ersten Male, die Geschichte seiner Ehe, die nicht alltäglich war.

Höfer hatte als junger Gerichtsadjunkt eine Urlaubsreise zur See unternommen, die er, dank einer geringfügigen Erbschaft, etwas weiter ausdehnen konnte. Er kam bis ins Ägäische Meer, wo ihn, auf einer kleinen Insel an der jonischen Küste, sein Schicksal ereilte. Diese Insel war von Rhodos aus mit dem Dampfschiff zu erreichen, das aber nur einmal im Monat verkehrte. Außerdem konnte man auch mit Segelschiffen hin- und zurückgelangen, doch nur bei günstiger Witterung. Doktor Höfer verließ sich auf das Wetter und kam bei hellstem Sonnenschein und strahlender Meerbläue auf Castelrosso an. Gleichzeitig mit ihm entstieg einem aus entgegengesetzter Richtung anlangenden Kanonenboot ein Hamburger Kaufmann mit Frau und Tochter. Ihre Bekanntschaft zu machen war, da es nur ein einziges Hotel auf dem Inselchen gab, unvermeidlich; übrigens war die Tochter bildhübsch. Bereits am zweiten Tag machte man zusammen einen Ausflug, am dritten hätte man die Rückreise antreten sollen. Da schlug das Wetter um, aus den drei Tagen wurden zwölf. Als man schließlich zu viert in Rhodos wieder ausstieg, war Doktor Höfer mit Alix so hieß die schöne Tochter des Hamburger Kaufherrn – verlobt.

»Sie war das einzige junge Mädchen, ich der einzige junge Mann auf der Insel«, schloß er galgenhumoristisch seinen Bericht.

»Und dann?« fragte die Baronin, indem sie, über ihr Körbchen gebeugt, aus einem dicken Zopf bunter Fäden mit sicherem Blick und ruhiger Hand den richtigen Faden wählte.

Doktor Höfer deutete mit ein paar Worten das Unglück seiner Ehe an. Alix war eine Kaufmannstochter und keine Frau für einen Richter. Sie war schön und begehrenswert, sie wollte leben und genießen – besser leben und mehr genießen, als ihr zukam. Sie nahm Einladungen und Geschenke an, ohne zu bedenken, daß sie durch ihre Annahme sich von den herrschenden Klassen abhängig machte, denen gegenüber ihr Mann unabhängig bleiben mußte. So ergaben sich die ersten Unstimmigkeiten, die eine ernstere Form annahmen, als Frau Alix sich mit dem Grafen Trau einließ. Doktor Höfer stellte ihr frei, den Grafen zu heiraten; doch schien dies keineswegs seine Absicht, noch die ihrige, wie sich herausstellte. Sie kam weiter mit Trau zusammen, und um ein Ende zu machen, ließ sich Höfer in den entferntesten Winkel der Monarchie, nach Czernowitz, versetzen. Er sagte es seiner Frau, die es ihrem Freund vertraute, der frivol genug war, diese Versetzung noch zu protegieren und durch seinen hoch hinaufreichenden Einfluß zu ermöglichen. Ein halbes Jahr später, wenige Monate vor Kriegsausbruch, kam Alix ihrem Manne nach. Aber schon war es zu spät. Die Ehe, unheilbar verletzt, brach, wie ein angeschossenes Wild, auf der Flucht vor der Vernichtung zusammen.

Alles das ließ die lustige Baronin mit einem ernsten Gesicht sich von ihrem Gast erzählen, soweit es sich erzählen ließ. Den Rest, daß er Alix trotz alledem geliebt hatte, zu erraten, war sie Frau genug; und übrigens hatte ihr auch Weidenau einiges zu verstehen gegeben, den, wie in allen Fällen, weniger die Tatsachen als ihr psychoanalytischer Zusammenhang interessierte! Er erklärte sich aus Höfers Eheerlebnissen, zum Teile wenigstens, seine Abneigung gegen die vormals herrschende Klasse. Und auch die Baronin deutete auf diese Rückwirkung, indem sie, wieder in ihre lustige Tonart zurückgleitend, die Mitteilungen ihres Gastes mit den Worten zusammenfaßte:

»Und auf diese Weise sind Sie der öffentliche Ankläger geworden!«

Doktor Höfer stutzte:

»Der öffentliche Ankläger?«

»So nennt man doch den Staatsanwalt, oder nicht?« scherzte die Baronin.

Er begriff und sagte lächelnd:

»Ach so, mein Spitzname! Übrigens habe ich Ihnen im Geist auch einen Spitznamen verliehen.«

»Im Geist? Lassen Sie hören!«

»Die Diana vom Rathauspark!« bekannte er, unwillkürlich errötend. Und er begründete, da sie erstaunt und belustigt aufblickte, die Bezeichnung damit, daß sie in seinen Augen etwas von einer Jägerin habe.

»Hat man mir schon gesagt!« nickte sie lebhaft.

»Von einer schönen Jägerin!« setzte er, sein Konzept berichtigend, halblaut hinzu.

Nun war es an ihr, rot zu werden, so rot, daß Doktor Höfer einen Augenblick an den Frühlingshimmel über den Bäumen des Arenbergparks denken mußte.

Aber schon hatte sie sich wieder in der Gewalt, stand auf und rief das siebenjährige Söhnchen herein, das, hinter der Türe wartend, lustig wie ein Kartenbub in seinem Pyjama gesprungen kam, um sich, wie immer, wenn Mama Teebesuch bekam etwas von den übriggebliebenen Leckerbissen anzueignen.

Doktor Höfer sah ihr zu, wie sie den Kleinen fütterte und ihm dann den Mund abwischte, um einen Kuß darauf zu drücken. Die hübsche Gruppe war von dem Licht der Wachskerze aufs lieblichste bestrahlt.

»Woran denken Sie?« fragte Tinett, seinem nachdenklich verweilenden Blick begegnend.

Höfers Augen glitten an ihrem Lächeln vorbei zu dem Wachsstock hinüber:

»Ich denke«, sagte er zögernd, »daß die Kerze noch immer dieselbe ist, wie bei meinem ersten Besuch. Sie ist kaum merkbar kürzer geworden.«

»Ja, das kommt davon«, scherzte die Baronin, »weil ich sehr damit spar'.«

Und lustig setzte sie fort:

»Und weil Sie auch nie sehr lang bleiben.«

Trotzdem war es sieben, als er sie verließ, um, zu Hause angelangt, plötzlich zu bemerken, daß er ihr ja gar nicht von dem eigentlichen Zweck seines Besuches, der aus Lemberg erhaltenen Auskunft, gesprochen hatte.

Am nächsten Vormittag rief er an, um ihr das zu sagen.

Sie sagte, hörbar vergnügt:

»Oh, das macht nichts. Sie bringen mir den Brief demnächst.«

»Bitte, Baronin, wann immer Sie gestatten«, versetzte der öffentliche Ankläger.

»Oder aber –« sie zögerte einen Augenblick –, »das mit der Diana vom Rathauspark ist mir noch im Kopf herumgegangen. Eigentlich müßten wir doch das Schlachtfeld miteinander besichtigen.«

»Wie meinen Sie: Das Schlachtfeld?«

»Na ja – den Rathauspark. Das Wetter ist doch ganz schön.«

»Wunderschön!« beeilte sich Höfer zu versichern.

»Also könnten Sie mich eigentlich einmal am Nachmittag zu einem kleinen Spaziergang abholen.«

»Vielleicht morgen«, schlug er sogleich vor.

»Nein«, kam es zurück, »morgen fahr ich zu meinen Buben nach Kalksburg. Übermorgen um vier, wenn's Ihnen paßt.«

Zwei Tage später standen sie gegen einhalb fünf Uhr nachmittags vor einem der schönen Tulpenbeete im Rathauspark, das, bunt wie ein spanischer Schal, mitten in der aschgrauen, verwahrlosten und entwürdigten Stadt den neuen Frühling verhieß. Es befand sich unweit der Stelle, wo Tinett Lodersdorf damals, im Herbst, Deckung suchend gekniet hatte.

Sie sahen die schönen Blumen lange an und dann, aufblickend, einander in die Augen.

»Gehen wir weiter!« sagte die Baronin und schlug die Richtung gegen die Stadiongasse ein, wo sie, wie damals, zum Bridge erwartet wurde.

An der Biegung des Parkweges blieb sie flüchtig stehen und schaute noch einmal dankbar lächelnd zu den Blumen zurück.

Es waren noch keine Rosen, aber es waren Tulpen.


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