Berthold Auerbach
Spinoza
Berthold Auerbach

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23. Missionäre

Die heilige jüdische Kirche durfte es nicht gleichgültigen Auges mit ansehen, daß einer, der durch Geburt und Zeremonie ihr angehörte, sich willkürlich lostrennte; sie erkannte wohl, daß wenn es dem einzelnen gestattet würde, sich abzusondern und nach dem Verlangen seines Herzens zu leben, das uralte Heiligtum der jüdischen Stiftshütte in kommenden Zeiten verlassen dastehen könnte, und sich niemand finden werde, der sie auf seine Schultern nehme, sie von Land zu trage und ihre Pfosten in alle Erdreiche einramme. Wo es dem Menschen gestattet ist, bloß Mensch zu sein, stürzt der Riesenbau der Kirche in Trümmer. Das erkannten die Herren des christlichen wie des jüdischen Glaubensbekenntnisses, die sich seine Diener nennen, in gleicher Einsicht. Die Juden hatten keinen Staat, was blieb ihnen noch, wenn sie keine Kirche, keine Synagoge hatten?

Schon dreimal war der Synagogendiener Elasar Merimon, den wir noch vom Kabbalisten her kennen, bei Spinoza gewesen und hatte ihn im Namen des Beth-Din aufgefordert, zurückzukehren in die Gemeinde und in Speise und Trank wie im Besuche der Synagoge der Vorschriften der jüdischen Religion nachzuleben; er hatte solchem Ansinnen zu gehorchen verweigert, und der kleine Bann war über ihn verhängt worden, der ihn drei Monate von der jüdischen Kirche ausschloß. Obgleich er sich hiezu schon von selbst verdammt hatte, so legte er doch Einsprache gegen dieses Verfahren ein, weil seine Lebensweise den Grundlagen des Judentums nicht widersprach, und er die Ungültigkeit der Zeremonie dartun zu können sich anheischig machte. Seine Einsprache blieb indes fruchtlos, und er dachte gar nicht mehr daran, denn er wußte nur von dem einen Banne, der ihn in der Nähe Olympias festhielt. Jetzt kamen aber seine beiden Schwäger und erinnerten ihn, daß er in den Schoß der Kirche zurückkehren müsse. Er wies sie mit lächelnder Ruhe zurück; sie aber wurden immer heftiger, schimpften und verfluchten ihn und drohten, ihn in Stücke zu zerreißen, wenn er die Schande seiner Lebensweise nicht von ihrer Verwandtschaft abwälze.

Das spanische Blut kochte in Spinoza, aber er bewältigte auch jetzt jede Überwallung. Die Drohenden und Polternden erschienen ihm nur wie körperlose gegnerische Einreden, die er sich selber in Gedanken vorstellen konnte. Mit gemessener Rede das Recht verwandtschaftlicher Beziehung wie das der Selbständigkeit abgrenzend, zog er die Schranken; er lehrte die Heftigen, daß äußere Beziehungen nicht binden und äußere Gewalt nicht überzeuge. Es mußte eine siegende Kraft seinen Worten innewohnen, denn die beiden sahen einander stumm an und verließen ihn. Aber wenige Tage darauf, es war am Sabbat, wurde Spinoza abermals von einem Besuche überrascht: eine Frau, die einen kaum einjährigen Knaben auf dem Arm trug, und ein kleines Mädchen an der andern Hand führte, trat ein. Spinoza ging ihr freundlich entgegen: »Das freut mich, liebe Miriam,« sagte er, »daß du zu mir kommst. Aber wie hast du gealtert! Bist du krank oder geht dir's schlimm?«

»Ich bin gottlob gesund,« antwortete Miriam seufzend, »und könnte auch sonst nicht klagen. Ja, lieber Bruder, der Ehestand ist ein Wehestand, zwei schwere Geburten, daß man dreizehn Wochen nicht aus dem Bette kann und das ganze Hauswesen dabei zu Grunde geht; bei den Kindern nicht einmal die Nachtruhe, und sonst das ganze Jahr Kummer und Sorgen – du würdest jetzt nicht mehr über mich spotten, daß ich zu viel in den Spiegel sehe, ich komme oft von einem Sabbat bis zum andern nicht dazu.«

»Es schmerzt mich tief, daß ich so wenig nach dir umschauen und dir beistehen konnte, aber laß jetzt die Sorgen,« sagte Spinoza, »es wird schon besser kommen. Du glaubst es kaum, wie unendlich wohltuend es für mich ist, dich wieder einmal so bei mir zu haben; Blutsverwandte sind von Natur die besten Freunde. Weißt du das Sprichwort der alten Chaje? Bind' mir Hände und Füße und wirf mich unter die Meinigen – das bleibt ewig wahr.«

»Ja, du willst schön unter die Deinigen geworfen werden. Ach lieber Gott, du machst ja, daß man sich nicht mehr sehen lassen kann, ohne rot zu werden. Weißt du was heute geschieht? Heut wirst du zum zweiten Male in der Synagoge ausgerufen, vielleicht gerade in dem Augenblick, wo wir da miteinander sprechen. Heut vor acht Tagen bin ich in der Synagoge, ich weiß nicht, es ist mir so schwer auf dem Herzen, als ob ein Zentnerstein darauf läge. Nachdem man eingehoben hat, steigt Rabbi Isaak Aboab (der, seitdem er aus Brasilien zurückgekehrt ist, sich gar ein großes Ansehen gibt) vor den Altar; alles ist still und lauscht auf das, was geschehen soll, da ruft er deinen Namen aus, und befiehlt dir zurückzukehren, wenn nicht des Himmels Blitz dich zerschmettern und die Erde dich verschlingen soll. Lieber Bruder! ich habe gerade geglaubt, man reißt mir das Herz aus dem Leibe heraus: bald war mir's eiskalt, und dann sind mir wieder die Flammen aus dem Gesicht geschlagen, ich habe gemeint, ich müßt' in den Boden versinken, ich mußte mich am Gitter anhalten, es ist mir einmal über das andere eine Ohnmacht gekommen. Ich weiß noch nicht, woher ich die Kraft genommen habe, heim zu gehen; die Esther di Leon, die neben mir steht, hat mich heimbegleitet. Du weißt, sie ist ein schadenfrohes, spöttisches Ding, und die dürfte doch still sein, sie war ja früher die Braut von dem Akosta, und so weit ist es doch, gottlob! mit dir noch nicht.«

»Nein, und wird auch nie so weit kommen.«

»Aber es ist schon weit genug,« begann Miriam wieder, »heut wirst du zum zweiten, und über acht Tage zum dritten Male ausgerufen, und dann – ich überlebte die Schande nicht. Mein Mann will, ich soll vergessen, daß du mein Bruder gewesen bist; wie kann ich aber das? Es scheint, du kannst es; wer seine Religion vergißt, warum soll der seine Schwester nicht vergessen können?«

Miriam sah nach diesen Worten in das schmerzvoll bewegte Antlitz des Bruders, ein Mitleid schien sich in ihr zu regen, daß sie ihm so wehe getan, und weinend fuhr sie fort: »Tag und Nacht gehst du mir nicht aus dem Sinn, ich vergesse meine Pflicht als Mutter und als Gattin, du bist daran schuld, der Gedanke an deine Pflichtvergessenheit reißt auch mich zu einer solchen hin. Ich kann nicht fassen, was dich so verstockt macht, so viel aber weiß ich: wenn mein Sohn einst seinen Geschwistern solchen Kummer machen sollte, wünschte ich lieber, daß er stirbt, eh' er sprechen lernt.«

»Du mußt nicht so reden, liebe Schwester, ich hoffe, daß noch alles gut geht. Weiß dein Mann denn auch nicht, daß du bei mir bist?«

»Der dürfte kein Wort davon wissen. Denk nur, heute morgen will er, ich soll in die Synagoge gehen; eh' wäre ich aber, Gott verzeih mir's, unter den Galgen gegangen als dahin, die Weiber hätten mich angesehen und zusammen gezischelt und gepispert. Ich habe gesagt, ich müßte bei meinem Kind bleiben, und bin zu dir hergegangen: die Rebekka ist auch zu Haus geblieben, sie hat's aber nicht gewagt, mitzugehen, ihr Mann ist gar streng. Ich seh' aber gar nicht ein, warum du nicht zurückkehren willst. Du weißt, ich bin selber nicht so auf die Kleinigkeiten erpicht, und verdamme dich nicht wie die anderen; aber dasselbe Leben, das du jetzt hast, kannst du auch haben, wenn du lebst wie alle anderen Juden. Willst du nicht täglich dreimal in die Synagoge gehen, so gehst du nur einmal, das kann doch nicht so beschwerlich sein; siehst du, du hast ja ein Leben, wenn du, Gott bewahre, im Raspelhaus eingesperrt wärest, hättest du es nicht ärger. Keinen Sabbat, keinen Feiertag, für was lebst du denn? Ich bitt' dich, kehr um, laß du andere dafür sorgen, welche Dinge sie für Religion halten wollen. Ich glaub' dir, daß du in vielem recht hast, ich will dir's im stillen abnehmen, wenn du es jemand mitteilen mußt; aber wozu braucht es die ganze Welt zu wissen? Ich weiß wohl, ihr Männer wollt euch nicht fügen, wir Frauen müssen dulden und ertragen, aber du, du bist anders, von Kindheit auf hast du immer willig nachgegeben. Sei wieder, was du gewesen bist, glaub mir, du kannst nichts anderes sein, es bricht dir das Herz, wenn du dich zu anderem zwingst. Zwing dich lieber jetzt und kehr um. Gott! wenn du wieder bei uns wärest, wir stünden wieder da in Glanz und Ruhm, wie irgend je; ich will dir tun, was ich dir nur an den Augen absehen kann, ich will dir die Hände unter die Füße legen, ich bitt' dich mit aufgehobenen Händen, komm zu uns.«

Spinoza hatte Mühe, seiner innern Bewegung Herr zu werden, er erklärte seiner Schwester: daß er nun fest entschlossen sei, sich gegen die Rabbinen zu verteidigen, damit es ihnen nicht gelingen solle, weder ihn noch seine Familie zu beschimpfen: er wolle nicht für sich allein, sondern auch für andere die Macht brechen, die es wage, das Denken in Bann zu tun.

»Ich glaube dir, ich glaube dir,« rief Miriam in begeistertem Tone, »daß du gewiß nur das Rechtschaffene willst, du bist besser als die ganze Welt; aber glaube du mir auch, ich habe die Menschen kennen gelernt, seitdem das Unglück durch dich über uns gekommen. Du willst dich für andere opfern? Du bist zu gut, du bist die Krone von allen Menschen, die anderen sind es nicht wert, daß um ihretwillen ein Haar auf deinem Haupt gekrümmt wird.«

Spinoza sah tief ergriffen auf seine Schwester, die ihn so sehr liebte und um dieser Liebe willen alles von sich stieß. Miriam mochte die Bewegung seines Herzens ahnen, denn mit lautem Jammerschrei warf sie sich an seinen Hals und rief: »Du kannst nicht, du darfst nicht um der Welt willen dich opfern und uns dazu. Oder ist es wahr, daß du eine Christin heiraten willst?«

Spinoza war in peinlichster Verlegenheit, Lüge war ihm so fremd wie die Nacht dem Tage, und doch verzweifelte er, der Schwester erklären zu können, wie sein Denken ihn über die Grenzen der Kirchensatzung hinausgeführt und die Liebe nur sein Geleite war.

Ein unerwartetes Ereignis befreite ihn von jeder weiteren Darlegung. Die beiden Kinder, die ihre Mutter weinend am Halse des Oheims sahen, fingen nun ebenfalls an zu weinen und zu schreien, so daß Miriam über der Beruhigung ihrer Kinder die Frage ganz vergaß.

»Benjamin,« sagte sie zu dem zuerst beruhigten Knaben, »Benjamin, bitte den Oheim, daß er nicht von uns gehe. Ach! das Kind hat den Namen unseres seligen Vaters, der würde auch schreien und weinen, wenn er dich sähe; er kann im Grabe seine Ruhe nicht finden, wenn er hört, was aus dir geworden ist.« Spinoza nahm den Knaben auf seinen Arm und herzte und küßte ihn.

»So wenig mich dieses Kind verdammt, so wenig verdammt mich unser Vater in der Ewigkeit,« sagte er. Auch die kleine Sara spielte mit der Hand ihres Oheims und bat ihn, auf Geheiß ihrer Mutter, mit ihnen zu gehen. Spinoza wiederholte die Versicherung, daß er sich verteidigen könne, und Miriam nahm ihre Kinder und entfernte sich mit schwerem Herzen.

Noch einmal mußte er heute einen Kampf wegen seines Entschlusses bestehen. Rodrigo Casseres kam gegen Abend zu ihm. »Du hast keinen Vater mehr,« sagte er, »ich darf seine Stelle vertreten. Denkst du noch der Stunde, wo ich dich zum ersten Male sah? So wirst du eingescharrt werden, wie ein räudiger Hund, gleich jenem Abtrünnigen. Denkst du noch jenes Abends, als ich dir den grauenvollen Tod deines Oheims Geronimo erzählte? So wirst du sterben, nur noch gottverlassener und von Teufeln zerrissen; denn du hast mutwillig den Glauben deiner Väter mit Füßen getreten. Dein Vater, ich und wir alle, wozu haben wir Tag für Tag das Leben eingesetzt? Bloß um des heiligen Glaubens unserer Väter willen. Warum haben mir unser schönes Vaterland verlassen, und sind in entlegene Länder gewandert? Bloß um offen unserem Glauben dienen zu können, und du stoßest ihn freiwillig von dir! Ich warne dich, da es noch Zeit ist, du bist noch jung, aber einst, wenn du dem Tode entgegengehst, wird der Verrat dich verfolgen, wenn du wachst, und deinen Schlaf morden.«

Spinoza berücksichtigte das Alter des Mannes, und setzte ihm mit Ruhe seinen festen Entschluß und seine Unschuld auseinander.

Acht Tage lang blieb er von da an verschont von Bekehrungsversuchen, er hatte in dieser Zeit sich einen festen Plan zur Verteidigung ausgearbeitet und indem er jetzt zu dieser die Autoritäten der heiligen Schriften nochmals zu Rate zog, entschlossen sich ihm neue Ergebnisse und die längst erkannten wurden noch fester und schärfer. Was sich der stillen Entfaltung des einsamen Denkens entzog, sei es durch eine doch noch inwohnende Scheu oder durch Verhüllung der gegebenen Tatsachen, das schoß jetzt im heißen Kampfe der Gegenwehr mit mächtiger Triebkraft auf. Spinoza fühlte doch auch jetzt jenen Schlachtenmut, jene zusammengedrängte Macht, die die gewohnte Kraft steigert und fast über sich hinaushebt.

Zu der ersten Anmahnung, die ihm jetzt wieder ward, bedurfte er indes dieser Kraft noch nicht.

Es war wieder am Sabbat, er saß bei Tische und genoß sein einfaches Mittagsmahl, als er jemand mühsam die Treppe heransteigen hörte, die Tür ging auf, und die alte Chaje trat ins Zimmer. Spinoza rückte ihr einen Stuhl an den Tisch und fragte: »Haben sie Euch auch ausgeschickt, um das verlorene Schaf zur Herde zurückzubringen?«

»Nein, so wahr als ich wünsche, daß mich Gott noch Freude an ihm soll erleben lassen, so gewiß ist es, daß ich von mir selber herkomme; ich hab' gemeint, meine alten Füße wollten mir brechen, ehe ich die Treppen heraufkomme. Ich hab's niemand geglaubt, ich muß mit meinen eigenen Ohren hören, ob es wahr ist, daß er unsere heilige Religion umstoßen will; er war doch sonst so ein braves, frommes Judenkind.«

Spinoza bemerkte hier im stillen den Einfluß, den das über ihn verbreitete Gerücht haben mußte, da die alte Chaje in ihrem Eifer fast seine Gegenwart vergaß und nur mit sich selbst von ihm zu reden schien.

»Wer weiß denn das?« fragte Spinoza.

»Wer's weiß? Ein schönes Geheimnis! Die Kinder auf der Straße erzählen sich's; ach lieber Herre Gott! wie oft hab' ich ihn auf meinen Armen getragen, wer hätt' es damals geglaubt, daß so einer aus ihm werden kann? Was wahr ist, ist wahr, die Schwester der schwarzen Gudul, die bei Rabbi Aboab gedient hat, hat's schon lang gesagt; der Baruch ist ein Duckmäuser, wo der Rabbiner wird, läßt sich die Gemeinde taufen. – Ich hab' mir immer gedacht, wenn ich über hundert Jahr' einst ein Aug' zutue, ich hab' – dem Stein sei's geklagt – kein Kind und kein Rind auf der Welt, ich hätt' ihm, meinem Baruch, mein bißchen Vermögen, das ich mir erspart habe, hinterlassen, und er hätt' ein Schiur für mich gelernt, daß ich auch einen silbernen Stuhl im Gan-Eden bekommen hätte. Ach! wie sind meine Hoffnungen zu Wasser geworden.«

Chaje weinte bitterlich, Spinoza suchte sie zu trösten.

»Er verleitet mich auch noch zu der Sünde, daß ich am Sabbat weine, ach! das ist ein Nagel zu meinem Sarg,« klagte sie. »Ich möcht' nur wissen, was ihm einfällt. So viel tausend Jahr' ist die jüdische Religion recht gewesen, jetzt auf einmal wirft man sie nur so weg, wie einen zerbrochenen Topf? Ich glaub' immer, es ist ein Sched in ihn gefahren, warum hätt' er sonst gegen die Juden und die jüdische Religion geschimpft? Schind't man sein' Nas' aus, schänd't man sein Angesicht, sagt das Sprichwort. Er tut's mir zulieb und wird wieder fromm und brav wie sonst, nicht wahr? Er wird mir's gewiß auf seinem Totenbett danken, wenn er mir folgt. Es war ein Jugendstreich, und den vergißt man bald; bis übers Jahr ist Gras darüber gewachsen, und dann kann er wählen unter den Töchtern der reichsten Männer in Amsterdam.«

Spinoza wird fast unwillig über die Reden der Chaje, denen er durch Erklärungen keinen Einhalt tun konnte, sie wollte nicht eher weggehen, bis er ihr versprochen habe, daß er wieder fromm und brav sein wolle; er mußte ihr endlich deutlich zu verstehen geben, daß sie sich nun entfernen müsse.

Olympia hatte recht prophezeit, daß man einst zu Spinoza wallfahrten werde; aber die Wallfahrt ging vorerst noch zu Malediktus. Am Tage darauf, nachdem Spinoza sich die Chaje vom Halse geschafft hatte, kam der Arzt Salomon de Silva zu ihm. Er machte zuerst einige ärztliche Einleitungen und bemerkte Spinoza, daß er durch seine jetzige Lebensweise seine Gesundheit untergrabe; dieser aber erwiderte, daß er zwei Ärzte zu Freunden habe, Diät beobachte und sich immer wohl befinde. Silva legte die Sonde tiefer ein.

»Ich gestehe,« sagte er, »das Judentum hat vielerlei Mißbräuche und abnorme Auswüchse, die hinweggeschafft werden müssen; als ich in deinen Jahren stand, war mir das auch sehr lästig. Die ungestüme Jugend möchte nur immer schnell zuschneiden, aber das geht nicht; man muß sich erst Vertrauen zu erwerben suchen und die Leute nicht vor den Kopf stoßen, dann darf man sich später auch etwas erlauben, und kann seine Plane so nach und nach durchführen.«

»Schon der Talmud lehrt,« entgegnete Spinoza, »du sollst kein falsches Maß in deinem Hause behalten. Gilt das nicht auch hier?«

»Allerdings,« bestätigte der Arzt, »nur sind Zeit und Verhältnisse zu berücksichtigen, diese alltäglichen Bedingungen haben mindestens ebensogut ihr natürliches Recht wie der abstrakte logische Gedanke. Die erste Regel ist: wer auf irgend eine Genossenschaft und ihre zeit- und vernunftgemäße Umbildung einwirken will, der darf sich nun und nimmer außerhalb derselben stellen. Darum rate ich dir, kehre zurück, bedenke: es gibt noch mehr Leute, denen das Licht der Vernunft aufgegangen ist, und die doch die alten Observanzen nicht auf einmal über den Haufen werfen; es ist in der letzten Zeit viel geschehen, wer das vor fünfzig Jahren gesagt hätte, wäre gesteinigt worden, und so wird es immer fortschreiten. Siehe, der ganze Boden unserer niederländischen Heimat ist wie ein Sinnbild unserer Religion: da sind Dämme gebaut, Kanäle geleitet, um die wilde Kraft des Elementes zu bannen und zu lenken, auf den Dämmen wächst wieder Leben, die Kanäle werden Verbindungsstraßen, welche die Menschen zusammenhalten. Die Kraft von Jahrhunderten liegt in diesen weisen Vorkehrungen. Von dem gemeinen Manne selbst wird der Boden heilig gehalten, weil er weiß, daß die Arbeit vergangener Geschlechter ihn dem Meere abgerungen. Wenn nun einer käme und Besseres fände, dürfte er die Dämme sogleich durchstechen, die Arbeit der Vorfahren zerstören und die fruchtbaren Felder und volkreichen Dörfer und Städte, die auf dem trockenen Boden angebaut sind, eine Zeitlang der Vernichtung aussetzen? – So auch geht's mit unserer Religion. Reiß die Dämme nicht ein. Tu's nicht. Wenn du zurückkehrst, kannst du mit den vielen hellen Köpfen, ja, vielleicht an ihrer Spitze das Judentum reformieren helfen.«

»Wer sagt Euch denn, daß ich das will? Vielleicht ist mir das Judentum wie das aus ihm hervorgegangene Christentum eine Entwicklungsstufe des Geistes, auf die eine andere folgt. Ich will vorerst nichts, als mir die Unabhängigkeit meines Lebens bewahren, und daran soll mich keine Macht der Rabbinen hindern.«

»Hast du denn vergessen,« fragte Silva, »was du zu mir sagtest, als dein seliger Vater und wir beide dieses Zimmer zum ersten Male besucht hatten? Es kann die Zeit wieder kommen, wo du deine Verlassenheit von allen fühlst, die durch die Bande der Religion und des Blutes dir angehören; dann wirst du deine Hand nach ihnen ausstrecken und nichts als leere Luft erfassen. Ich weiß zu gut, wie weit du voran bist im Denken, ich glaube nicht, daß du Christ werden willst. Traue meiner Erfahrung: stellst du dich auf den höchsten Standpunkt des freien Gedankens, hast du alle Vorurteile und religiösen Besonderheiten von dir abgelöst: immer bist und bleibst du ihnen der Jude, sie werden dich ewig als Fremden betrachten. Sie haben den Haß und die Geringschätzung gegen die Juden mit der Muttermilch eingesogen, du vergeudest deine Liebe an ihnen; was sie Gutes an dir entdecken, werden sie stets nur als eine Ausnahme gelten lassen; strebst du nach Geld und Ehre, werden sie sagen: das ist sein jüdischer Geld- und Ehrgeiz; schätzest du beide gering, so werden sie sagen: er hat doch etwas von der christlichen Bescheidenheit und Verachtung der irdischen Güter. Sie finden dich entzückend und unvergleichlich, wenn du der Juden Albernheiten verhöhnst. Willst du aber eines ihrer Vorurteile berühren, und hätten sie selber längst ihren Spott darüber ausgegossen, du darfst es nicht, und tust du es doch, so bist du ihnen der vorwitzige, zudringliche Jude. Es ist hier gerade so wie sonst im Leben: wir gestehen uns unsere Fehler und schelten uns oft darum; tut's aber ein anderer, sind wir ihm gram. Eher wird der Himmel die Erde küssen, Feuer und Wasser sich brüderlich vereinen, als daß ein Jude und ein Christ in wahrer, inniger, allvergessender Liebe und Eintracht sich umschlungen hielten. Ja, und nimmst du auch die Taufe: das erste Mißfällige, das sie an dir entdecken, ist der alte jüdische Adam in dir. Drum kehre zurück zu denen, die dich wahrhaft lieben, deren Nacken das gleiche Joch eingeprägt ist wie dir, sie werden dich brüderlich aufnehmen und deinen Fehltritt vergessen.«

»Nein,« sagte Spinoza, »es ist eine schwere Sünde, die Ihr gegen Gott und die heilige Natur des Menschen begangen habt mit Euren Worten; es wäre gräßlich, wenn sie Wahrheit enthielten, aber es ist nicht. Wohl ist es möglich, daß der Mensch dem Menschen angehöre, Liebe und Erkenntnis sind dauernder als Haß und Vorurteil; ist der menschliche Geist ursprünglich Jude oder Christ? Wohlan! ich möcht' es versuchen, ob Ihr Wahrheit geredet.«

»Tu es nicht, warum willst du zu Grunde gehen? Wer sich reinigen will, dem kommt man zu Hilfe, wer sich beschmutzen will, den laßt man gewähren, sagte der Talmud. Ich will dir einen Vorschlag zur Güte machen. Die Gemeinde läßt dir eine Stelle beim Beth-Din anbieten; du kannst dabei ungestört deinen Studien obliegen, da du nur wenig zu tun hast.«

»Ich werde nie ein Amt annehmen.«

»So will dir die Gemeinde einen Ruhegehalt von tausend Gulden zusichern, unter der Bedingung, daß du dich auf dein Ehrenwort verpflichtest, nie ein Wort gegen das Judentum zu schreiben.«

»Das Sprichwort sagt: will man das Volk zum Schweigen bringen, so muß man ihm das Maul mit Brei vollstopfen,« entgegnete Spinoza. »Es ist ein brauchbares politisches Mittel, aber bei mir nicht anwendbar. Lieber Herr Doktor, ich möchte nicht, daß Ihr Euch über mich erzürnt, aber was sollen mir solche Anträge?«

»Ich habe sie dir auch nur mitgeteilt, um mich meines Auftrages zu entledigen, ich persönlich kann anders mit dir reden. Die Jugend will nicht einsehen, daß es keine absolute Wahrheit in der Wirklichkeit gibt, daß solche in der Welt nicht bestehen könnte, weil sie tyrannisch, absolutistisch wäre. Wer die Schicksale der Menschen und ein eigenes, langes Leben erkannt hat, der weiß, daß die geschichtliche Wahrheit allein gilt. Du bist zu demütig und bescheiden, um ein Gottesleugner zu sein; du siehst, Gott selbst läßt die Mannigfaltigkeit der Wahrheit gewähren –«

»Und mein Denken in ihm zwingt mich, der Erkenntnis zu folgen.«

»Das halte fest und halte dich zugleich an die Bedingungen der Geschichte. Magst du zu meiner Überzeugung gelangen, daß keine Philosophie die Geheimnisse der Welt weiter erschließen kann als die Offenbarung im Judentum, oder magst du anderen Sinnes sein und die messianische Zeit als eine solche ansehen, in der deine Wahrheit des absoluten Denkens herrscht; sieh zurück: wäre es nichts als das Andenken an die zahllose Schar der für unseren Glauben Gemordeten, dieses allein müßte uns festhalten inmitten seines Heiligtumes. Eine Religion, welche die Freuden des Lebens verachten und den greuelvollsten Tod lieben lehrt um ihretwillen, muß sie nicht den höchsten Quell der Wahrheit in sich schließen? Wer wird ihn mit frecher Hand verstopfen wollen, weil er im Laufe der Zeit trübe fließt? Das Blut deiner in der Vergangenheit gemordeten Brüder und Schwestern schreit um Rache wider dich zum Himmel, denn du schändest ihre heiligen Gräber, da du auf ihren Leichenstein setzen willst: sie hätten sich nur dem Wahn und Irrtum geopfert.«

»Ich will das nicht, es ist Verleumdung, wenn man mir solches andichtet; groß und heilig sind mir die jüdischen Gesetze, in ihnen hat sich die Gottheit für die damalige Zeit am lautersten offenbart; selig sind, die sie erkennen und ihnen nachleben: aber hat die Gottheit seitdem aufgehört im Geiste der Menschen zu leben? Sind alle nachgeborenen Geschlechter dazu verdammt, da zu verharren, wo die früheren standen, und sich mit den alten Formen zu schleppen? Die Form verwest, der Geist bleibt ewig und verjüngt sich und wächst fort und fort.«

»In dir ist ein gewaltiger Geist,« begann de Silva nochmals sich zusammennehmend, »deine Gelassenheit ist mir Bürge, daß du ein großer Mann wirst. Weichliche Naturen werden heftig und jähzornig im Widerstreite, starke nie. Wirf nicht einen Stein in den Brunnen, aus dem du getrunken. Deinen freien Opfermut für die Wahrheit, den hast du aus dem Judentum geschöpft. Sei dankbar. Zeige deine Kraft in der Selbstbeherrschung, stehe fest in dir und zu den deinigen und laß dich nicht hinreißen zum Abfall.«

»Es gibt keinen Abfall als den von uns selbst.«

»Wir werden dich verehren und ich vor allen, wenn du dich bezwingst.«

»Und ich selber werde vor mir ehrlos sein.«

Überraschung und Unmut zeigte sich im Antlitze de Silvas; alles, selbst das aufrichtige Lobpreisen seiner Tugend blieb erfolglos bei Spinoza. Der Arzt stand auf und rief: »Wehe! du bist verloren. Ich kann nur zu Gott beten, daß er es Tag werden lasse in dir, damit das Irrlicht verschwinde, das dich in Sümpfe und Abgründe verlockt.« Tränen standen Silva im Auge, als er so sprach, sich abwendete und wegging. Spinoza war tief erschüttert von seinen Reden, es tat ihm in der Seele weh, dem alten ehrwürdigen Manne solchen Schmerz bereitet zu haben und ihm nicht folgen zu können! aber wie konnte, wie durfte er anders handeln? ...

Weit leichter ward es Spinoza, noch den letzten Versucher von sich abzuweisen, Nachmittags kam Chisdai, und sobald er zur Tür eingetreten war, warf er sich auf den Boden und setzte sich dort trauernd nieder.

»Was soll das?« fragte Spinoza.

»Wehe!« rief Chisdai, ohne sein Haupt zu erheben, dumpf in den Boden hineinmurmelnd, »hat der Geist der Unreinheit in dir dich schon alles vergessen machen? Kennst du die Geschichte von Rabbi Elieser ben Hyrkanos nicht mehr?«

»Jawohl, er hat seine Ansicht von dem erlaubten Gebrauche eines Backofens durch verübte Wunder beweisen wollen und wurde deshalb in den Bann getan: niemand wollte ihm das Urteil ankündigen, bis Rabbi Akiba es so tat wie du hier. Nicht wahr, ich bin noch ein guter Talmudist? Aber steh nur auf, ich kann weder dem Baume befehlen, daß er sich an einen anderen Platz stelle, noch dem Wasser, daß es rückwärts laufe, auch nicht der Wand, daß sie sich einbiege: sie gehorchen mir alle nicht.«

»So?« rief Chisdai aufspringend, indem er grimmig die Fäuste ballte, »so? du spottest auch noch über den Talmud? Sieh, ich bin friedlich hergekommen: ich wollte dich zur Gottesfurcht ermahnen und dir zeigen, daß ich nicht aus Eifersucht oder sonstiger niedriger Leidenschaft gegen dich auftrete; aber an dir ist jedes Wort verloren. So fahre denn hin! Die Raben am Bache werden dir die Augen aushacken und die jungen Adler sie fressen.«

»Du kannst die Bibelworte auf gut talmudisch verdrehen, die Schrift droht das nur solchen, die Vater und Mutter verspotten und verachten.«

»Das hast du siebenzigmal sieben getan, du Ruchloser! Aber deine Strafe wird nicht ausbleiben, noch im Tode wirst du gesteinigt werden, und man wird einen Steinhaufen auf dein Aas wälzen zum Schreckbilde für alle nachkommenden Geschlechter. Nimm dich in acht, krieg' ich dich unter meine Hände, solange du mit deinem Atem die Luft verpestest, ich zerreiße dich wie man einen Fisch zerreißt.«

»Wieder ein talmudischer Ausdruck,« erwiderte Spinoza lächelnd, »aber bedenke, daß der Talmud auch sagt: es ist gut, daß der Esel keine Hörner hat.«

Chisdai schäumte vor Wut, da er aber jemand die Treppe heraufkommen hörte, ging er fort.

»Was ist denn das für ein federloser Zweifüßler, der da von dir ging?« sagte Meyer eintretend, »der sieht ja aus wie die ausgebalgte Erbsünde.«

Spinoza mußte herzlich lachen über diese Bezeichnung. »Diesmal bist du auf deinem Steckenpferde am rechten Ziel angekommen,« sagte er, »aber diese Erbsünde wollte mich ins jüdische Paradies zurückführen.«

Meyer ermahnte ihn nun, mit der gewohnten Kraft und Sündhaftigkeit gegen die jüdischen Päpste aufzutreten, und als er sich bald darauf entfernte, machte sich auch Spinoza auf den Weg.

Jetzt zum ersten Male fühlte er sich unheimlich zwischen seinen einsamen vier Wanden; es war ihm nicht möglich, wie sonst seinen Geist in der Erforschung eines bestimmten Gedankens festzuhalten; er bedurfte einer befreundeten heitern Seele, an der er sich aufrichten und die Stürme des heutigen Tages vergessen konnte; wo sollte er solche anders suchen als bei Olympia? Er ging zu ihr und fand sie in traulichem Gespräche mit Kerkering. Er glaubte in beiden eine seltsame Überraschung zu bemerken, als er eintrat; er vermutete richtig, daß er Gegenstand ihrer Unterredung gewesen war. Olympia verstand es indes wie immer, schnell ihre Gemütsbewegungen zu bemeistern.

»Sie sind mir in der letzten Nacht im Traum erschienen, Herr von Spinoza,« sagte sie im Laufe des Gespräches. »Sie müssen raten unter welcher Gestalt.«

»Sie glauben weder an Teufel noch an Engel, haben Sie mich vielleicht als Klosterbruder gesehen?«

»Nein, weiter geraten.«

»Als Kaiser?«

»Nein.«

»Als Rabbi? Als Papst?«

»Nein, nun Sie erraten es nicht, wie ich merke. Als Masaniello sah ich Sie, mit dem Fischernetze auf dem Rücken, die rote gewirkte Mütze mit der langen Troddel kleidete gar schmuck zu dem pechschwarzen Haare, die Hemdärmel waren bis über die Ellbogen aufgestreift; so sah ich Sie von einer zahllosen Menge Juden durch die Straßen getragen, bis vor das neuerbaute Stadthaus, dort stiegen Sie hinauf bis zu dem vergoldeten Schiffe auf dem Turme und riefen: »Mitbürger, die ihr, wie Erasmus von Rotterdam sagt, gleich Krähen auf den Gipfeln der Bäume wohnt! Ich sehe eure gabelförmigen Schornsteine und eure vor und rückwärts geneigten Giebel: ich sehe die Kanäle und Dämme, die euer Land durchschneiden, und euer Leben fließt ebenso eingedämmt und ohne kecken Wellenschlag den geweisten Weg dahin. Ich sage euch, das wird anders werden. Ich streiche das ›du sollst‹ aus euren Lebensbüchern, und in meiner Lehre heißt es ›du mußt, denn du kannst‹. Ihr glaubt die Fische seien stumm? Es ist nicht wahr. Da hab' ich eine Legion vom Meeresgrund heraufgefangen, die reden alle gar weise Dinge.« Dann nahmen Sie Ihr Netz vom Rücken, es war leer, Sie kehrten es um, und eine unendliche Zahl von Fischen fiel heraus, sie glitzerten wunderlieblich im Sonnenschein, die Floßfedern wurden zu Flügeln und sie flatterten mit Geschrei davon. Sie aber blieben noch stehen und hielten eine Philippika gegen das Volksmärchen: daß an dem Tage, an welchem die Gesandten der sieben vereinigten Staaten durch die sieben Tore des vollendeten Stadthauses gehen würden, das Glück einer jeden Provinz hinter ihnen herausgehen und nimmer wiederkehren werde. Und nun erklärten Sie, wie Ihre Philosophie der Wasserbaukunst unseres Landes entspreche, wie man Sturm und Flut brechen und beherrschen könne; wie man vom Strome der Affekte übergossenes Land austrockne und fruchtbar mache, und alles ganz deutlich, ich habe es im Traume ganz hell und klar verstanden. – Jetzt bin ich leider wieder unphilosophisch wie das grauw – das Volk – das tobte und schrie: er ist ein Zauberer, er ist des Teufels Sohn! und riß das Stadthaus ein. Ich erwachte. – Wenn Sie nur auch etwas von der Kunst Daniels verstünden.«

Spinoza fragte, ob sie in den letzten Tagen Frau Gertrui nicht gesprochen habe; Olympia beteuerte, sie seit mehreren Wochen nicht gesehen zu haben. Es war in der Tat ein fast wunderbares Zusammentreffen, denn Spinoza hatte aus einer sonderbaren Laune seit zwei Tagen begonnen, sein eigenes Bildnis in der Tracht Masaniellos zu zeichnen. Er sagte indes Olympia nichts davon, weil er wußte, wie sie trotz ihrer Freigeisterei sich gern eine sonderbare Ahnungstheorie aufbaute. Es ward ihm heute wiederum nicht freudig zu Mute in ihrer Nähe; war die Anwesenheit Kerkerings daran schuld, oder war es, weil er mit übervollem Herzen hergekommen war und nun zu spät sah, daß er hier keinen Anklang finden konnte für seinen schmerzlichen Kampf? Eine düstere Ungewißheit und Zweifelsucht lagerte sich über sein Verhältnis zu Olympia; er sah, wie Kerkering mit immer zutulicherer Freundlichkeit sich Olympia näherte, und diese hielt ihn nicht mehr wie sonst mit leichtem Scherze fern, er glaubte sogar ein gewisses Einverständnis zwischen ihnen darin zu entdecken. Als er wegging, sagte ihm Olympia:

»Ihre Schwester Rebekka war heute bei mir, ich soll Sie bekehren, daß Sie sich den Rabbinen unterwerfen.«

Spinoza verneigte sich stumm. Wie war es möglich, daß sie dir ihren Traum erzählte und allerlei Scherz trieb, statt vor allem dieses Begegnis mitzuteilen? Mußte es nicht ihr Herz erfüllen, daß deine Schwester bittend bei ihr erschien? – Du kannst nicht verlangen, daß andere eine Regung anerkennen, die du selber in dir zerstörst....

Miriam, mit der er von Kindheit auf in geschwisterlicher Innigkeit gelebt, war zu ihm gekommen, sie hatte nur schüchtern nach der Geliebten gefragt, und Rebekka, die herrschsüchtige, die ihm allzeit fremd gewesen, drang zu Olympia. Wie muß sie dieser erschienen sein und sie hat vielleicht das Herz der Geliebten zweifelhaft gemacht und ihr einen abstoßenden Widerwillen gegen seine Familienbeziehungen eingeflößt.

Spinoza fühlte, wie seine Wangen brannten. Er war im Begriffe, die Familienbande und alle Fesseln der Gewohnheit zu lösen, nimmer aber konnte er's ertragen, daß diese geringschätzig angesehen würden.

Liebe und Wahrheit sollten ihm beistehen in dem Kampfe, der sich ihm eröffnete. Blieb ihm nur die Wahrheit allein?


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